Neuntes Kapitel

[18] Die Frage, wie viele der Dinge überhaupt sind, wo die Gefragten widerlegt werden können, darf man nicht erheben, wenn man nicht die Wissenschaft von allen Dingen besitzt; dies kann aber durch keine Kunst erreicht werden, denn die Wissenschaften sind wohl unbegrenzt und folglich auch die Beweise. Auch giebt es wahre Widerlegungen, da bei allem, was sich beweisen lässt, derjenige, welcher das Gegentheil des Wahren behauptet, auch widerlegt werden kann. Hat z.B. jemand behauptet, dass die Diagonale des Quadrats und dessen Seiten durch ein gleiches Mass messbar seien, so würde er wahrhaft durch einen Beweis widerlegt werden, dass ein solches für beide gültiges Mass nicht besteht. Man müsste daher Alles wissen, da manche Widerlegungen sich auf die Grundsätze der Geometrie und die daraus gefolgerten Lehrsätze stützen können und andere auf die Sätze der Arzneikunst und wieder andere auf die Sätze anderer Wissenschaften. Aber auch die falschen Widerlegungen haben kein begrenztes Gebiet; denn in jeder Wissenschaft können auch falsche Schlüsse gezogen werden; so geometrische in der Geometrie und medicinische in der Medicin. Ich meine eben mit den Worten: »in jeder Wissenschaft« die in derselben vorhandenen obersten Grundsätze. Man kann also offenbar die Gesichtspunkte für alle Widerlegungen nicht erschöpfen, sondern man muss sich auf diejenigen beschränken, welche aus der Dialektik zu entnehmen sind; da die Gesichtspunkte bei dieser gleichmässig für alle Wissenschaften und jedes Vermögen gelten. Die Widerlegungen innerhalb einzelner Wissenschaften hat daher nur derjenige, welcher dieselben inne hat, zu prüfen und zu sehen, ob sie nur scheinbar eine Widerlegung sind, oder wenn sie wirkliche sind, weshalb dies der Fall ist; die Widerlegungen dagegen, welche aus gemeinsamen und nicht blos für eine Wissenschaft geltenden Gesichtspunkten entnommen sind, haben die Dialektiker zu prüfen. Kennt man hier die Mittel, durch welche sich glaubwürdige Schlüsse für jedwedes beschaffen lassen, so kennt man auch die Mittel für die glaubwürdigen Widerlegungen; denn die Widerlegung ist ein Schluss auf die Verneinung des durch einen vorgehenden Schluss dargelegten[19] Satzes, so dass ein oder zwei auf die Verneinung lautende Schlüsse die Widerlegung bilden. Nun kennen wir bereits die Zahl der Gesichtspunkte, welche die Widerlegungen überhaupt für sich benutzen, und wenn man diese kennt, so kennt man auch die Auflösung, d.h. die Aufdeckung der Fehler solcher Widerlegungen; denn die Einwürfe gegen ihre Mittel ergeben auch die Lösung. Wir haben nun auch die Anzahl der Mittel kennen gelernt, auf welche die scheinbaren Widerlegungen sich stützen, und zwar nicht die für irgend einen Einzelnen scheinbaren, sondern nur die für die in der Dialektik erfahrenen Personen, da die Mittel, durch welche die Widerlegungen für irgend welchen Einzelnen zu scheinbaren werden, unbegrenzt sind und deshalb nicht erschöpft werden können. Deshalb kann nur der Dialektiker die Zahl der Mittel übersehen, durch welche vermittelst der gemeinsamen Grundsätze die wirkliche und die scheinbare Widerlegung erreicht wird, sei die Widerlegung eine dialektische, oder eine nur scheinbar dialektische, oder eine nur versuchsweise zur Prüfung des Gegners angestellte.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 18-20.
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