Fünfundzwanzigstes Kapitel

[53] Diejenigen Beweise der Sophisten, welche sich darauf stützen, dass etwas eigentlich und an sich, oder in einer Beschränkung durch wohin, oder wie, oder wo, oder in einer Beziehung und nicht an sich gemeint wird, müssen dadurch aufgelöst werden, dass man untersucht, wie der widerlegende Schlusssatz sich zu einer wirklichen Verneinung der Thesis verhält, und ob er einen Mangel dieser Art enthält. Denn das Gegentheilige und das sich Widersprechende, ebenso die Bejahung und Verneinung können an sich ein und demselben Gegenstand nicht einwohnen; dagegen steht nichts entgegen, dass jedes von beiden in irgend einer Beschränkung oder blos beziehungsweise und in gewisser Beschaffenheit demselben Gegenstand einwohnt oder auch, dass das eine unbeschränkt und das andere in gewisser Weise ihm zukommt, so dass, wenn das eine überhaupt, das andere aber beschränkt gemeint ist, die Widerlegung nicht statt hat. Man muss also bei dem Schlusssatz der Widerlegung in Betracht nehmen, wie sich derselbe zu einer wirklichen Verneinung der Thesis verhält.[53]

Alle hierher gehörigen Widerlegungen verhalten sich aber so, z.B.: Kann das Nicht-Seiende sein? – Nein! – Aber es ist doch ein Nicht-Seiendes! – Eben so wird auch das Seiende nicht-sein, denn es wird nicht-sein etwas von dem Seienden. Ferner: Kann derselbe Mensch zugleich wahr schwören und falsch schwören? Und kann derselbe Mensch demselben anderen Menschen zugleich glauben und nicht-glauben? –

Allein das »Etwas sein« und das »Sein überhaupt« ist nicht dasselbe; das Nicht-Seiende aber ist nicht ein solches überhaupt, wenn es doch etwas ist. Ebenso wenig schwört der, welcher dieses oder in dieser Weise wahr schwört, überhaupt wahr, und wer geschworen hat, dass er falsch schwören werde, schwört wahr, wenn er nur dieses falsch beschwört, aber er schwört nicht an sich wahr. Ebenso glaubt der Ungläubige nicht überhaupt nicht, sondern er glaubt nur etwas nicht. Ebenso verhält es sich mit dem Ausspruch, dass derselbe Mensch zugleich lüge und die Wahrheit sage, weil man aber nicht leicht übersehen kann, ob man das »die Wahrheit-Sagen« oder das »Lügen« als das im Allgemeinen Gültige zugestehen soll, so scheint der Fall schwierig zu lösen. Indess kann ja Jemand sehr wohl an sich ein Lügner sein, und doch in einer gewissen Weise oder bei einem einzelnen Punkte die Wahrheit sagen; ebenso kann er bei einigen Dingen wahrhaft sein und doch nicht-wahrhaft überhaupt.

Ebenso verhält es sich mit den Aussprüchen, welche durch Beziehungen, oder durch: wo, oder: wenn beschränkt sind; sie stimmen alle in diesem Punkte überein. Z.B. ist die Gesundheit oder der Reichthum ein Gut? Wird dies bejaht, so entgegnet der Fragende, dass der Reichthum oder die Gesundheit für den Unverständigen und für den, welcher keinen rechten Gebrauch davon macht, kein Gut sei; also sei der Reichthum und die Gesundheit ein Gut und auch nicht ein Gut. Ferner: Ist das »Gesund sein« oder »die Macht im Staate Haben« gut? Aber manchmal ist es doch besser, sie nicht zu haben; sonach ist also ein und dasselbe demselben Menschen gut und auch nicht gut. – Allein es kann sehr wohl ein an sich Gutes für diesen Menschen nicht gut sein, oder es kann für ihn zwar gut sein, aber nicht jetzt, oder nicht an diesem Orte.[54] Ferner: Ist das, was der Kluge nicht mag, ein Uebel? Nun will er aber das Gute nicht verlieren, also ist das Gute ein Uebel. Allein es ist nicht dasselbe, ob ich sage: das Gute ist ein Uebel, oder der Verlust des Guten ist ein Uebel. Aehnlich verhält es sich mit dem Ausspruch über den Dieb; denn wenn der Dieb schlecht ist, ist nicht auch das Nehmen schlecht; er will also nicht das Schlechte, sondern das Gute, denn ein Gutes zu nehmen ist gut. Auch die Krankheit ist ein Uebel, aber nicht das Verlieren der Krankheit. Ferner: Ist nicht das Gerechte dem Ungerechten und das gerechter-Weise dem ungerechter-Weise vorzuziehen? Allein das ungerechter-Weise-Sterben ist doch vorzuziehen? Ferner: Ist es recht, dass jeder das Seine habe? Was aber der Richter nach seiner Meinung zuspricht, das ist nach dem Gesetz gültig, wenn seine Meinung auch falsch ist. Somit ist ein und dasselbe zugleich gerecht und ungerecht. Ferner: Wem soll man Recht geben, dem, der Gerechtes sagt, oder dem, der Ungerechtes sagt? Allein auch der, dem Unrecht geschehen ist, kann mit Recht sagen, was er Ungerechtes erlitten hat; dies war aber Ungerechtes. Indess ist deshalb, weil man eher ein Unrecht leiden soll, das Unrecht dem Recht nicht vorzuziehen, sondern man soll überhaupt recht handeln, was aber nicht ausschliesst, dass etwas mit Recht, oder mit Unrecht geschehen kann. Ebenso ist es recht, dass man das Seinige habe und unrecht das Fremde zu haben; deshalb kann aber der richterliche Ausspruch für letzteres dennoch gerecht sein, wenn der Richter dabei nach seiner Ueberzeugung entschieden hat; denn wenn etwas nur in dieser oder jener Weise gerecht ist, so ist es noch nicht unbedingt gerecht. Ebenso kann man sehr wohl mit Recht Ungerechtes sagen, denn wenn es recht ist, es zu sagen, so ist es deshalb nicht nothwendig, dass das Gesagte ein Gerechtes ist; ebenso wie es nützlich sein mag, etwas zu sagen, ohne dass dieses selbst ein Nützliches ist. Ebenso verhält es sich mit dem Gerechten, und deshalb siegt nicht der, welcher Unrechtes aussagt, wenn auch das von ihm Ausgesagte wirklich Unrechtes ist, denn er sagt nur das, was er mit Recht sagen darf, obgleich es an sich und wenn man es erleidet, ein Unrecht ist.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 53-55.
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