Vierzehntes Kapitel

[39] Von der Bewegung giebt es sechs Arten; die Entstehung, den Untergang, die Vermehrung, die Verminderung, die Veränderung und den Ortswechsel. Alle diese Arten, mit Ausnahme der Veränderung, sind offenbar von einander verschieden; denn die Entstehung ist kein Untergang und die Vermehrung ist keine Verminderung und auch kein Ortswechsel und dasselbe gilt von den anderen; nur bei der Veränderung entsteht der Zweifel, ob es nicht nothwendig sei, dass die Veränderung in einer der übrigen Arten erfolgen müsse. Indess ist dies nicht richtig, denn wir erfahren beinahe bei allen Affekten oder wenigstens bei den meisten eine Veränderung, ohne dass wir dabei an einer von den andern Arten der Bewegung Theil nehmen; denn der vom Affekt Ergriffene braucht deshalb weder grösser noch kleiner zu werden und eben so wenig eine andere der übrigen Arten von Bewegung zu erleiden und deshalb ist die Veränderung eine besondere Art der Bewegung neben den übrigen. Denn wäre dies nicht der Fall, so müsste das Veränderte entweder auch gleichzeitig grösser oder kleiner werden oder eine andere Art von Bewegung erleiden, was doch nicht nothwendig ist. Ebenso müsste auch das, was grösser geworden oder sonst eine Art von Bewegung erlitten hat, sich verändert haben; allein es kann etwas grösser werden, was sich doch deshalb nicht verändert. So nimmt ein Viereck, wenn man die Diagonale um dessen Ecken herumlegt, zwar zu, aber es ist kein Anderes geworden und dasselbe gilt für andere Fälle dieser Art. Sonach sind die angegebenen[39] Bewegungen sämmtlich von einander verschieden.

Das Gegentheil schlechthin von der Bewegung ist die Ruhe und von den einzelnen Arten derselben sind die einzelnen Arten der Ruhe das Gegentheil; so ist das Gegentheil von der Entstehung der Untergang, und von der Vermehrung die Verminderung und von dem Ortswechsel die Ruhe an demselben Ort. Am meisten ist aber wohl der Wechsel der entgegengesetzten Orte einander entgegengesetzt; z.B. der von Oben nach Unten und der von Unten nach Oben. Bei den übrigen genannten Arten der Bewegung lässt sich nicht leicht das angeben, was ihr Gegentheil ist; vielmehr scheint hier kein Gegentheil vorhanden zu sein, wenn man nicht bei ihnen das Verharren in derselben Beschaffenheit und den Uebergang in die entgegengesetzte Beschaffenheit als Gegensatz aufstellen will, wie dies in Bezug auf den Ortswechsel mit der Ruhe an demselben Ort oder mit dem Uebergang in den entgegengesetzten Ort geschieht; denn die Veränderung ist ein Wechsel in der Beschaffenheit. Deshalb steht dem Wechsel in der Beschaffenheit die Ruhe in dieser Beschaffenheit oder der Wechsel in die entgegengesetzte Beschaffenheit gegenüber, wie das letztere z.B. bei dem Weiss geschieht, wenn es schwarz wird; denn bei einem solchen Wechsel verändert es sich in die entgegengesetzte Beschaffenheit.

Quelle:
Aristoteles: Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen. Aristoteles: Hermeneutica oder Lehre vom Urtheil. Leipzig 1876, S. 39-40.
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