Dreiunddreissigstes Kapitel

[62] Das Wissbare und die Wissenschaft sind von dem Gemeinten und der Meinung verschieden, weil die Wissenschaft das Allgemeine und Nothwendige zum Gegenstande hat und das Nothwendige sich nicht auch anders verhalten kann. Nun giebt es zwar auch Wahres und Seiendes was sich anders verhalten kann; aber hiervon kann es offenbar keine Wissenschaft geben, denn dann müsste das, was sich auch anders verhalten kann, unmöglich sich anders verhalten können. Aber auch die Vernunft hat es nicht mit Solchem zu thun, denn Vernunft, behaupte ich, ist der Anfang der Wissenschaft. Auch ist die Wissenschaft kein unbeweisbares Wissen, welches in der Annahme unvermittelter Sätze besteht. Nun ist sowohl die Vernunft, wie die Wissenschaft, und die Meinung und das auf sie Gestützte wahr; und so bleibt nur übrig, dass die Meinung solches Wahre oder Falsche betrifft, was sich auch anders verhalten kann. Ein solches ist nun die Annahme eines unvermittelten, aber nicht nothwendigen Vordersatzes. Auch stimmt dies mit der Erfahrung, denn die Meinung ist unbeständig und ihre Natur ist solcher Art. Ueberdem glaubt Niemand, dass er nur etwas meine, wenn er[62] glaubt, dass es sich nicht anders verhalten könne, sondern dann hält er dies für ein Wissen. Glaubt er aber, dass Etwas sich zwar so verhalte wie er es sich vorstellt, dass es aber nichtsdestoweniger sich auch anders verhalten könnte, so hält er dies für ein Meinen; so dass also die Meinung solche Dinge, die Wissenschaft aber das Nothwendige betrifft.

Wie kann man nun dasselbe meinen und wissen und weshalb ist die Meinung kein Wissen, wenn jemand behauptete, dass alles, was er wisse, auch gemeint werden könne? Sowohl der Wissende, wie der Meinende wird dann seine Ansicht durch Mittelbegriffe begründen, bis er zu unvermittelten Sätzen gelangt; wenn also jener ein Wissen hat, so wird auch der Meinende ein Wissen haben. Denn wie das Wissen, geht auch das Meinen auf das Dass und auf das Warum und das Warum ist der Mittelbegriff. Oder sollte sich die Sache nicht vielmehr so verhalten, dass, wenn man dasjenige, was sich nicht anders verhalten kann, so besitzt, wie die Definitionen, durch welche die Beweise geführt werden, man nicht meinen, sondern wissen wird? Wenn man dagegen zwar das Wahre trifft, aber nicht weiss, dass es den Dingen nach ihrem Wesen und ihrem Begriffe zukommt, so wird man zwar eine wahre Meinung, aber kein Wissen haben, und zwar wird die Meinung dann sowohl das Dass wie das Warum enthalten, sofern dieselbe das unvermittelte mit befasst; ist dies aber nicht der Fall, so wird die Meinung nur das Dass befassen.

Ueberhaupt geht die Meinung und das Wissen nicht durchaus auf dasselbe, sondern nur in der Weise, wie auch das Falsche und das Wahre gewissermaassen dasselbe betreffen. Denn wenn die wahre und die falsche Meinung, wie Einige sagen, dasselbe beträfe, so ergäben sich widersinnige Folgen, insbesondere auch, dass der, welcher eine falsche Meinung hat, gar nicht meint. Denn da das »Dasselbe« in verschiedenem Sinne gebraucht wird, so kann die falsche Meinung sowohl eine Meinung sein, als auch nicht. So ist z.B. die Meinung, welche als wahr annimmt, dass der Durchmesser mit den Seiten des Quadrats ein gemeinsames Maass habe widersinnig; allein da der Durchmesser, auf den die Meinung geht, derselbe ist, wie bei dem Wissen, so betreffen[63] beide in diesem Sinne dasselbe, aber in Betreff des wesentlichen Was, dem Begriffe nach, nicht dasselbe. In diesem Sinne bezieht sich also das Wissen und die Meinung auf dasselbe; aber das Wissen z.B. von dem Geschöpfe ist der Art, dass das Geschöpf unmöglich kein Geschöpf sein kann; aber bei der Meinung kann es auch kein Geschöpf sein. Es ist ebenso, als wenn das Wissen einen Menschen als solchen befasst, das Meinen aber zwar einen Menschen befasst, aber nicht als Menschen; denn darin, dass ein Mensch ist, befassen beide dasselbe, aber nicht wiefern er als Mensch befasst ist.

Hieraus erhellt, dass man nicht dasselbe zugleich meinen und wissen kann; denn dann nähme man an, dass dasselbe sich zugleich anders und auch nicht anders verhalten könnte, was unmöglich ist. In einer gewissen Beziehung kann allerdings beides dasselbe sein, wie ich gesagt habe, aber an sich selbst ist dies nicht möglich; denn man würde dann z.B. zugleich annehmen, dass etwas Mensch sei als Geschöpf, (denn dies war der Sinn davon, dass der Mensch unmöglich ein Nicht-Geschöpf sein könne) und Mensch nicht als Geschöpf; letzteres bezeichnet aber die fehlende Nothwendigkeit.

Die Frage, wie man das sonst hier Vorhandne dann denken, oder der Vernunft, oder der Wissenschaft, oder der Kunst, oder der Klugheit, oder der Weisheit zuweisen soll, gehört mehr zur Naturwissenschaft und zur Wissenschaft des Sittlichen.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 62-64.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Organon
Philosophische Bibliothek, Bd.13, Sophistische Widerlegungen (Organon VI)
Organon Band 2. Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck. Griechisch - Deutsch
Das Organon (German Edition)