Viertes Kapitel

[4] Die Widerlegung kann der Sophist auf zweierlei Art erreichen; die eine stützt sich auf die Ausdrucksweise, die andere benutzt dieses Mittel nicht. Der Mittel, wo durch die Ausdrucksweise der Schein einer Widerlegung gewonnen wird, sind sechs an Zahl; nämlich die Gleichnamigkeit, die Zweideutigkeit, die Verbindung, die Trennung, die Betonung und die Form der Rede. Die Richtigkeit dieser Aufzählung lässt sich sowohl induktiv, wie durch Schlüsse beweisen, wenn irgend ein besonderer Fall herbeigenommen wird. Desgleichen dadurch, dass man nur auf so viele Arten mit denselben Worten und Reden Verschiedenes ausdrücken kann.

Die Gleichnamigkeit wird in solchen Reden benutzt, wie z.B. dass die Wissenden lernen, denn die Schüler lernen das auswendig Hergesagte; das Lernen bezeichnet nämlich zweierlei; einmal das Einsehen, indem von dem Gewussten Gebrauch gemacht wird, und zweitens das Erwerben des Wissens. Ferner, dass das Uebel das Gute ist; wenn das, was sein muss, ist gut, und das Uebel muss sein. Das »muss« bezeichnet nämlich zweierlei; einmal das Nothwendige, was bei den Uebeln sehr oft vorkommt (denn manches Uebel ist nothwendig), und zweitens sagt man auch von dem Guten, dass es geschehen muss. Ferner gehören hierher die Reden, dass Sitzen und Stehen dasselbe sei; ebenso Krank- und Gesund-sein; denn wer aufsteht, steht, und wer gesund geworden, ist gesund, aufstehen könne aber nur der Sitzende und gesund werden nur der Kranke.[4]

Hier bezeichnet der Ausdruck, dass der Kranke irgend etwas thue oder erleide, nicht immer dasselbe, sondern bald, dass der jetzt Kranke oder Sitzende etwas thue oder erleide, bald derjenige, der vorher krank gewesen ist. Allerdings sind beide, der krank Seiende und der Kranke geheilt worden, aber gesund ist nicht der krank Seiende, sondern der Kranke, nämlich der nicht jetzt, sondern Vorher-Kranke.

Die Zweideutigkeit wird in solchen Reden benutzt, wie z.B.: Lass mich die Feinde ergreifen. Ferner: Was einer erkennt, erkennt das? Denn in diesem Satze kann das »erkennt« sowohl auf die erkennende Person, wie auf den erkannten Gegenstand bezogen werden. Ferner: Was einer sieht, sieht das? Nun sieht er die Säule, also sieht die Säule. Ferner: Also was Du sagst, es sei, das sagst Du zu sein? Nun sagst Du, der Stein sei, also sagst Du, dass Du ein Stein seiest. Ferner kann der Schweigende sprechen? Denn das »der Schweigende kann sprechen« bedeutet zweierlei, einmal, dass der Sprechende schweigt und zweitens, das der Vortrag schweigt.

Es giebt sonach drei Weisen, in denen die Gleichnamigkeit und die Zweideutigkeit benutzt werden kann; die eine ist die, wo die Rede oder das Wort im eigentlichen Sinne Mehreres bedeutet; z.B. das Wort Adler oder Hund; zweitens wenn man so zu sprechen gewöhnt ist; drittens, wenn Worte verbunden Mehreres bedeuten getrennt aber nur eine Bedeutung haben, wie z.B. das Buchstabenwissen; denn hier bezeichnet jedes dieser Worte getrennt nur Eines, aber beide zusammen Mehreres; nämlich einmal, dass die Buchstaben selbst ein Wissen haben, und zweitens, dass ein Anderer das Wissen von ihnen hat.

Die Gleichnamigkeit und die Zweideutigkeit stützt sich also auf diese Wendungen; auf der Verbindung beruhen dagegen folgende Fälle, z.B. dass der Sitzende zu gehen und der Nicht-Schreibende zu schreiben vermöge. Hier bedeutet es nicht dasselbe, ob man getrennt oder verbunden aussagt, dass der Sitzende zu gehen und der Nicht-Schreibende zu schreiben vermöge; denn man kann diese Worte auch so verbinden, dass der Nicht-Schreibende[5] schreibe und sie bedeuten dann, dass derselbe, während er nicht schreibt, schreibe. Verbindet man aber die Worte nicht in dieser Art, so bedeuten sie, dass jemand, auch wenn er nicht schreibt, doch das Vermögen zu schreiben habe. Ferner: Er lernt jetzt die Wissenschaften, da er lernte, was er weiss. Ferner, dass der, welcher nur Eines tragen kann, Vieles tragen kann.

Die Trennung wird benutzt, wenn man z.B. sagt: Die Fünf ist zwei und drei, also ist die Fünf gerade und ungerade. Ferner: Das Grössere ist gleich; denn es ist eben so viel und noch etwas dazu. Dieselbe Rede bedeutet nämlich getrennt nicht immer dasselbe, wie verbunden, so: durch mich ist der Freie der Knecht geworden; und: der göttliche Achilleus liess der fünfhundert Männer hundert.

Die Benutzung der Betonung kann bei mündlichen Erörterungen nicht leicht geschehen, wohl aber in Schriften und Gedichten. So berichtigen Manche auch den Homer, wenn ihm vorgeworfen wird, dass er Verkehrtes spreche mit den Worten: »Wie vom Regen verfaulende Baumstämme«, indem sie dies durch die Betonung verbessern und aus dem »wie« ein »nie« machen. Ebenso ist es bei der Stelle, welche den Traum des Agamemnon betrifft, weil Zeus gesagt: Gieb ihm, was er zu haben sich wünscht, indem Zeus nämlich nicht selbst gesagt habe: Wir geben, was er gebeten, sondern dem Traumgotte es zu geben aufgetragen habe. So verhält es sich also mit der Betonung.

In der Form des Ausdruckes kann die Widerlegung geschehen, wenn Verschiedenes in gleicher Weise sprachlich ausgedrückt wird; z.B. wenn das Männliche weiblich und das Weibliche männlich ausgedrückt wird; oder wenn dies mit dem zwischen beiden Stehenden so geschieht und wenn weiter dass Beschaffene als ein Grosses, oder das Grosse als ein Beschaffenes, oder das Bewirkende wie ein Erleidendes, oder ein Zustand wie ein Wirken, oder sonst in einer Weise, wie es früher gesondert worden, bezeichnet wird; denn es kommt vor, dass etwas, was kein Thätiges ist, wie ein Thätiges in der Sprache behandelt wird, so wird z.B. das Gesunden in sprachlichem Ausdruck wie das Schneiden und das Hausbauen behandelt, obgleich[6] jenes eine Beschaffenheit oder ein gewisses Verhalten bezeichnet und dieses ein Thun. Ebenso verhält es sich in den übrigen hierher gehörenden Fällen.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 4-7.
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