Elftes Kapitel

[22] Dass es nun Ideen oder ein besonderes Eines neben den vielen Einzelnen geben müsse, wenn ein Beweis zu Stande kommen solle, ist nicht nothwendig; aber richtig ist es, dass Eines in Bezug auf die vielen Einzelnen sein muss, denn das Allgemeine kann ohnedem nicht sein; und wenn es kein Allgemeines giebt, so giebt es auch kein Mittleres, also auch keinen Beweis. Es muss also Ein- und Dasselbe an Mehreren geben, und zwar nicht blos dem Worte, sondern der Sache nach.

Der Satz, dass es nicht möglich ist, Dasselbe zugleich zu bejahen und zu verneinen, wird in keinem Beweise benutzt; wenn aber derselbe zum Beweise benutzt werden sollte, so wird auch der Schlusssatz so lauten. Bei Beweis geschieht in diesem Falle so, dass die Aussage des Oberbegriffs von dem Mittelbegriff wahr sei und die Verneinung unwahr; dagegen macht es keinen Unterschied, ob man den Mittelbegriff und ebenso den Unterbegriff als bejahend und zugleich als verneinend setzt, denn wenn nur der Obersatz zugegeben wird, wonach man in Wahrheit den Menschen ein Geschöpf nennen kann, mag es selbst wahr sein, dass auch der Nicht-Mensch ein Geschöpf sei, also wenn nur wahr ist, dass der Mensch ein Geschöpf und nicht ein Nicht-Geschöpf ist, so wird Kallias, auch wenn Nicht-Kallias ein Geschöpf ist, doch ein Geschöpf sein und kein Nicht-Geschöpf. Der Grund davon ist, dass der Oberbegriff nicht blos von dem Mittleren, sondern auch von noch andern Dingen[22] ausgesagt wird, weil er in Mehreren als blos in dem Mittleren des betreffenden Schlusses enthalten ist; deshalb macht es für den Schlusssatz keinen Unterschied, ob das Mittlere dieses und daneben auch nicht-dieses ist.

Der Satz, wonach jedwedes von einem Gegenstande entweder bejaht oder verneint werden muss, wird bei dem Unmöglichkeitsbeweise benutzt, aber auch hier geschieht es nicht immer, sondern nur so weit es genügt; was der Fall ist, wenn es für die betreffende Gattung genügt. Unter »betreffende Gattung« verstehe ich die Gattung, innerhalb welcher der Beweis geführt wird, wie ich schon früher bemerkt habe.

Alle Wissenschaften haben in Bezug auf die gemeinsamen obersten Grundsätze etwas mit einander gemein. Ich nenne gemeinsame Grundsätze die, deren man sich bedient, um den Beweis daraus zu führen, wo aber das, worüber der Beweis geführt wird, und das, was bewiesen wird, nicht auch als ein gemeinsames anzusehen ist. Auch die Dialektik ist allen Wissenschaften gemeinsam, und ebenso würde es ein Gemeinsames sein, wenn jemand versuchte, diese gemeinsamen obersten Grundsätze zu beweisen, z.B. der Satz, dass jedwedes von einem Gegenstande entweder bejaht oder verneint werden könne, oder dass, wenn man Gleiches von Gleichem nimmt, Gleiches bleibe und ähnliche solche Sätze. Die Dialektik ist aber nicht so auf einzelne Sätze oder ein einzelnes Gebiet beschränkt, sonst würde der Dialektiker sich nicht der Fragen bedienen; denn wenn man beweisen will, kann man sich nicht der dialektischen Fragen bedienen, weil der Beweis nicht dadurch geführt werden kann, dass das Entgegengesetzte nicht wahr sei, wie dies von mir in der Lehre von den Schlüssen dargelegt worden ist.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 22-23.
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