Einunddreissigstes Kapitel

[58] Auch durch die Sinne kann ein solches Wissen nicht erlangt werden; denn wenn auch der Sinn auf die[58] Beschaffenheit und nicht blos auf das Einzelne geht, so muss doch das Wahrnehmen dieses Einzelnen und seinen Ort und sein Jetzt auffassen; aber das Allgemeine und bei Allen Geltende kann man nicht wahrnehmen; denn es ist kein Dieses und kein Jetzt, sonst wäre es kein Allgemeines, da man nur das, was immer oder überall gilt, allgemein nennt. Da nun die Beweise das Allgemeine bieten und dies nicht wahrnehmbar ist, so erhellt, dass ein Wissen durch die Sinne nicht erlangt wird. Ja selbst wenn man wahrnehmen könnte, dass das Dreieck in seinen Winkeln zusammen zweien rechten gleich sei, so verlangte man doch einen Beweis dafür und hätte vorher noch kein Wissen, wie Einige behaupten; denn das Wahrnehmen erfasst nur das Einzelne, das Wissen aber beruht auf der Kenntniss des Allgemeinen. Wenn man daher auch auf dem Monde wäre und sähe, wie die Erde das Sonnenlicht versperrt, so würde man doch nicht die Ursache der Mondfinsterniss wissen, denn man würde nur wahrnehmen, dass jetzt das Sonnenlicht ausbleibt, aber nicht warum überhaupt, denn das Allgemeine kann nicht wahrgenommen werden. Wenn man indess dieses Ereigniss oft betrachtete, und damit das Allgemeine ausspürte, so würde man den Beweis gewinnen; denn wenn das Einzelne sich oft wiederholt, so wird das Allgemeine offenbar. Das Allgemeine ist werthvoller, weil es die Ursache offenbart und deshalb ist das allgemeine Wissen solcher Dinge, deren Ursache in einem Andern enthalten ist, werthvoller, als die sinnliche Wahrnehmung derselben oder das Denken derselben; doch verhält es sich mit den obersten Grundsätzen anders.

Hiernach ist klar, dass man durch Wahrnehmen unmöglich das Wissen des Beweisbaren erlangt, man müsste denn ein Wahrnehmen es nennen, wenn man das Wissen auf Grund von Beweisen hat. Indess beruht allerdings bei den zu lösenden Aufgaben Manches auf dem Mangel der Wahrnehmung. Denn wenn man nach dem Sehen von Manchen verlangt, so geschieht es nicht, als wenn man durch das Sehen das Wissen erlangen könnte, sondern weil man aus dem Sehen das Allgemeine gewinnt. Wenn man z.B. auch die Poren des Glases und den Durchgang des Lichtes sehen könnte, so wäre damit[59] zwar offenbar, weshalb Etwas austrocknet, aber doch nur vermittelst des Sehens der besonderen einzelnen Fälle und vermittelst des gleichzeitigen Denkens, dass es sich so in allen Fällen verhalte.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 58-60.
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