Elftes Kapitel

[81] Da man dann zu wissen glaubt, wenn man die Ursache kennt und es vier Arten von Ursachen giebt, nämlich eine als das wesentliche Was, eine zweite als die, wo wenn Einiges ist, nothwendig sie sein muss; eine dritte, welche zuerst etwas bewegt und eine vierte, weshalb welcher etwas geschieht, so werden alle diese Ursachen durch einen Mittelbegriff dargelegt. Denn dass, wenn Dieses ist, ein Anderes nothwendig sein muss, kann durch Ansatz blos eines Vordersatzes nicht bewiesen werden, vielmehr sind mindestens zwei Vordersätze dazu[81] nöthig und es tritt dies dann ein, wenn beide Sätze denselben einen Mittelbegriff haben. Wird dieser eine angesetzt, so muss der Schlusssatz sich mit Nothwendigkeit ergeben.

Auch erhellt dies in folgender Weise. Es frägt sich, warum ist der Winkel im Halbkreise ein rechter? oder: ist er ein rechter, weil etwas Anderes ist? Nun soll A den rechten Winkel bezeichnen, B die Hälfte von zwei rechten Winkeln, C der Winkel in einem Halbkreis. Dass nun A, der rechte Winkel, in C, dem Winkel im Halbkreise enthalten ist, davon ist B die Ursache; denn B ist dem A gleich und der Winkel C ist dem B gleich, denn B ist die Hälfte von zwei rechten Winkeln. Weil also B die Hälfte von zwei rechten Winkeln ist, deshalb ist A in dem C enthalten; letzteres war aber der Satz, dass im Halbkreise ein rechter Winkel enthalten ist. Dies ist aber dadurch, dass es den Grund bezeichnet, dasselbe mit dem wesentlichen Was des Gegenstandes. Auch ist bereits früher dargelegt worden, dass der Mittelbegriff das wesentliche Was als Ursache ist.

Ferner: Warum wurde gegen die Athener der Persische Krieg geführt? Was war die Ursache, dass die Athener bekriegt wurden? Antwort: Weil sie mit den Eretriern in das Gebiet von Sardes eingefallen waren; denn dies gab den ersten Anstoss. Es sei also A der Krieg, B das erste Einfallen, C seien die Athener. Es ist also das B in C enthalten, d.h. das erste Einfallen ist bei den Athenern und A ist in B enthalten; denn der Krieg wird gegen die geführt, welche zuerst verletzt haben. Das A ist also in B enthalten, d.h. das Bekriegtwerden in denen, die zuerst angefangen haben; dieses aber, das B, ist in C, d.h. in den Athenern enthalten, denn sie haben angefangen. Also ist auch hier der Mittelbegriff die Ursache, als das zuerst Bewegende.

Als Beispiel für die Fälle, wo die Ursache als das, weswegen etwas geschieht, erscheint, nehme man die Frage: Weshalb geht er spazieren? Antwort: Damit er gesund bleibe. Ferner: Weshalb ist dieses Haus? Antwort: Damit das Geräthe darin gesichert sei. Das eine geschieht also, um gesund zu bleiben, das andere, der Sicherung wegen. Die Fragen: Warum man nach der Mahlzeit spazieren gehen solle und weswegen es geschehen[82] solle, sind nicht verschieden. C bedeute also den Spaziergang nach der Mahlzeit; B die gute Verdauung der Speisen; A das Gesundsein. Man nimmt also an, das in dem Spazierengehen nach der Mahlzeit die Wirkung enthalten sei, dass die Speisen nicht nach der obern Oeffnung des Magens aufstossen und dass dies der Gesundheit zuträglich sei; denn es scheint in dem C, dem Spazierengehen, das B, nämlich das Nicht-Aufstossen der Speisen enthalten zu sein und in letzterem A, das Gesundbleiben. Was ist nun die Ursache, dass A als Zweck in dem C enthalten ist? Antwort: Das B, nämlich das Kicht-Aufstossen der Speisen. Dieses B ist gleichsam der Grund von jenem A, denn A wird auf diese Weise erklärt. Aber warum ist B in dem C enthalten? Weil ein solches Verhalten die Gesundheit enthält. Man muss indess die Begriffe umstellen, dann wird jedes deutlicher einleuchten. Hier verhält sich das Warum umgekehrt wie bei der bewegenden Ursache; bei dieser muss das Mittlere zuerst werden; hier aber das letzte Glied, das C, und das Weshalb es geschieht, ist das der Zeit nach letzte.

Ein und Dasselbe kann zugleich das Weswegen oder ein Ziel und auch aus Nothwendigkeit sein; z.B. das Licht, was durch die Laterne dringt; denn das, was aus kleineren Theilen besteht, wandert nothwendig durch die grösseren Poren, das Licht wird also vermittelst seines Hindurchgehens und zugleich geschieht dies um eines Zieles wegen, damit man sich im Dunkeln nicht stosse. Wenn nun Ein und Dasselbe beides sein kann, so kann es auch beides werden. Wenn es z.B. donnert, sobald das Feuer in den Wolken verlöscht, so muss nothwendig ein Knittern und Geräusch entstehen und zugleich kann es, wie die Pythagoräer sagen, geschehen, um den in der Unterwelt Befindlichen zu drohen, damit sie sich fürchten. Das Meiste ist von solcher Art, insbesondere bei den Dingen, welche von Natur verbunden werden oder verbunden sind. Denn die Natur wirkt theils um eines Zieles willen, theils aus Nothwendigkeit. Die Nothwendigkeit ist aber eine zwiefache; die eine entspricht der Natur und dem Triebe, die andere verfährt mit Gewalt und gegen den Trieb. So wird der Stein mit Nothwendigkeit sowohl nach Oben, wie nach Unten getrieben,[83] aber nicht durch dieselbe Nothwendigkeit. Dagegen ist in den Dingen, welche von dem Denken herrühren, ein Theil niemals von selbst entstanden, wie z.B. ein Haus oder eine Bildsäule nicht von selbst entsteht; auch sind sie nicht aus Nothwendigkeit, sondern eines Zweckes wegen gemacht. Anderes kann aber auch zufällig so sein, z.B. die Gesundheit und die Errettung aus einer Gefahr. Am meisten zeigt sich der Zweck bei Dingen, die so oder anders geschehen können, so weit hier nicht der Zufall es zu Stande bringt, so dass also ein guter Zweck das Weswegen bildet sei es durch die Natur, sei es durch Kunst. Durch Zufall kann aber niemals etwas eines Zweckes wegen geschehen.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 81-84.
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