Zehntes Kapitel

[20] Es besteht also kein Unterschied in den Begründungen, wie Einige behaupten, nach denen es Begründung in Bezug auf die Worte und andere in Bezug auf den Sinn des erörterten Satzes geben soll. Vielmehr ist die Voraussetzung verkehrt, wonach die Begründungen, welche sich an die Worte halten, von denen verschieden sein sollen, die sich an den Sinn des Satzes halten, und es ist verkehrt, dass beide nicht dieselben seien. Denn was ist ein Streiten nicht nach dem Sinn anders, als dass man die Worte nicht in dem Sinne nimmt, in welchem der Gefragte sie eingeräumt hat und in welchem er sich einbildet, gefragt worden zu sein? Ein solches Streiten ist also ein Streiten um Worte, aber auch ein Streiten um den Sinn, wenn die weitere Ausführung von dem Fragenden nur auf den Sinn gestützt wird, welchen der Antwortende mit seiner Antwort gemeint hat. Wenn ferner bei einem doppelsinnigen Worte sowohl der Fragende wie der Gefragte meinen, das Wort habe nur einen Sinn, und die[20] Erörterung z.B. den Satz betrifft, dass Alles Eines sei, so wird auch eine solche Erörterung sich auf das Wort oder auf den von dem Gefragten damit verknüpften Sinn beziehen. Meint aber einer der Streitenden, dass das Wort vielerlei bedeute, so wird er die Erörterung nicht als eine auf den Sinn sich beziehende führen. Denn einmal beziehen sich solche Disputationen, wo die Worte eine mehrfache Bedeutung haben, auf die Worte und den Sinn; und sodann findet dies auch bei jeder andern Disputation statt; denn das: »nach dem Sinn« liegt nicht in der Begründung, sondern darin, wie der Antwortende das, was er zugegeben hat, gemeint hat. Auch wäre es dann statthaft, alle Disputationen nur für solche zu nehmen, welche blos die Worte betreffen, denn der Ausdruck »die Worte betreffen« heisst hier so viel als nicht den Sinn betreffen. Sollte dies nicht für alle Disputationen gelten, so müsste es dann noch welche geben, die weder auf die Worte, noch auf den Sinn sich bezögen, während doch Jene ihre Eintheilung als für alle Erörterungen gültig behaupten und dieselben nur in solche, welche Worte und in solche, welche den Sinn betreffen, eintheilen, ohne eine dritte Art aufzustellen. Indess sind von den Schlüssen, welche sich auf eine Zweideutigkeit stützen, nur einige auf die Worte gestützt, denn es ist eine verkehrte Behauptung, wie ich schon gesagt habe, dass alle auf die Ausdrucksweise gestützten Schlüsse solche seien, welche über die Worte aufgestellt würden; vielmehr beruhen manche Fehlschlüsse nicht darauf, dass der Antwortende sich zu ihnen irgendwie verhält, sondern darauf, dass schon die Frage ein Wort enthält, was mehrere Bedeutungen hat.

Ueberhaupt ist es verkehrt, die Widerlegungen zu untersuchen, ohne zuvor den Schluss besprochen zu haben; denn die Widerlegung ist eine Art des Schlusses, und deshalb muss man über den Schluss eher sprechen, als über die falschen Widerlegungen; da diese nur der scheinbare Schluss auf den Gegensatz sind. Der Fehler ist deshalb hier entweder in dem Schlusse oder in dem Gegensatze enthalten (denn letzterer muss vorliegen), oder auch in beiden, wenn die Widerlegung nur eine scheinbare ist. So liegt der Fehler bei dem Ausspruch, dass das Schweigende spreche, in dem aufgestellten Gegensatze und[21] nicht in dem Schlusse; dagegen bei dem Satze, dass jemand das, was er nicht hat, geben könne, in beiden, und bei dem Satze, dass das Gedicht des Homer eine Gestalt sei, weil es einen Kreis bilde, in dem Schlusse. Ist in keinem dieser beiden Stücke gefehlt, so ist der Schluss ein wahrer.

Um indess auf meinen Ausgangspunkt zurückzukehren, so könnte man auch fragen, ob die Begründungen in der Mathematik sich auf den Sinn beziehen oder nicht? Ob insbesondere, wenn der Antwortende meint, dass das Wort: Dreieck mehrere Bedeutungen habe und sein Zugeständniss sich nicht auf die Gestalt bezogen habe, an welcher bewiesen worden, dass deren Winkel zwei rechte enthalten, man sagen könne, der Beweis des Fragenden habe sich auf den Sinn, den der Antwortende mit dem Worte verbunden, bezogen, oder nicht bezogen?

Wenn ferner das Wort zwar vieldeutig ist, der Antwortende dies aber nicht weiss und auch nicht glaubt, sollte in diesem Falle derselbe nicht in Bezug auf den Sinn disputirt haben? Oder sollte man etwa anders fragen, als so, dass man dem Antwortenden die Wahl lässt, also in der Art, dass man früge: Kann der Schweigende sprechen oder nicht? Oder: Ist es nicht so, oder ist es so? Wenn hier nun der Antwortende sagte: Durchaus nicht, der Gegner aber bewiese, dass es der Fall sei, sollte da nicht die Disputation sich auf den Sinn bezogen haben, trotzdem sie zu denen gehören dürfte, welche die Worte betreffen? Es giebt daher keine besondere Art der Disputation, die sich nur auf den Sinn bezöge, aber wohl betreffen manche nur die Worte; zu dieser Art gehören jedoch nicht alle Widerlegungen, und zwar weder alle wirklichen, noch alle blos scheinbaren, da es auch scheinbare Widerlegungen giebt, die sich nicht auf den Ausdruck stützen, wie die, welche ein Nebensächliches wie ein Wesentliches benutzen und andere mehr.

Wenn man aber verlangt, dass ich, wenn ich behaupte, der Schweigende spreche, sagen sollte, wie dies theils so, theils anders zu verstehen sei, so ist dies zunächst verkehrt (denn mitunter scheint das Gefragte nicht vieldeutig, und es ist unmöglich da zu theilen, wo die Vieldeutigkeit nicht bemerkt wird); und wäre dies dann etwas Anderes als ein Belehren? Der Fragende müsste[22] dann seinen Gegner offenbar machen, wie die Sache sich verhielte, während der Gegner sie weder untersucht hat, noch weiss, noch vermuthet, dass die Frage zweideutig ist. Was hindert dann, dass auch bei nicht zweideutigen Worten dies geschehen müsste, z.B. bei der Frage, ob die Einheiten in den vierfachen Zahlen den zwiefachen Zahlen gleich seien? Denn die zwiefachen Zahlen sind bald so, bald so darin enthalten. Ferner bei der Frage: Ob für Gegentheile eine Wissenschaft bestehe oder nicht? denn es gehört auch das Gewusste und das Nichtgewusste zu den Gegentheilen. Wer also hier erst eine Erläuterung verlangt, scheint nicht zu wissen, dass das Lehren von dem Disputiren verschieden ist und dass der Lehrer nicht fragen, sondern selbst die Sache erklären, der Disputirende aber fragen muss.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 20-23.
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