Neunzehntes Kapitel

[42] Bei denjenigen sophistischen Widerlegungen, welche sich auf die Gleichnamigkeit oder auf Zweideutigkeiten stützen, enthalten entweder die Fragen Worte mit mehreren Bedeutungen, oder der Schlusssatz ist zweideutig. So ist bei dem Satze, dass der Schweigende spreche, der Schlusssatz doppelsinnig, aber bei dem Satze, dass der Wissende nicht wisse, ist eine der Fragen zweideutig. Das, was durch das Doppelsinnige bezeichnet wird, ist bald wirklich vorhanden, bald nicht; denn das Zweideutige bezeichnet bald ein Seiendes, bald ein Nicht-Seiendes.

Wenn die Zweideutigkeit in dem Schlusssatze liegt, so ergiebt sich für den Sophisten keine Widerlegung, wenn er nicht die Zustimmung des Antwortenden für den Gegenstand erlangt, wie in dem Beispiele: Blinde sehen; denn ohne den Gegensatz wäre hier keine Widerlegung vorhanden. Wo dagegen die Zweideutigkeit in den[42] Fragen liegt, da braucht der Antwortende nicht im voraus das Zweideutige zu verneinen, weil die Begründung hier nicht auf diese Zweideutigkeit geht, sondern vermittelst ihrer erfolgt.

Bemerkt man gleich im Anfange das Zweideutige der Worte oder der Rede, so muss man antworten, dass das Gefragte in gewissem Sinne wahr sei, in einem anderen Sinne aber nicht; z.B. auf die Frage, ob der Schweigende rede, dass es in gewissem Sinne der Fall sei, in einem anderen Sinne aber nicht; ebenso ist auf die Frage, ob man das Schuldige thun solle, zu antworten, dass man Manches davon thun solle, Manches aber nicht thun solle, da das Schuldige zweideutig sei. Bemerkt man aber die Zweideutigkeit nicht sogleich im Anfange, so muss man am Schlusse die Frage zurecht stellen; so hat man z.B. auf die Frage, ob der Schweigende spreche, zu antworten: »Nein, aber dieser Schweigende spricht«. Auch da, wo bei der Begründung die Zweideutigkeit in den Vordersätzen liegt, ist so zu verfahren. So ist auf die Frage: Weiss einer auch das, was er weiss? zu antworten: Ja, aber nicht derjenige, welcher es nur so und so weiss. Denn es ist nicht dasselbe, ob man überhaupt es nicht weiss oder ob die in einer bestimmten Art Wissenden es nicht wissen. Ueberhaupt muss man den Fragenden, auch wenn sein Schluss allgemein lautet, so bekämpfen, dass das, was er gesagt hat, nicht die Sache, sondern nur den Namen derselben betreffe, und daher auch keine Widerlegung geschehen sei.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 42-43.
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