Fünftes Kapitel

[7] Die auf die Ausdrucksweise sich stützenden Widerlegungen gehen also von diesen Gesichtspunkten aus; dagegen giebt es von den nicht auf die Ausdrucksweise sich stützenden Widerlegungen sieben Arten; die erste stützt sich auf das Nebensächliche, die zweite auf das überhaupt Gesagte oder auf das nicht-überhaupt, sondern in Beziehung auf ein wie, oder wo, oder wenn, oder ein im Verhältniss Gesagte; die dritte benutzt die Unbekanntschaft mit den sophistischen Widerlegungen; die vierte das dem Gegenstande Zukommende, die fünfte benutzt bei ihrem Beweis den im Anfang aufgestellten Satz als zugestanden; die sechste benutzt einen Nicht-Grund als Grund, die siebente macht mehrere Fragen zu einer.

Ein Fehlschluss vermittelst des Nebensächlichen ist dann vorhanden, wenn man behauptet, dass irgend etwas sowohl der Sache selbst, wie dem von ihr Ausgesagten zukomme; denn derselben Sache kann Vieles zukommen, und es ist nicht nothwendig, dass Alles, was dem von ihr Ausgesagten zukommt, auch der Sache selbst zukomme. Ist z.B. Koriskos von dem Menschen verschieden, so wird gefolgert, dass er auch von sich selbst verschieden sei, weil er ein Mensch ist; oder wenn Koriskos ein anderer ist, als Sokrates, Sokrates aber ein Mensch ist, so behaupten sie, man habe zugegeben, Koriskos sei von dem Menschen verschieden, weil es sich getroffen hat, dass derjenige ein Mensch ist, der als von Koriskos verschieden erklärt worden ist.

Ein Fehlschluss, welcher sich auf das überhaupt, oder auf das nur beziehungsweise und nicht eigentlich Ausgesagte stützt, ist vorhanden, wenn etwas beschränkt Gesagtes so genommen wird, als sei es überhaupt gesagt, z.B. wenn das Nicht-Seiende vorstellbar ist, das Nicht-Seiende deshalb sein soll; denn das Etwas-sein ist nicht dasselbe wie das Sein überhaupt. Oder umgekehrt,[7] wenn gefolgert wird, das Seiende sei nicht-seiend, wenn es etwas von dem Seienden nicht ist, z.B. kein Mensch. Aber es ist nicht dasselbe, überhaupt nicht zu sein, oder nur dieses Einzelne nicht zu sein; es scheint nur deshalb so, weil beide Ausdrucksweisen einander sehr nahe stehen und das Etwas-sein wenig von dem Ueberhaupt-sein verschieden scheint und ebenso das Etwas-nicht-sein von dem Ueberhaupt-nicht-sein. Ebenso verhält es sich mit den Schlüssen, welche sich auf das nur beziehungsweise und das überhaupt Gesagte stützen. Wenn z.B. der Indier, der ganz schwarz ist, an den Zähnen weiss ist, so soll er weiss und auch nicht-weiss sein; oder wenn Beides irgendwie statt hat, so soll deshalb das Entgegengesetzte zugleich in dem Gegenstande enthalten sein. Manche dieser Fehlschlüsse kann jeder leicht als solche erkennen, z.B. wenn einer zugestanden erhält, dass der Aethiopier schwarz sei und weiter fragte, ob er an den Zähnen weiss sei, und man anerkennte, dass er hier weiss sei, und jener nun folgerte, der Aethiopier sei sowohl schwarz als nicht-schwarz und meinte, er habe mittelst der Ausdehnung des gefragten Satzes richtig geschlossen. Bei manchen Fehlschlüssen wird jedoch dies oft nicht bemerkt, wenn nämlich aus einem nur beschränkt Gesagten auch dasselbe überhaupt zu folgen scheint und wenn aus den Fragen nicht leicht ersehen werden kann, was als das Hauptsächliche zu behandeln ist. Letzteres kommt bei Gegenständen vor, denen das Entgegengesetzte in gleichem Verhältniss einwohnt; hier möchte man zugeben, dass überhaupt Beides, oder Keines von dem Gegenstande auszusagen sei. Ist z.B. ein Gegenstand halb weiss und halb schwarz, so fragt es sich, ob er weiss, oder ob er schwarz zu nennen ist.

Die dritte Art der sophistischen Widerlegungen beruht darauf, dass nicht festgehalten wird, was ein Schluss und was eine Widerlegung ist, sondern diese mit Weglassung eines Theiles des Gesagten erfolgen. Denn die wahre Widerlegung besteht in einem Schlusssatze, der das Entgegengesetzte ist von demselben und einem, was der Gegner behauptet, und welcher sich nicht blos auf den Namen, sondern auf die Sache bezieht, und welcher auch nicht gleichnamige Worte benutzt, sondern Worte, die dasselbe bezeichnen. Der Schlusssatz muss ferner[8] sich auf das stützen, was zugegeben ist, er muss sich nothwendig ergeben, er darf das zu Beweisende dabei nicht schon als ein Bewiesenes benutzen, er muss sich auf dasselbe und in Bezug auf dasselbe richten und in gleicher Weise und für dieselbe Zeit sich ergeben, wie der vom Gegner aufgestellte Satz. Nach diesen verschiedenen Richtungen kann nun auch eine falsche Widerlegung über etwas aufgestellt werden. Manche lassen etwas von dem, was verhandelt worden, weg und gelangen so zu dem Schein einer Widerlegung; wie z.B. dass ein und dasselbe ein Doppeltes und nicht ein Doppeltes sei; denn die Zwei ist das Doppelte von der Eins, aber nicht das Doppelte von der Drei; oder dass ein und dasselbe das Doppelte und nicht das Doppelte von sich selbst sei. Dies gilt indess nicht für dieselbe Eigenschaft; denn es ist wohl das Doppelte in der Länge, aber nicht in der Breite. Oder wenn die Widerlegung zwar denselben Gegenstand und in derselben Beziehung und in gleichem Sinne betrifft, aber nicht für dieselbe Zeit; deshalb ist sie nur eine scheinbare Widerlegung. Man könnte diese Art der Widerlegungen wohl auch zu denen rechnen, welche sich auf die Ausdrucksweise stützen.

Die sophistischen Widerlegungen, welche den erst zu beweisenden Satz bei ihrem Schlusse schon als einen bewiesenen ansetzen, können eben so und so vielfach geschehen, wie dieser Fehler überhaupt geschehen kann. Der Schein der Widerlegung entsteht dadurch, dass man nicht übersehen kann, was dasselbe ist und was verschieden ist.

Die sophistischen Widerlegungen, welche sich auf das Beifolgende stützen, erfolgen, weil man meint, dass das Beifolgende oder Ausgesagte sich auch umkehren lasse. Wenn nämlich, im Fall das Eine ist, nothwendig auch das Andere ist, so meint man, dass wenn Letzteres ist, nothwendig auch das Erstere sei. Daher kommen auch die Irrthümer in den Meinungen, welche sich auf Sinneswahrnehmungen stützen; denn man hat schon oft die Galle für Honig gehalten, weil die gelbe Farbe auch mit dem Honig verbunden ist; ebenso meint man, dass weil die Erde, wenn es regnet, feucht wird, es auch, wenn die Erde feucht ist, geregnet habe. Allein dies ist nicht nothwendig. Auch von den rednerischen Begründungen[9] gehören die Beweise, welche sich auf Zeichen stützen, zu denen, die das Beifolgende benutzen. Wenn sie z.B. beweisen wollten, dass der Betreffende ein Ehebrecher sei, so benutzten sie das Beifolgende, nämlich dass er ein Stutzer sei, oder dass man ihn des Nachts hat herumstreichen sehen. Indess findet sich dergleichen bei Vielen, aber deshalb sind sie keine Ehebrecher. Aehnliches findet sich auch bei den Beweisen durch Schlüsse, wie z.B. bei dem Ausspruch des Melissos, dass das All unbegrenzt sei. Er nahm an, dass das All ungeworden sei (weil aus dem Nicht-Seienden nichts entstehen könne), das Gewordene aber habe einen Anfang gehabt; sei also das All nicht geworden, so habe es auch keinen Anfang, also sei es unbegrenzt. – Allein dies folgt nicht nothwendig; denn wenn auch alles Gewordene einen Anfang hat, so ist doch nicht Alles, was einen Anfang hat, geworden, und zwar so wenig, wie, wenn der Fiebernde warm ist, nothwendig der Warme fiebern muss.

Die Widerlegungen, welche einen Nicht-Grund als einen Grund benutzen, geschehen, wenn der Nicht-Grund so hinzugenommen wird, als wenn mittelst dessen die Widerlegung zu Stande gekommen sei. Dergleichen kommt bei den auf das Unmögliche führenden Schlüssen vor, da man bei ihnen einen der Vordersätze als falsch darlegen muss. Wenn also zu den Fragen, welche für den unmöglichen Schlusssatz nothwendig sind, auch etwas mit hinzugenommen wird, so wird es oft scheinen, als habe die Widerlegung auf Grund dieses Zusatzes sich ergeben, wie z.B., wenn die Widerlegung zeigen will, dass die Seele und das Leben nicht dasselbe sei, und sie dies so folgert: Wenn das Entstehen das Gegentheil des Untergehens ist und ein bestimmtes Entstehen das Gegentheil eines bestimmten Untergehens; und wenn der Tod ein bestimmtes Untergehen und das Gegentheil von Leben ist, so folgt, dass das Leben ein Entstehen und Leben gleich Entstehen ist. Da dies aber unmöglich ist, so ist auch die Seele und das Leben nicht dasselbe. – Allein dies ist kein richtiger Beweis, denn jener unmögliche Schlusssatz ergiebt sich auch dann, wenn man das Leben nicht für dasselbe mit der Seele erklärt, da nur das Leben das Gegentheil vom Tode, als einem Untergehen ist, und das Entstehen das Gegentheil vom Untergehen. Dergleichen[10] Begründungen sind also nicht überhaupt logisch unrichtig, aber wohl in Bezug auf den vorliegenden Satz. Der gleichen wird selbst von den Fragenden oft nicht bemerkt.

Dieser Art sind also die Begründungen, welche sich auf das Mitfolgende und auf eine Nicht-Ursache stützen; die Widerlegungen aber, welche sich darauf stützen, dass mehrere Fragen zu einer gemacht werden, entstehen dann, wenn der Gefragte dieses Mehrere nicht bemerkt und als wäre nur Eines gefragt, auch nur eine Antwort giebt. In manchen Fällen lässt sich leicht ersehen, dass es mehrere Fragen sind und dass deshalb keine Antwort darauf zu geben ist, z.B. auf die Frage, ob die Erde das Meer sei, oder der Himmel? In anderen Fällen ist dies weniger ersichtlich, und der Gefragte gilt dann, wie bei Fragen, die nur Eines betreffen, wenn er nicht antwortet, als einer, der einverstanden ist, oder er wird scheinbar widerlegt; so z.B. bei der Frage: Ist dieser und jener ein Mensch? Wird dies bejaht, so folgert der Sophist, dass wenn jemand diesen und jenen schlägt, er einen Menschen und nicht die Menschen schlage. Ferner: Wenn von Mehreren Einiges gut, Anderes nicht gut ist, ist da Alles gut oder nicht gut? Welches von beiden man hier auch antwortet, immer lässt sich daraus eine Widerlegung oder etwas Falsches scheinbar ableiten; denn sagt man, dass von den Nicht-guten Einiges gut sei, oder von den Guten Einiges nicht-gut, so ist das falsch, oder wenn man etwa noch der Antwort etwas hinzufügt, so kann sogar eine wahre Widerlegung sich ergeben; wie z.B. wenn jemand zugiebt, dass in gleicher Weise Eines und Vieles weiss, und nackend und blind genannt werde; weil, wenn ein Blindes das ist, was kein Gesicht hat, obgleich es nach seiner Natur es haben müsste, auch mehrere Blinde die seien, welche kein Gesicht, haben, obgleich sie es nach ihrer Natur haben müssten. Also sagt der Sophist, werden, wenn Eines ein Gesicht hat, das Andere aber nicht, beide entweder Sehende, oder Blinde sein, was doch unmöglich ist.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 7-11.
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