Fünftes Kapitel

[9] Wenn derselbe Begriff in dem anderen ganz und in dem dritten gar nicht enthalten ist, oder wenn er in jedem von beiden ganz oder gar nicht enthalten ist, so nenne ich eine solche Schlussfigur die zweite. Mittelbegriff nenne ich hier den, welcher von den beiden anderen ausgesagt wird und Aussenbegriffe die, von welchen er ausgesagt wird. Von diesen nenne ich den dem Mittelbegriff näheren den grösseren und den vom Mittelbegriff entfernteren den kleineren. Der Mittelbegriff steht bei dieser Figur ausserhalb der Aussenbegriffe, und ist der erste im Ansatze. Vollkommen sind die Schlüsse in dieser Figur keineswegs; aber sie sind möglich, gleichviel ob die Begriffe in den Vordersätzen allgemein oder nicht allgemein genommen seien. Sind sie allgemein genommen, so ergiebt sich ein Schluss, wenn der Mittelbegriff in einem der Aussenbegriffe ganz, in dem anderen gar nicht enthalten ist, wobei es gleichgültig ist, zu welchen von beiden er sich verneinend verhält. Verhalten sich die Begriffe anders, so giebt es keinen Schluss. So soll M von N gar nicht, aber von dem ganzen X ausgesagt werden. Hier lässt sich der verneinende Vordersatz umkehren; so dass N in keinem M enthalten ist; M war aber in dem ganzen X enthalten, folglich ist N in keinem[9] X enthalten; denn diese Folgerung ist bereits bewiesen worden.

Weiter soll M in dem ganzen N, aber in keinem X enthalten sein; hier wird N in keinem X enthalten sein. Denn wenn M in keinem X enthalten ist, so wird auch X in keinem M enthalten sein; M war aber in dem ganzen N enthalten und folglich wird X in keinem N enthalten sein; denn es hat sich damit wieder die erste Schlussfigur ergeben. Da nun verneinende Sätze sich umkehren lassen, so wird auch N in keinem X enthalten sein, so dass somit derselbe Schluss wie im ersten Falle sich ergiebt. Man kann übrigens diese Beweise auch dadurch führen, dass man die Unmöglichkeit des Gegentheils darlegt. Es ist somit klar, dass bei einem solchen Verhalten der Begriffe zu einander ein Schluss sich ergiebt; aber er ist nicht vollkommen, weil die Nothwendigkeit desselben nicht schon aus den ursprünglich angesetzten Vordersätzen, sondern erst mit Hinzunahme anderer Hülfsmittel sich vollendet.

Wenn aber M von dem ganzen N und von dem ganzen X ausgesagt wird, ergiebt sich kein Schluss. Als Begriff für einen bejahenden Schlusssatz nehme man: Ding, Geschöpf, Mensch, und für einen verneinenden Schlussatz: Ding, Geschöpf, Zahl, wobei Ding der Mittelbegriff ist. Auch ergiebt sich kein Schluss, wenn M von keinem N und von keinem X ausgesagt wird. Als Begriffe für einen bejahenden Schlusssatz nehme man: Linie, Geschöpf, Mensch; und für einen verneinenden Schlusssatz: Linie, Geschöpf, Stein. Es ist also klar, dass, wenn bei allgemein genommenen Begriffen ein Schluss sich ergeben soll, die Begriffe sich zu einander so, wie ich zuerst bemerkt, verhalten müssen; denn wenn sie sich anders verhalten, ergiebt sich keine Notwendigkeit für einen Schlusssatz.

Wenn aber der Mittelbegriff nur von einem der Aussenbegriffe allgemein ausgesagt wird und dies von dem grösseren Begriffe geschieht, sei es bejahend oder verneinend, und wenn der Mittelbegriff dabei von dem kleineren Aussenbegriffe nur beschränkt, aber in entgegengesetzter Weise ausgesagt wird; (ich nenne es entgegengesetzt, wenn der allgemeine Vordersatz verneinend und der beschränkte Vordersatz bejahend lautet, oder wenn[10] der allgemeine bejahend und der beschränkte verneinend lautet), so muss sich ein verneinender beschränkter Schlusssatz ergeben. Denn wenn M in keinen N, aber in einigen X enthalten ist, so muss N in einigen X nicht enthalten sein. Denn der verneinende Satz M N lässt sich umkehren und N ist also auch in keinem M enthalten; M war aber in einigen X enthalten, mithin wird N in einigen X nicht enthalten sein; denn dieser Schluss ergiebt sich dann vermittelst der ersten Figur.

Wenn ferner M in dem ganzen N enthalten ist, aber in einigen X nicht; so muss N in einigen X nicht enthalten sein; denn wenn N in dem ganzen X enthalten wäre, so müsste, da M von dem ganzen N ausgesagt wird, M auch in dem ganzen X enthalten sein, während doch angenommen ist, dass M in einigen X nicht enthalten sei. Und wenn M in dem ganzen N enthalten ist, aber nicht in dem ganzen X, so ergiebt sich der Schluss, dass N nicht in dem ganzen X enthalten ist. Der Beweis ist hier derselbe, wie vorher. Wird aber M von dem ganzen X, aber nicht von dem ganzen N ausgesagt, so ergiebt sich kein Schluss. Man nehme als Beispiel die Begriffe: Geschöpf, Ding, Rabe; und: Geschöpf, Weiss, Rabe. Auch ergiebt sich kein Schluss, wenn M von keinem X, aber von einigen N ausgesagt wird. Als Beispiele für den bejahenden Schluss nehme man die Begriffe: Geschöpf, Ding, Eins; und für den verneinenden Schlusssatz: Geschöpf, Ding, Wissenschaft.

Wenn also der allgemeine Vordersatz entgegengesetzt wie der beschränkte lautet, so ergiebt sich, wie gesagt, manchmal ein Schluss und manchmal nicht; lauten aber beide Vordersätze gleichförmig, also beide bejahend oder beide verneinend, so ergiebt sich kein Schluss. So sollen sie zuerst verneinend lauten und der grössere Aussenbegriff soll allgemein genommen sein, so dass also M in keinem N enthalten und in einigen X nicht enthalten ist. Hier kann N sowohl ganz in X, wie gar nicht in X enthalten sein. Als Begriffe für das Nicht-enthalten sein nehme man Schwarz, Schnee, Geschöpf. Für das in dem ganzen X enthalten sein kann man aber keine Begriffe aufstellen, wenn M in einigen X enthalten und in einigen X nicht enthalten ist. Denn wenn X in dem ganzen X enthalten und M in keinen N enthalten ist, so muss M[11] in keinem X enthalten sein, während doch angenommen worden, dass M in einigen X enthalten sei. Es lassen sich also hierfür keine Begriffe als Beispiele aufstellen. Dagegen kann man den Beweis aus der Unbestimmtheit dieses Satzes ableiten. Denn der Satz, dass M in einigen X nicht enthalten ist, bleibt auch wahr, wenn M in keinem X enthalten ist. Für diesen Fall aber, dass M in keinem X enthalten war, ergab sich kein Schluss und so ist klar, dass auch hier keiner statthaben kann.

Nun sollen ferner die Vordersätze bejahend lauten und das Allgemeine soll wie vorher angesetzt sein; es soll also M in dem ganzen N und in einigen X enthalten sein; hier kann es kommen, dass N in dem ganzen X und auch, dass es in keinem X enthalten ist. Als Begriffe für den letzteren Fall nehme man: Weiss, Schwan, Stein. Für den ersten Fall kann man aber aus demselben Grunde, wie vorher, keine Begriffe aufstellen, und der Beweis muss auch hier aus der Unbestimmtheit des Satzes entnommen werden.

Ist aber das Allgemeine zu dem kleineren Aussenbegriffe genommen und also M in keinem X enthalten und in einigen N nicht enthalten, so kann N sowohl in dem ganzen X wie in gar keinem X enthalten sein. Für das Enthaltensein dienen die Begriffe: Weiss, Geschöpf, Rabe; für das Nicht-enthalten sein: Weiss, Stein, Rabe. Lauten aber die Vordersätze bejahend, so nehme man für das Nicht-enthalten sein die Begriffe: Weiss, Geschöpf, Schnee, und für das Enthaltensein die Begriffe: Weiss, Geschöpf, Schwan.

Sonach ist also klar, dass wenn die Vordersätze gleichförmig lauten, und der eine allgemein, der andere beschränkt, in keinem Falle ein Schluss sich ergiebt. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn der Mittelbegriff in einigen der beiden Aussenbegriffe enthalten oder nicht enthalten ist, oder wenn er in einigen des einen Aussenbegriffs enthalten, in einigen des anderen aber nicht enthalten ist, oder wenn er in keinem von beiden enthalten ist, oder wenn dies unbestimmt ausgedrückt ist. Als Begriffe für alle diese Fälle können dienen: Weiss, Geschöpf, Mensch, und: Weiss, Geschöpf, Leblos.

Sonach erhellt aus dem Gesagten, dass wenn die Begriffe sich so zu einander verhalten, wie angegeben[12] worden, nothwendig ein Schluss sich ergiebt, und dass wenn ein Schluss sich ergiebt, nothwendig die Begriffe sich so verhalten müssen. Auch ist klar, dass alle Schlüsse in dieser Figur unvollkommen sind (denn alle werden nur vollkommen, wenn noch etwas hinzugenommen wird, was entweder den Begriffen nothwendig einwohnt, oder was als Voraussetzung angenommen wird) wie in dem Falle, wo der Beweis aus der Unmöglichkeit des Gegentheils geführt wird. Auch erhellt, dass in dieser Figur kein bejahender Schlusssatz vorkommt, sondern dass alle, sowohl die allgemeinen, wie die beschränkten verneinend lauten.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 9-13.
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