Zweiunddreissigstes Kapitel

[74] Nunmehr möchte wohl anzugeben sein, wie man die Schlüsse auf die angegebenen Figuren zurückführt; dieser Theil der Untersuchung ist nämlich noch übrig; da, wenn man die Entstehung der Schlüsse kennen gelernt hat und sie aufzustellen vermag und wenn man auch aufgestellte Schlüsse auf die vorerwähnten Figuren zurückzuführen vermag, dann das, was ich mir im Beginn vorgesetzt, erfüllt sein möchte. Auch wird sich ergeben, wie durch das, was ich nun sagen werde, zugleich das früher Gesagte bestätigt, und wie dadurch noch deutlicher werden wird, dass es sich so verhält. Denn alles Wahre muss in jeder Weise mit sich selbst übereinstimmen.

Zunächst muss man versuchen die zwei Vordersätze aus dem Schluss herauszuziehen (denn es ist leichter, das Grössere auszusondern, als das Kleinere, und die Sätze sind grösser als die Begriffe, aus denen sie bestehen). Dann muss man sehen, was allgemein und was beschränkt ausgesprochen ist; und wenn nicht beide Sätze hingestellt worden sind, so muss man den fehlenden selbst aufstellen; denn mitunter wird beim Schreiben oder Fragen nur der allgemeinere Satz aufgestellt und nicht auch der in ihm enthaltene; oder es werden wohl beide aufgestellt, aber die Sätze übergangen, durch welche die[74] Vordersätze selbst bewiesen werden, während Anderes nutzlos gefragt wird. Man muss also untersuchen, ob etwas Ueberflüssiges aufgestellt und ob etwas Nöthiges ausgelassen worden ist; dieses muss man hinzufügen und jenes wegnehmen, bis man auf die zwei Vordersätze gelangt, da man ohne diese die gefragten Sätze nicht in die entsprechende Schlussfigur einordnen kann. In manchen Fällen kann man leicht das Mangelnde erkennen, in anderen ist es verhüllter, so dass der Schein entsteht, als ergebe sich mit Nothwendigkeit ein Schluss aus den aufgestellten Vordersätzen. Z.B. wenn man setzt, dass eine Substanz nur vernichtet werden könne, wenn sie selbst vernichtet werde; und dass, wenn das, aus dem ein Gegenstand besteht, vernichtet werde, auch der Gegenstand vernichtet werde. Aus diesen aufgestellten Sätzen folgt nothwendig, dass auch der Theil einer Substanz eine Substanz ist. Nun ist dies aber nicht aus den aufgestellten Vordersätzen geschlossen worden, vielmehr sind Vordersätze ausgelassen worden. Ein ähnlicher Fall ist es, wenn gesetzt wird, dass wenn der Mensch sei, nothwendig auch ein Geschöpf sei und wenn ein Geschöpf sei, nothwendig auch eine Substanz sei; denn hier hat kein Schliessen stattgefunden, weil die Vordersätze sich nicht so verhalten, wie ich gesagt habe. Man täuscht sich in solchen Fällen und meint, dass weil aus den Vordersätzen sich etwas mit Nothwendigkeit ergiebt, auch der gezogene Schluss nothwendig sei. Allein das Nothwendige hat einen weiteren Umfang als der Schluss; denn jeder Schluss ist zwar ein Nothwendiges, aber nicht alles Nothwendige ist ein Schluss. Wenn also auch aus zwei aufgestellten Vordersätzen etwas folgt, so darf man doch nicht sofort versuchen, dasselbe auf eine Schlussfigur zurückzuführen, sondern man muss zunächst die Vordersätze in Betracht nehmen, dann diese in die Begriffe zerlegen und demnächst denjenigen als Mittelbegriff setzen, welcher in beiden Vordersätzen vorkommt, da in allen Schlussfiguren der Mittelbegriff in beiden Vordersätzen enthalten sein muss. Im Fall nun dieser Mittelbegriff sowohl etwas aussagt, wie von ihm etwas ausgesagt wird, oder wenn er zwar etwas aussagt, aber ein Anderes von ihm verneint wird, so ist die erste Schlussfigur vorhanden. Wenn aber der Mittelbegriff von[75] Einem bejahend ausgesagt, von dem Anderen aber verneint wird, so ist die zweite Figur vorhanden; und wenn die beiden anderen Begriffe von dem Mittelbegriffe ausgesagt werden, oder der Eine von ihnen verneint und der Andere bejaht wird, so ist die dritte Figur vorhanden; denn in dieser Weise verhielt sich der Mittelbegriff in den einzelnen Figuren. Das Gleiche gilt, wenn die Vordersätze nicht allgemein lauten; auch hier bleibt die Definition des Mittelbegriffs dieselbe. Hieraus erhellt, dass wenn in einer Rede derselbe Begriff nicht mehrfach aufgestellt wird, kein Schluss dabei herauskommen kann, weil dann kein Mittelbegriff gesetzt worden ist. Da wir nun schon wissen, welche aufgestellten Sätze mittelst der einzelnen Figuren bewiesen werden können und welche Figuren zu einem allgemeinen und welche nur zu einem beschränkten Schlusssatz führen, so erhellt, dass man nicht in jedem Falle auf alle Figuren zu achten hat, sondern bei jedem aufgestellten Satz nur auf die dazu geeignete Figur. Wenn aber der Beweis in mehreren Figuren geführt werden kann, so wird man die bestimmte Figur aus der Stellung des Mittelbegriffes erkennen können.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 74-76.
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