Zehntes Kapitel

[19] Ich nenne aber oberste Grundsätze eines Gebietes die, bei denen man das: Dass sie sind, nicht beweisen kann. Was nun die obersten Grundsätze und das daraus Abgeleitete bedeuten, wird offenbar angenommen; dass sie aber die Wahrheit enthalten, muss bei den obersten Grundsätzen ebenfalls angenommen werden, während das Uebrige bewiesen werden muss. So wird vorausgesetzt was die Eins und was das Gerade und das Dreieck bedeuten; auch muss man annehmen, dass die Eins und die Grösse sind; alles andere aber wird bewiesen.

Die obersten Grundsätze, deren man sich in den beweisenden Wissenschaften bedient, sind theils der betreffenden[19] Wissenschaft eigenthümlich, theils sind es gemeinsame und zwar gemeinsame vermöge einer Aehnlichkeit, da dies in so weit geschehen kann, als der Satz zu einem Gebiete gehört, welches unter der betreffenden Wissenschaft steht. Ein eigenthümlicher Satz ist z.B. der, welcher besagt, was die Linie oder das Gerade sei; ein gemeinsamer Satz aber ist z.B. der, dass wenn man Gleiches von Gleichem abzieht, Gleiches übrig bleibt. Ein jeder Grundsatz kann benutzt werden, so weit er zu dem gemeinsamen Gebiete gehört; denn er wirkt dann dasselbe, auch wenn er nicht in seiner vollen Allgemeinheit genommen wird, sondern blos von den Grössen und in der Arithmetik nur von den Zahlen ausgesagt wird.

Es giebt auch eigenthümliche oberste Begriffe, deren Dasein man annimmt, und von welchen die Wissenschaft das ihnen an sich Zukommende betrachtet; so z.B. die Arithmetik das der Eins Zukommende und die Geometrie das dem Punkte und der Linie Zukommende; denn von diesen nimmt man nicht blos ihr Sein, sondern auch ihr So beschaffen sein an. Was die, solchen Dingen an sieh zugehörigen Bestimmungen bedeuten, wird zwar ebenfalls vorausgesetzt, z.B. in der Arithmetik das, was das Urgerade und Gerade oder was eine Quadrat- oder eine Kubikzahl ist, und in der Geometrie das, was kein gemeinsames Maass hat, was gekrümmt, oder was das Zusammentreffen von Linien ist; aber dass diese Bestimmungen wahr sind, wird aus den gemeinsamen Grundsätzen und aus dem, was schon vorher bewiesen worden, dargelegt. Auch mit der Sternkunde verhält es sich so.

Denn jede beweisende Wissenschaft hat es mit Dreierlei zu thun; mit dem, was als seiend angenommen wird (dies ist die Gattung, von welcher sie die, ihr an sich zukommende Bestimmungen untersucht), sodann mit den sogenannten gemeinsamen Grundsätzen, aus denen, als den Ersten, die Beweise geführt werden, und drittens mit den, der Gattung zukommenden Bestimmungen, bei denen sie das, was eine jede bedeutet, ohne Beweis annimmt. Indess kommt es vor, dass einzelne Wissenschaften ein oder den andern dieser Punkte übergehn; so wird z.B. nicht als Satz aufgestellt, dass die Gattung[20] bestehe, wenn dies klar ist (denn es ist z.B. nicht in gleicher Weise klar, dass es Zahlen giebt wie dass es Warmes und Kaltes giebt) oder man giebt nicht an, was die zukommenden Bestimmungen bedeuten, wenn dies bekannt ist; auch die Bedeutung gemeinsamer Grundsätze wird nicht erklärt, wie z.B. dass, wenn man Gleiches von Gleichem nimmt, Gleiches bleibt, weil dies bekannt ist. Dessenungeachtet handelt es sich von Natur um diese drei Punkte, erstens um den Gegenstand, welchen der Beweis betrifft, dann um das, was bewiesen wird und drittens um das, durch welches es bewiesen wird.

Sätze, welche nothwendig durch sich selbst sind und nothwendig so aufgefasst werden, sind keine Voraussetzungen und keine Forderungen; denn der Beweis bezieht sich nicht auf die äusserliche Rede oder den äusserlichen Beweis, sondern auf die Gedanken in der Rede und dies gilt auch von dem Schlusse; denn man kann gegen die äusserliche Rede immer Einwendungen erheben, aber nicht immer gegen den inneren Gedanken.

Wenn man nun Sätze, die an sich bewiesen werden können, aufstellt, ohne ihren Beweis zu führen, so sind dies Voraussetzungen, wenn sie dem Lernenden als glaubwürdig erscheinen; sie sind dann keine Voraussetzungen schlechthin, sondern nur in Bezug auf den Lernenden; wenn aber ein Satz aufgestellt wird, für den die Meinung nicht spricht oder der gegen die Meinung läuft, so ist dies eine Forderung. Hierdurch unterscheiden sich die Voraussetzungen von den Forderungen; letztere sind Sätze, die der Meinung des Lernenden zuwider sind, oder Sätze, die man als bewiesene aufstellt und gebraucht, ohne sie bewiesen zu haben.

Die blosen Begriffe sind keine Voraussetzungen (denn sie sagen weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind), vielmehr sind die Voraussetzungen in den Sätzen enthalten. Die Begriffe braucht man nur zu verstehen, was keine Voraussetzung ist, so wenig wie man das Hören eine Voraussetzung nennen wird. So weit aber die Begriffe wirklich bestehen, bildet sich der Schluss durch das Sein derselben. Auch setzt der Geometer nicht Falsches voraus, wie Manche behaupten, welche verlangen,[21] dass man von dem Falschen keinen Gebrauch machen dürfe, während doch der Geometer dies thue, wenn er sage, dass eine Linie einen Fuss lang sei, obgleich sie nicht so lang ist oder dass die gezogene Linie gerade sei, obgleich sie es nicht ist. Allein der Geometer folgert dieses nicht daraus, dass die Linie, die er gezogen hat, so beschaffen sei, sondern weil das mit dieser Linie Angedeutete so beschaffen ist. – Auch sind alle Voraussetzungen und Forderungen entweder allgemein oder beschränkt, während die Begriffe keines von Beiden sind.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 19-22.
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