Neuntes Kapitel

[17] Da somit erhellt, dass Jedwedes nur aus seinen obersten Grundsätzen bewiesen werden kann, sofern das Bewiesene in dem Gegenstande als solchem enthalten ist, so ist dieses Wissen dann noch nicht vorhanden, wenn es auch aus wahren und unbeweisbaren oder unvermittelten Sätzen bewiesen worden ist. Dies wäre nur ein Beweis, wie der, welchen Bryson für die Quadratur des Kreises führte; denn solche Sätze dienen als Beweis für das Gemeinsame mehrerer Gebiete, was also auch in andern Dingen enthalten ist. Deshalb passen solche Beweise auch auf andere, nicht verwandte Dinge und deshalb weiss man den Gegenstand nicht als solchen, sondern nur nach nebensächlichen Bestimmungen, da sonst der Beweis nicht auch für eine andere Gattung von Dingen passen würde.

Man weiss nehmlich darum einen Gegenstand nicht blos in Bezug auf seine nebensächlichen Bestimmungen, wenn man ihn in Bezug auf jenes, was sein Ansich ist, aus den obersten Grundsätzen, welche für ihn als solche gelten, erkennt; z.B. wenn man die Eigenschaft, Winkel zu haben, welche zweien rechten gleich sind, bei dem Gegenstande, dem diese Eigenschaft an sich zukommt, aus den für ihn geltenden obersten Grundsätzen weiss. Mithin muss, wenn diese Bestimmung dem Gegenstande ansich einwohnt, der Mittelbegriff nothwendig aus demselben verwandten Gebiete genommen sein, und ist dies nicht der Fall, so müssen sich die obersten Grundsätze doch so verhalten, wie bei den, durch die Zahlenlehre innerhalb der Harmonielehre geschehenden Beweisen. In solchem Falle wird der Beweis zwar ebenso geführt, aber es ist doch ein Unterschied vorhanden; denn das Dass gehört hier einer anderen Wissenschaft an (denn das zu Grunde liegende Gebiet ist ein anderes) aber das Warum gehört der höheren Wissenschaft an, zu deren Ansich die betreffenden Bestimmungen gehören. Also auch aus diesen Fällen erhellt, dass jedwedes vollständig nur aus seinen eigenen obersten Grundsätzen bewiesen werden kann; diese obersten Grundsätze befassen nur hier ein beiden Wissenschaften gemeinsames Gebiet.[18]

Ist dies nun klar, so erhellt auch, dass die eigenthümlichen obersten Grundsätze eines jeden Gebietes nicht bewiesen werden können; und diese obersten Grundsätze bilden zusammen die Grundsätze für Alles und die Wissenschaft dieser obersten Grundsätze ist die oberste von allen. Denn der, welcher etwas aus höheren Grundsätzen weiss, weiss es in höherem Grade; denn er weiss es aus Früherem, wenn er es aus Gründen weiss, die selbst nicht mehr begründet sind. Wenn also ein solcher in höherem Grade oder am meisten als ein Wissender gelten muss, so wird auch jene Wissenschaft die höchste sein und die, welche am meisten das Wissen gewährt. Der Beweis kann also nicht auf Dinge einer anderen Gattung ausgedehnt werden, als nur so, wie es mit den geometrischen Beweisen für die Mechanik oder Optik, und mit den arithmetischen Beweisen für die Harmonielehre angegebener Maassen geschehen kann.

Es ist indess schwer zu erkennen, ob man etwas weiss oder nicht, da es schwer zu erkennen ist, ob man Etwas aus dessen eigenthümlichen Grundsätzen weiss oder nicht, während doch nur im ersten Falle ein volles Wissen vorhanden ist. Man glaubt zwar schon zu wissen, wenn der Satz aus wahren und obersten Grundsätzen gefolgert ist; allein dies genügt nicht, vielmehr muss der Satz mit den obersten Grundsätzen auch zu ein und demselben Gebiete gehören.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 17-19.
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