Zweiunddreissigstes Kapitel

[60] Dass nun für alle Schlüsse die obersten Grundsätze unmöglich dieselben sein können, ergiebt sich zunächst aus allgemeinen Betrachtungen. Denn von den Schlüssen sind die einen wahr, die andern falsch; und man kann zwar aus Falschem Wahres folgern, allein dies geschieht nur einmal, nehmlich wenn A von C richtig ausgesagt wird, aber der Mittelbegriff falsch ist; denn dann ist A weder in B, noch B in C enthalten. Wenn man aber dann von diesen falschen Vordersätzen deren Mittelbegriffe aussagt, so werden sich diese Vordersätze als falsche erweisen, weil jeder falsche Schlusssatz nur aus falschen Vordersätzen abgeleitet werden kann, wie umgekehrt aus wahren Vordersätzen nur wahre abzuleiten sind; deshalb sind die obersten Grundsätze für das Falsche und für das Wahre verschieden. Auch können die falschen Schlusssätze nicht immer aus den ihnen zugehörigen falschen obersten Grundsätze abgeleitet werden; denn es giebt auch Falsches, was einander entgegengesetzt ist und nicht zugleich sein kann, wie z.B. dass die Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit sei, oder dass sie die Feigheit sei; ferner, dass der Mensch ein Pferd oder ein Stier sei; oder dass von dem einander Gleichen das Eine grösser oder kleiner als das Andere sei.

Aber auch aus dem unmittelbar Vorliegenden lässt sich dies beweisen, weil selbst bei den wahren Schlüssen die obersten Grundsätze nicht für alle dieselben sein können, da sie bei vielen der Gattung nach verschieden sind und nicht zu einander passen, wie z.B. die Einsen zu den Punkten nicht passen, da jene ohne Zusatz sind, aber diese einen Zusatz enthalten, während zu dem Schlusse nothwendig gehört, dass die äusseren Begriffe entweder von Oben oder von Unten zu dem Mittelbegriffe passen, oder dass die Begriffe, welche den Aussenbegriffen[60] von oben oder von unten beigefügt werden, zu denselben passen.

Aber selbst unter den gemeinsamen obersten Grundsätzen können keine solchen sein, aus denen alles bewiesen werden könnte. Ich verstehe hier unter »gemeinsamen« solche, wie z.B. dass Alles von einem Gegenstande entweder bejaht oder verneint werden könne. Denn die Gattungen des Seienden sind verschieden; manche Grundsätze gelten nur für Grössen, manche nur für Beschaffenheiten, mit welchen dann durch die gemeinsamen Grundsätze der Beweis geführt wird. Auch sind der Obersätze nicht viel weniger, als der Schlussfolgerungen. Denn auf den Vordersätzen beruht der Schluss und die Vordersätze entstehen, indem entweder ein Begriff hinzugenommen oder zwischen sie eingeschoben wird. Ferner ist die Zahl der Schlussfolgerungen ohne Ende, während die Begriffe dies nicht sind. Ferner sind die Sätze, mit welchen man den Beweis beginnt, theils nothwendige, theils nur statthafte.

Bei solchen Erwägungen erscheint es als unmöglich, dass die obersten Grundsätze nur in beschränkter Zahl bestehen sollten, wenn die Schlussfolgerungen zahllos sind. Wenn man aber diesem in der Weise entgegentreten wollte, dass von diesen Grundsätzen diese der Geometrie, jene der Logik, und jene der Arzneikunst u.s.w. angehörten, so würde ein solcher Einwand doch anerkennen, dass oberste Grundsätze der Wissenschaften bestehen; und es wäre lächerlich, sie für identisch zu erklären, weil sie mit sich selbst identisch seien; denn auf diese Weise würde Alles zu ein und demselben. Ebenso kann man nicht meinen, dass Alles beliebige aus allem bewiesen werden könne; denn dies wäre die Behauptung, dass für Alles dieselben obersten Grundsätze beständen, was sehr unverständig wäre. Dies geschieht weder in den allbekannten mathematischen Beweisen, noch zeigt es sich, wenn man die Schlüsse auflöst; denn die unvermittelten Vordersätze sind oberste Grundsätze und der Schlusssatz erhält einen andern Inhalt, indem ein zweiter unvermittelter Vordersatz hinzugenommen wird. Wenn aber Jemand sagte, dass diese unvermittelten ersten Vordersätze eben oberste Grundsätze seien, so ist doch dann einer in jeder Gattung vorhanden. Wenn man[61] sonach nicht jedwedes aus jedem obersten Grundsätze, so wie es sich gehört, beweisen kann, und wenn diese Grundsätze auch nicht in der Art verschieden sein sollen, dass für jede Wissenschaft nur verschiedene bestehen, so bliebe nur übrig, dass die obersten Grundsätze von allen Wissenschaften mit einander verwandt wären, aber dabei aus diesen dies, aus jenen jenes bewiesen würde.

Allein auch dies ist offenbar nicht statthaft; denn ich habe gezeigt, dass für die der Gattung nach verschiedenen Gegenstände auch die obersten Grundsätze der Gattung nach verschieden sind. Denn diese Grundsätze sind von zweierlei Art, theils solche, aus denen bewiesen wird, theils solche, welche die Gegenstände betreffen, um die es sich handelt; erstere sind gemeinsame, letztere aber jeder Gattung eigenthümlich, wie z.B. der Zahl, der Grösse u.s.w.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 60-62.
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