Dreiunddreissigstes Kapitel

[61] Man muss auch beachten, dass alle sophistischen Begründungen bald leichter, bald schwerer in Demjenigen[61] zu durchschauen sind, wodurch sie den Hörer täuschen, obgleich sie oft einander gleich sind; denn ein Schluss ist dem anderen gleich, wenn sie beide sich auf gleichartige Gründe stützen. Allein derselbe Schluss soll nach der Meinung des Einen auf ein Nebensächliches sich stützen, aber nach der Meinung des Anderen auf die Ausdrucksweise und nach der Meinung eines Dritten wieder auf Anderes, weil es nicht gleich klar sei, in welchem Punkte der Fehler enthalten sei. So wie bei den Schlüssen, welche sich auf die Mehrdeutigkeit der Worte stützen (welches Mittel das gebräuchlichste für die Fehlschlüsse ist), manches jedwedem klar ist (denn auch die lächerlichen Begründungen stützen sich beinahe alle auf die Ausdrucksweise; z.B.: der Mann wurde zu dem Sitz getragen. Ferner: Wo wurde hingestellt? – Antwort: An die Segelstange. Ferner: Welche von den beiden Kühen gebiert von vorn? Antwort: Keine, sondern beide von hinten. Ferner: Ist der Boreas (Nordwind) rein? Antwort: Keineswegs, denn er hat den Armen und den gekauften Sklaven umgebracht. Ferner: Ist er Euarchos? Antwort: Keineswegs, sonder Appollonides; und von dieser Art sind auch die meisten anderen Fehlschlüsse), so bleibt anderes selbst dem Erfahrensten verborgen. Eine Bestätigung dafür ist, dass man hierbei oft nur über Worte streitet, z.B. ob das Seiende und das Eine für alles dasselbe bedeuten, oder Verschiedenes. Manche meinen, beide Worte bezeichneten dasselbe; Andere lösen die Begründung des Zeno und Parmenides dadurch auf, dass sie behaupten, das Seiende und das Eine seien zweideutig. Auch von den sophistischen Widerlegungen, die sich auf das Nebensächliche oder eines der anderen Mittel stützen, werden manche leichter, manche schwerer zu durchschauen sein; auch ist es bei allen diesen Begründungen nicht überall gleich leicht, die Gattung zu erkennen, zu welcher sie gehören, und ob die sophistische Widerlegung logisch richtig ist oder nicht.

Eine verschmitzte Begründung ist die, welche am meisten wegen ihrer Auflösung in Verlegenheit setzt, denn sie ärgert am meisten. Diese Verlegenheit ist hier von zweierlei Art; entweder weiss man bei den Begründungen, die einen logisch richtigen Schluss enthalten, nicht, welche von den gestellten Fragen man anzugreifen[62] hat, oder man weiss bei den blos streitsüchtigen nicht, wie man den aufzustellenden Streitsatz ausdrücken soll. Deshalb nöthigen bei den logisch richtigen Schlüssen die verschmitzten Begründungen zu genauerer Untersuchung. Eine solche Begründung ist dann am verschmitztesten, wenn sie mittelst sehr glaubwürdiger Sätze eine sehr glaubwürdige Behauptung widerlegt. Denn wenn der Antwortende auch einen Gegenschluss bildet, indem er das Gegentheil jenes Schlusssatzes mit als Vordersatz ansetzt, so werden doch diese Schlüsse sich alle gleich verhalten, da sie alle aus glaubwürdigen Sätzen einen gleich glaubwürdigen Satz widerlegen, oder begründen, so dass man darüber in Verlegenheit gerathen muss. Am verschmitztesten ist ein solcher Schluss, weil die Verneinung seines unwahrscheinlichen Schlusssatzes gleiche Glaubwürdigkeit hat, wie die Vordersätze des sophistischen Schlusses, so dass er in Verbindung mit einem dieser Vordersätze zu einem Schlusse führt, der ebenso unwahrscheinlich ist, wie der Schlusssatz des fragenden Gegners. Die zweite Stelle nach diesen in der Verschmitztheit nimmt derjenige Schluss ein, bei dem beide Vordersätze in Glaubwürdigkeit sich gleich stehen; denn der Zweifel, welchen von beiden Vordersätzen man hier widerlegen solle, ist hier für beide gleich stark. Die Schwierigkeit ist hier gross, weil man widerlegen soll und doch nicht klar ist, was man widerlegen soll.

Von den streitsüchtigen Schlüssen ist zunächst derjenige am verschmitztesten, bei dem es schon unklar ist, ob er ein logisch richtiger Schluss ist, oder nicht und ob er sich auf etwas Falsches stützt, oder durch Trennung des Verbundenen aufzulösen ist; zweitens derjenige Schluss von den übrigen, bei dem es zwar klar ist, dass er sich auf eine Trennung, oder eine Wegnahme stützt, aber bei dem es nicht klar ist, welche von den Fragen behufs der Lösung zu widerlegen, oder zu trennen ist, oder ob dies bei dem Schlusssatze, oder bei einem der Vordersätze geschehen muss.

Mitunter ist die nicht logisch schliessende Begründung einfältig, nämlich, wenn die angemeldeten Vordersätze offenbar unglaubwürdig, oder falsch sind; mitunter aber verdient sie keine Verachtung. Denn wenn die Begründung etwas von solchen Fragen weglässt, auf denen[63] die Begründung beruht und durch welche sie geschehen muss, und wenn sie dies nicht hinzunimmt und nicht zu zu dem logischen Schluss gelangt, so ist sie allerdings einfältig; wenn sie aber etwas nicht eigentlich dazu Gehöriges nur weglässt, was aber die Vordersätze glaubwürdiger gemacht hat, so ist sie nicht in gleicher Weise verächtlich, denn der Schluss der Widerlegung ist hier richtig, aber der Fragende hat nicht gut gefragt.

So wie nun die Lösung eines sophistischen Schlusses bald gegen die Begründung desselben, bald gegen die Person des Fragenden, bald gegen keines von beiden zu richten ist, ebenso hat der Sophist seine Fragen und seinen Schluss entweder gegen den aufgestellten Satz, oder gegen den Antwortenden oder gegen die Zeitfrist zu richten, wenn die Lösung mehr Zeit braucht, als für die Erörterung behufs der Lösung noch übrig ist.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 61-64.
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