Vierundzwanzigstes Kapitel

[49] Da der Beweis bald für einen allgemeinen bald für einen beschränkten Satz geführt wird, und bald für einen bejahenden und bald für einen verneinenden Satz, so entsteht die Frage, welcher von diesen Beweisen der bessere sei; auch über den direkten und den in das Unmögliche führenden Beweis kann die gleiche Frage sich erheben.

Ich werde in dieser Hinsicht zunächst den allgemein und den beschränkt geführten Beweis in Betracht nehmen und wenn hierüber Klarheit erreicht worden, werde ich über den direkten und den Unmöglichkeits-Beweis sprechen.

Wenn jemand hierüber nachdenkt, so kann ihm leicht der beschränkt lautende Beweis als der bessere gelten; denn da derjenige Beweis der bessere ist, der zu einem[49] Mehr-Wissen führt (denn darin besteht der Werth des Beweises) und da man jedwedes mehr weiss, wenn man es in Bezug auf es selbst und nicht in Bezug auf ein anderes weiss, wie man z.B. von dem Musiker Koriskos mehr weiss, wenn man weiss, dass Koriskos ein Musiker ist, als wenn man weiss, dass dieser Mensch, ohne ihn bestimmter zu kennen, musikalisch ist, so gilt dies auch in andern Fällen. Nun geht aber der allgemeine Beweis nur auf etwas Anderes, nicht auf das Eigentliche, z.B. dass das gleichseitige Dreieck nicht als solches, sondern als Dreieck überhaupt zwei rechte Winkel enthält; dagegen geht der beschränkte Beweis auf den Gegenstand selbst. Ist nun das Wissen des Gegenstandes selbst das bessere und ist das Wissen von Beschränktem mehr, wie das allgemeine Wissen von solcher Art, so wird auch der beschränkte Beweis der bessere sein. Da ferner das Allgemeine nicht etwas neben den Einzelnen ist, aber der Beweis desselben die Meinung beibringt, dass das, was bewiesen wird, etwas für sich sei und dass eine bestimmte Natur in dem so bewiesenen enthalten sei, z.B. dass das allgemeine Dreieck neben den einzelnen Dreiecken und die allgemeine Gestalt neben den einzelnen Gestalten und die allgemeine Zahl neben den einzelnen Zahlen bestehe, und da der Beweis für ein Seiendes besser ist, als für ein Nicht-Seiendes, und der Beweis besser, durch den man nicht getäuscht wird, als der, durch welchen dies geschieht und da der allgemeine Beweis der letztern Art ist (denn bei Führung dieses Beweises geht man, wie bei dem eines Aehnlichen vor, also dass das, was so beschaffen, also, was zwar weder Linie, noch Zahl, noch Körper, noch Fläche, doch etwas Aehnliches neben diesen sei); also, wenn der allgemeine Beweis mehr von solcher Art ist, und über das Seiende weniger Wissen gewährt, als der beschränkte Beweis und wenn er auch zu einer falschen Meinung führt, so dürfte der allgemeine Beweis wohl schlechter sein, als der beschränkte.

Aber zunächst gilt dieser letztere Grund nicht weniger für das Allgemeine wie für das Einzelne. Denn wenn die zwei rechten Winkel der Gestalt einwohnen, nicht insofern sie eine gleichseitige ist, sondern insofern sie ein Dreieck ist, so weiss der, welcher den Satz nur[50] von dem gleichseitigen Dreieck weiss, weniger von der Sache selbst, als der, welcher weiss, dass der Satz für das Dreieck gilt. Ueberhaupt aber wird es kein Beweis sein, wenn derselbe nicht darauf gestützt wird, dass der Satz von dem Dreieck als solchem gelte; wird er aber darauf gestützt, so weiss derjenige mehr, welcher das Einzelne vermöge seines in dem Allgemeinen Enthaltenseins kennt. Und wenn der Begriff des Dreiecks von vielen Dreiecken gilt, aber dabei sein Begriff derselbe bleibt und das Wort: Dreieck nicht für verschiedene Begriffe gebraucht wird, und wenn in jedem Dreieck die Winkel zweien rechten gleich sind, so hat das Dreieck nicht als gleichschenkliches, sondern das gleichschenkliche hat als Dreieck dergleichen Winkel. Deshalb weiss der, welcher das Allgemeine weiss, mehr, wie es sich verhält, als der, welcher nur den Satz in beschränkter Weise weiss, deshalb ist der allgemeine Beweis besser als der beschränkte. Wenn ferner ein Begriff einer ist und das Allgemeine nicht in doppelsinniger Weise gebraucht wird, so wird er wohl nicht weniger als diejenigen Mehreren, welche von dem beschränktem Begriff befasst werden, sondern er wird selbst mehr sein, da in dem Allgemeinen das unvergängliche enthalten ist, aber in dem Beschränktem und Einzelnen mehr das Vergängliche. Auch ist gar keine Nothwendigkeit vorhanden, dass man annehmen müsse, das Allgemeine sei etwas für sich neben den Einzelnen; man ist dazu hier nicht mehr genöthigt, wie bei allem anderen, was kein einzelnes Ding bezeichnet, sondern eine Beschaffenheit, oder eine Beziehung, oder ein Thun. Geschieht es dennoch, so ist nicht der Beweis daran schuld, sondern der Zuhörer.

Da ferner der Beweis ein Schluss ist, welcher den Grund und das Warum darlegt, so ist das Allgemeine mehr begründend, denn so weit ihm Etwas als ein An-sich einwohnt, ist es sich selbst der Grund dass ihm dasselbe einwohnt; das Allgemeine ist aber das erste, mithin enthält es den Grund, und deshalb ist auch ein allgemeiner Beweis der bessere; denn er giebt mehr den Grund und das Warum für den Gegenstand an. Auch sucht man das Warum soweit und glaubt es erst dann zu wissen, wenn der Grund sich nicht mehr darauf stützt, dass ein Anderes, als er selbst, werde oder bestehe; denn[51] das Ziel und das äusserste Ende ist von dieser Art. So frägt jemand: Weshalb ist er gegangen? und man antwortet: Um Geld zu empfangen; und dies geschah, um zu bezahlen, was er schuldig war, und dies sollte geschehen, damit er nicht unrecht handle. Wenn man so weiter schreitet, bis etwas erreicht ist, was nicht mehr für ein Anderes, oder um eines Andern willen geschieht, so sagt man, dass er deshalb, als des Zieles wegen gegangen sei, oder dass deshalb etwas bestehe oder geworden sei, und man weiss dann am meisten, weshalb er gegangen ist. Da es sich nun ebenso mit allen Gründen und mit dem Weshalb verhält und da man da, wo man vermittelst der Gründe und des Weshalb, etwas weiss, ein grösseres Wissen hat, so wird man auch von andern Dingen dann am meisten wissen, wenn man weiss, dass es nicht mehr durch ein Anderes bedingt besteht. Wenn man also weiss, dass die drei Aussenwinkel eines Dreiecks zusammen vier rechten Winkeln gleich sein, weil das Dreieck gleichschenklich ist, so bleibt auch die Frage, weshalb dies bei der gleichschenklichen Gestalt stattfinde, und es ergiebt sich als Grund, weil es ein Dreieck ist, und für dieses ergiebt sich als Grund, weil es eine geradlinige Figur ist. Wenn für diesen Grund nun nicht wieder etwas Anderes als Grund besteht, so weiss man dann am meisten und man weiss dann ein Allgemeines; mithin ist der allgemeine Beweis der bessere.

Ferner geräth der Beweis, je mehr er ein beschränkter wird, desto mehr in das Endlose, während der allgemeine Beweis zu dem Einfachen und Begrenzten führt. Nun ist aber Etwas als Endloses nicht wissbar, als Begrenztes aber ist es wissbar; mithin ist etwas, als Allgemeines mehr wissbar, wie als Beschränktes; mithin ist auch das Allgemeine mehr beweisbar, und was mehr beweisbar ist, davon ist auch der Beweis ein stärkerer; denn das mit einander Gehende nimmt auch mit einander und gleichzeitig zu. Mithin ist der allgemeine Beweis besser, weil er mehr beweist. Auch ist derjenige Beweis vorzüglicher, vermöge dessen man Dieses und Anderes weiss, als der, vermöge dessen man nur Dieses weiss; nun weiss aber der, welcher das Allgemeine kennt, auch das Besondere, aber wer nur dieses kennt, weiss nicht das Allgemeine. Also ist auch deshalb der allgemeine Beweis[52] vorzüglicher. Ferner auch deshalb, weil der allgemeine Beweis mehr ein Beweis durch einen Mittelbegriff ist, welcher dem obersten Grundsätze näher steht. Am nächsten steht nun der unvermittelte Satz, dies ist aber der oberste Grundsatz. Wenn nun der Beweis aus dem obersten Grundsatz genauer ist, als der, welcher nicht aus demselben geführt wird, so wird auch der Beweis aus Sätzen, die dem obersten Grundsatz näher stehen, genauer sein, als der aus entfernteren. Nun ist aber der allgemeine Beweis mehr aus solchen nähern Sätzen gebildet und deshalb auch der bessere. Wenn man z.B. zeigen sollte, dass A von dem D gelte und die Mittelbegriffe dafür B und C wären, so wäre B der höhere Begriff und deshalb der darauf gestützte Beweis mehr ein allgemeiner.

Manches von dem hier Gesagten beruht auf allgemeinen Gesichtspunkten; indess erhellt, der höhere Werth des allgemeinen Beweises am meisten daraus, dass wenn man von den Vordersätzen den obern kennt, man auch gewissermaassen den Untersatz kennt und ihn dem Vermögen nach weiss. Wenn z.B. jemand weiss, dass die Winkel in jedem Dreieck zweien rechten gleich sind, so weiss er auch gewissermaassen und dem Vermögen nach, dass das Gleichschenkliche zusammen zwei rechte Winkel enthält, wenn er auch nicht wirklich weiss, dass das Gleichschenkliche ein Dreieck ist. Dagegen weiss der, welcher nur diesen Satz weiss, das Allgemeine keineswegs, weder dem Vermögen, noch der Wirklichkeit nach. Auch ist der allgemeine Beweis ein gedachter, aber der beschränkte Satz läuft auf die Sinneswahrnehmung hinaus.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 49-53.
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