Zwölftes Kapitel

[23] Wenn die behufs eines Schlusses erhobene Frage dasselbe ist, wie der entgegengesetzte Vordersatz, und wenn Vordersätze in jeder Wissenschaft diejenigen sind, aus denen ein auf diese Wissenschaft sich beziehender Schluss gezogen werden kann, so wird eine wissenschaftliche[23] Frage die sein, aus welcher ein, der betreffenden. Wissenschaft eigenthümlichen Schluss gezogen werden kann. Deshalb kann nicht jede Frage eine geometrische oder eine medicinische oder die sonst einer besondern Wissenschaft angehörige sein, sondern nur diejenigen sind es, aus welchen etwas bewiesen wird, worüber z.B. die Geometrie handelt, oder aus denen etwas mittelst der Geometrie bewiesen wird, wie z.B. optische Fragen. Das Gleiche gilt für die andern Wissenschaften. Ueber solche Fragen muss also aus geometrischen Grundsätzen und Schlusssätzen Rechenschaft gegeben werden; aber über diese Grundsätze selbst hat der Geometer als solcher keine Rechenschaft zu geben und dies gilt auch für die andern Wissenschaften. Man kann also nicht an jedem der eine Wissenschaft inne hat, jedwede Frage stellen, noch kann jedwede über Beliebiges aufgestellte Frage von ihm beantwortet werden, sondern die Fragen sind nach den Wissenschaften zu unterscheiden. Wenn in dieser Weise mit einem Geometer als solchen verhandelt wird so wird offenbar richtig verfahren, wenn daraus etwas bewiesen wird; geschieht dies aber nicht, so wird nicht richtig verhandelt. Wenn im letztem Falle der Geometer auch widerlegt wird, so geschieht dies doch nur nebenbei und man sollte deshalb an Personen, die keine Geometrie verstehen, keine geometrischen Fragen stellen, denn der Befragte wird die falsch gestellte Frage nicht verstehen. Gleiches gilt für die übrigen Wissenschaften.

Wenn es nun geometrische Fragen giebt, giebt es da auch ungeometrische Fragen? Und nach welcher Art von Unwissenheit bei jeder Wissenschaft bestimmt es sich, ob die gestellte Frage z.B. in der Geometrie entweder eine geometrische oder eine ungeometrische ist? Und ist der auf die Unwissenheit sich beziehende Schluss derjenige, welcher aus entgegengesetzten Sätzen abgeleitet wird oder der, welcher zwar ein Fehlschluss ist, aber doch innerhalb der Geometrie sich hält oder der, welcher seine Sätze einer andern Wissenschaft entnimmt? So ist z.B. eine Frage über etwas Musikalisches eine ungeometrische Frage, dagegen ist die Meinung, dass Parallellinien zusammentreffen können, zwar in gewisser Weise eine geometrische, aber in anderer Hinsicht eine ungeometrische Meinung; denn dies Wort ist doppelsinnig[24] gleich dem Unrythmischen; einmal gilt etwas als ungeometrisch, weil es nichts Geometrisches an sich hat, wie das Unrythmische nichts Rythmisches und zweitens wird etwas ungeometrisch genannt, weil das darin enthaltene Geometrische sich falsch verhält. Diese Unwissenheit, welche sich auf solche falsche Sätze stützt, ist das Gegentheil der Wissenschaft. In der Mathematik ist indess der Fehlschluss nicht von dieser Art, weil in andern Wissenschaften die Zweideutigkeit von dem Mittelbegriff herkommt; hier wird dagegen der Oberbegriff von dem ganzen Mittelbegriff ausgesagt und der Mittelbegriff wird er wieder von dem ganzen Unterbegriff, während in den andern Wissenschaften das Ausgesagte nicht in seinem ganzen Umfange ausgesagt wird. Ob nun dies sich wirklich so verhält, kann man in der Mathematik gleichsam mit dem Verstande sehen, während es bei andern Untersuchungen leicht unbemerkt bleibt. So z.B.: Ist jeder Kreis eine Figur? Wird hier der Kreis verzeichnet, so ist es klar, dass er eine Figur ist. Aber wie? ist auch das Heldengedicht ein Kreis? Hier ist wieder klar, dass es kein Kreis ist.

Man darf auch einen Einwurf nicht auf eine Induktion stützen, im Fall ein Vordersatz in dem anzugreifenden Satze sich auf eine Induktion stützt. Denn sowie kein Satz als Vordersatz gelten kann, der nicht von Mehreren gilt (denn er gilt dann auch nicht von Allen, während der Schluss doch einen allgemeinen Obersatz verlangt), so kann auch der Einwurf dann nicht als ein zuverlässiger Vordersatz gelten. Denn die Vordersätze und die Einwürfe müssen gleicher Art sein, da der Satz, der als Einwurf aufgestellt worden, selbst zu einem beweisenden oder dialektischen Vordersatz geeignet sein muss.

Manche verletzen in ihren Reden die Regeln des Schlusses dadurch, dass sie für die beiden äussern Begriffe etwas ihnen beiden Zukommendes als Mittelbegriff aufstellen, wie es z.B. Kaineus thut, indem er folgert, dass das Feuer in geometrischer Proportion zunehme, nämlich, weil das Feuer schnell zunehme, wie er sagt, und weil dies auch von der geometrischen Proportion gelte. Allein dies ist kein richtiger Schluss. Dagegen wäre es ein solcher, wenn die geometrische Proportion in der schnellsten[25] Weise wüchse, und das Feuer in der schnellsten Weise zunähme.

Mitunter kann man aus den angenommenen Vordersätzen keinen Schluss ziehen, mitunter kann es geschehen, aber es wird nicht bemerkt. Wenn es unmöglich wäre, aus falschen Vordersätzen einen wahren Schluss zu ziehen, so könnte man den Fehler leichter darlege, denn dann müssten Schlusssatz und Vordersatz sich gleichmässig umkehren lassen. So soll A als seiend angenommen werden; wenn aber A seiend ist, so ist es auch jenes, von dem ich weiss, dass es ist, z.B. B. Aus diesen Annahmen kann ich dann zeigen, dass auch A ist. Indess findet eine solche Umkehrung der Sätze vornehmlich nur in der Mathematik statt, weil man hier Bestimmungen, die blos nebenbei statt haben, nicht benutzt, sondern nur Definitionen. (Auch dies ergiebt einen weiten Unterschied der mathematischen Methode von der dialektischen).

Das Wissen wird in seinem Inhalte nicht durch Einschiebung von Mittelbegriffe vermehrt, sondern durch Hinzunahme von Unterbegriffen; so dass z.B. A von B gilt und B von C, und dieses wieder von D und so fort ohne Ende. Es kann dies auch schief geschehen, wenn z.B. A sowohl von C wie von E gilt; z.B. jede Zahl ist irgend wie gross oder unbestimmt, welcher Satz mit A bezeichnet werden soll; nun sei die ungerade Zahl überhaupt B, die bestimmte ungerade Zahl C; dann wird A auch von C gelten. Es sei ferner die gerade Zahl überhaupt D und die bestimmte gerade Zahl E; also wird A auch von E gelten.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 23-26.
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