Dreiundzwanzigstes Kapitel

[47] Nachdem dies dargelegt worden, erhellt, dass, wenn dieselbe eine Bestimmung in zweien Dingen enthalten ist, z.B. wenn A in C und in D enthalten ist und das eine von diesen beiden letzteren von dem andern entweder gar nicht oder nur beschränkt ausgesagt werden kann, dass dann jene Bestimmung, wie A, diesen beiden nicht immer in Bezug auf etwas Gemeinsames zukommen wird. So ist z.B. in dem gleichseitigen und in dem ungleichseitigen Dreieck die Bestimmung, dass ihre Winkel zweien rechten gleich sind, vermöge Etwas, beiden Dreiecken Gemeinsamen enthalten; denn sie wohnt ihnen als gewissen Figuren inne, und nicht insofern sie etwas Anderes sind. Allein dies verhält sich nicht immer so. So soll z.B. B es sein, vermöge welches A in C und D enthalten ist. Wäre nun dies immer der Fall, so ist klar, dass dann auch B in C und D vermöge einer engern gemeinsamen Bestimmung enthalten sein müsste und dass diese andere gemeinsame Bestimmung wieder vermöge einer dritten darin enthalten wäre; mithin würden zwischen zwei äussern Begriffen eine endlose Zahl von Mittelbegriffen sich einschieben, was doch un möglich ist. Deshalb ist es nicht nothwendig, dass ein und dieselbe Bestimmung mehreren Dingen immer vermöge eines ihnen Gemeinsamen einwohne, denn es giebt auch unvermittelte Sätze. Jedoch müssen die Begriffe zu derselben Gattung[47] gehören und aus denselben unvermittelten obersten Grundsätzen ableitbar sein, wenn das ihnen Gemeinsame zu den ihnen an-sich zukommenden Bestimmungen gehören soll; denn die Beweissätze dürfen nicht aus einer Gattung in die andern übergehen.

Es ist auch klar, dass wenn A in B enthalten ist, dies bewiesen werden kann, wenn ein Mittelbegriff zwischen beiden vorhanden ist. Diese Mittelbegriffe sind die Elemente und solcher Elemente sind so viel als Mittelbegriffe vorhanden; denn die unvermittelten Sätze sind die Elemente des Beweises und zwar sind sie es entweder alle oder doch die allgemein lautenden. Ist aber für den Satz A B kein Mittelbegriff vorhanden, so kann er auch nicht bewiesen werden, sondern man gelangt zu ihm auf dem Wege, auf dem überhaupt die obersten Grundsätze gewonnen werden.

Dasselbe gilt, wenn A von B verneint wird. Ist hier ein Mittelbegriff oder ein früherer Begriff vorhanden, in dem A nicht enthalten ist, so kann der Satz bewiesen werden; wo nicht, so kann dies nicht geschehen, vielmehr sind dann solche Begriffe die obersten und die Elemente und zwar sind deren so viele, als solche Begriffe vorhanden sind, weil die aus ihnen gebildeten Sätze die obersten Grundsätze des Beweises bilden. So wie eine Anzahl von unbeweisbaren Grundsätzen dahin lauten, dass Etwas Dieses sei und dass Etwas in Diesem enthalten sei, so lauten eine Anzahl anderer dahin, dass Etwas nicht Dieses und dass Etwas nicht in Diesem enthalten sei; es giebt daher sowohl Grundsätze für das Sein, wie für das Nicht-sein von Etwas.

Wenn etwas bewiesen werden soll, so muss man den Begriff nehmen, welcher von dem Unterbegriff B am nächsten ausgesagt wird; es sei z.B. C ein solcher und von C wieder A ein solcher. Wenn man immer so vorschreitet, so wird man bei dem Beweise niemals von Aussen einen Begriff oder eine in A enthaltene Bestimmung in Ansatz bringen, sondern immer den Mittelbegriff zwischen A und C aufnehmen, bis man zu einem Satze gelangt, der nicht weiter theilbar und ein einfacher ist; und dies ist dann der Fall, wenn kein Mittelbegriff mehr sich einschiebt und der damit gebildete Vordersatz einfach und unvermittelt ist. So wie nun in andern Dingen[48] der Anfang einfach ist, aber nicht in allen dasselbe, sondern bei dem Gewicht die Mine, bei der Melodie der Viertelston, und so weiter in andern Dingen ein anderes, so ist bei dem Schlüsse der unvermittelte Vordersatz dies Eine und bei dem Beweise und der Wissenschaft ist es die Vernunft.

Bei den Schlüssen, womit ein bejahender Satz bewiesen wird, kommt sonach kein Mittelbegriff von Aussen hinzu; bei den verneinenden Schlüssen kommt zu den in der Mitte stehenden Begriff auch kein Begriff von Aussen hinzu; z.B. wenn A in dem B vermittelst des C nicht enthalten ist. Denn wenn C in dem ganzen B, aber A in keinem C enthalten ist, so würde, damit A in keinem C enthalten ist, wieder ein Mittelbegriff zwischen A und C zu setzen sein und man würde immer so fortfahren müssen. Soll man aber beweisen, dass D dem E nicht zukomme, weil C in dem ganzen D enthalten ist und in keinem E, oder in einigen E nicht enthalten ist, so wird der Mittelbegriff niemals ausserhalb E herbeizunehmen sein und dieses E ist es, in dem D nicht enthalten sein soll. Bei der dritten Schlussfigur wird der Mittelbegriff niemals, weder ausserhalb des Begriffes der etwas verneint, noch ausserhalb dessen, von welchem etwas verneint wird, zu nehmen sein.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 47-49.
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