Siebenundzwanzigstes Kapitel

[60] Jetzt habe ich nun darzulegen, wie man zu einem aufgestellten Satze am leichtesten die zugehörenden Schlüsse finden kann und auf welchem Wege man die höheren Vordersätze für jeden Schluss gewinnen kann. Denn man hat wohl nicht blos die Entstehung der Schlüsse in Betracht zu nehmen, sondern man muss auch im Stande sein, dergleichen aufzustellen.

Von allem Seienden ist nun Einiges so beschaffen, dass es von keinem anderen Gegenstande in Wahrheit ausgesagt werden kann; so kann dies z.B. mit dem Kleon und mit dem Kallias und mit dem einzelnen Wahrnehmbaren nicht geschehen; wohl aber kann von demselben Anderes ausgesagt werden; (denn so ist Kleon und Kallias jeder ein Mensch und ein Geschöpf); ein anderer Theil des Seienden kann wohl von Anderen ausgesagt werden, aber von ihm wird Anderes, Höheres nicht ausgesagt; ein dritter Theil kann sowohl von Anderem, wie Anderes von ihm ausgesagt werden; so z.B. Mensch von dem Kallias und Geschöpf von dem Menschen. Es ist nun klar, dass Einiges von dem Seienden seiner Natur nach von Keinem ausgesagt werden kann; denn wohl jedes der wahrnehmbaren Dinge ist der Art, dass es von Keinem ausgesagt werden kann, als höchstens zufälligerweise; denn man sagt manchmal, dass z.B. jenes Weisse Sokrates sei und jenes Herbeikommende Kallias. Dass man, wenn man von dem Einzelnen zu dem Allgemeinen aufsteigt, irgendwo stehen bleiben muss, werde ich noch besprechen; für jetzt mag es vorläufig gelten. Von diesen obersten Dingen kann ein von ihm Ausgesagtes nicht bewiesen werden, sondern man kann es nur auf die Meinung stützen, wohl aber können sie von Anderem ausgesagt werden. Eben so wenig kann man die einzelnen Dinge von Anderem aussagen, sondern nur Anderes von ihnen. Bei den in der Mitte stehenden Dingen ist offenbar beides statthaft; denn sie selbst werden von Anderem und Anderes wird von ihnen ausgesagt, und die Reden und Untersuchungen haben meist diese Art von Dingen zum Gegenstande.

Man hat nun die Vordersätze zu einem Beweissatze in folgender Weise aufzusuchen. Zunächst hat man den[61] Beweissatz selbst und die Definitionen und das Eigenthümliche des betreffenden Gegenstandes in Betracht zu nehmen; ferner das, was dem Gegenstande zukommt und umgekehrt dasjenige, welchem der Gegenstand zukommt und ferner das, was ihm nicht zukommen kann. Dagegen hat man die Dinge, denen er selbst nicht zukommt, nicht aufzusuchen, weil verneinende Sätze sich umkehren lassen. Ferner sind die dem Gegenstande zukommenden Bestimmungen in die zu sondern, welche in seinem Begriff enthalten sind, und in die, welche ihm eigenthümlich zukommen, und endlich in die, welche nur nebenbei von ihm ausgesagt werden in jeder dieser Klassen ist wieder das zu sondern, was nur nach der Meinung ihm zukommt, von dem, was ihm in Wahrheit zukommt. Jemehr man dergleichen Bestimmungen angeben kann, desto schneller wird man zum dem Schlusssatze gelangen, und jemehr diese Bestimmungen der Wahrheit entsprechen, desto stärker wird der Beweis werden.

Von den dem Gegenstande zukommenden Bestimmungen darf man aber nicht solche auswählen, welche blos einzelnen Exemplaren zukommen, sondern nur solche, welche dem ganzen Begriff des Gegenstandes zukommen; also z.B. nicht das, was nur einem einzelnen Menschen, sondern das, was allen Menschen zukommt; da der Schluss nur durch allgemeine Vordersätze zu Stande kommt. Bleibt dies unbestimmt, so weiss man nicht, ob der Vordersatz allgemein gelten soll, während dies bei bestimmten Aussprüchen klar ist. Aus diesem Grunde muss man auch nur solche Dinge aufsuchen, von deren ganzen Begriff die Bestimmung ausgesagt werden kann. Dagegen braucht die ausgesagte Bestimmung nicht in ihrem ganzen Umfange von dem Gegenstande zu gelten, etwan so, dass von dem Menschen alles, was ein Thier ist, und von der Musiklehre alles, was eine Wissenschaft ist, ausgesagt werden könnte, sondern es genügt, dass die Bestimmung überhaupt so, wie man zu sprechen pflegt, von dem Gegenstande ausgesagt werden kann. Das Weitere ist unnütz und unmöglich, z.B. dass alle Menschen alle Geschöpfe sind, oder dass die Gerechtigkeit alles Gute ist. Dagegen muss die Bestimmung dem ganzen Begriff des Gegenstandes, von welchem sie ausgesagt wird, zukommen.[62]

Wenn der Gegenstand, zu dem man die ihm zukommenden Bestimmungen aufsuchen soll, von einem Begriffe weiteren Umfanges befasst ist, so muss man die vermöge dieses weiteren Begriffs ihm zukommenden oder nicht zukommenden Bestimmungen nicht in jenen weiteren Begriffen aufsuchen (denn diese Bestimmungen sind schon in dem Gegenstande gesetzt, da alles, was dem Geschöpf zukommt, auch dem Menschen zukommt, und da, was jenem nicht zukommt, auch diesem nicht zukommt), sondern man muss die dem Gegenstande eigenthümlichen Bestimmungen aufsuchen, denn die Art hat ihr Eigenthümliches neben der Gattung, da jede ihrer verschiedenen Arten ihr Eigenthümliches haben muss.

Auch darf man nicht in dem weiteren Begriffe das aufsuchen, von welchem der engere Begriff ausgesagt werden kann, also z.B. in dem Geschöpfe nicht das, wovon der Mensch ausgesagt werden kann; denn wenn das Geschöpf von dem Menschen ausgesagt werden kann, so muss es auch von allem, unter diesem Stehenden ausgesagt werden können, vielmehr ist letzteres in dem Begriffe des Menschen aufzusuchen, da es diesem eigenthümlicher ist.

Ferner muss man die Bestimmungen aufsuchen, welche meistentheils dem Gegenstande zukommen und ebenso die Dinge, von denen der Gegenstand meistentheils ausgesagt werden kann. Denn wenn der zu beweisende Satz nur das meistentheils Geltende besagt, so kann der Schluss auf denselben auch aus Vordersätzen geschehen, welche entweder alle oder einzeln nur auf das meistentheils Geltende lauten, da der Schlusssatz überall den Vordersätzen entspricht.

Endlich darf man auch nicht solche Bestimmungen aufsuchen, die überhaupt allen Dingen zukommen, da man daraus keinen Schluss ableiten kann; der Grund davon wird sich aus dem später Folgenden ergeben.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 60-63.
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