Fünftes Kapitel

[72] Auch durch das Verfahren, wo man einen Gegenstand eintheilt, gelangt man zu keinem Schluss, wie ich bei Untersuchung der Schlussfiguren gesagt habe. Denn aus dem Dasein der Eintheilungsglieder folgt nicht mit Notwendigkeit, dass der Gegenstand ein solcher ist; wie ja auch bei der Induktion kein Beweis geführt wird, denn der Schlusssatz darf nicht eine Frage sein, noch sich auf ein bloses Zugeben stützen, vielmehr muss er gelten, wenn die Vordersätze wahr sind, selbst wenn der Antwortende es nicht zugesteht. So fragt man z.B. bei der Eintheilung: Ist der Mensch ein lebendes Wesen[72] oder leblos? Nimmt man nun ersteres an, so hat man damit doch keine Schlussfolgerung gezogen. Dasselbe gilt wenn man alle Geschöpfe in Land- und Wassergeschöpfe eintheilt, und man den Menschen als ein auf dem Lande lebendes annimmt. Auch wenn man beides zusammennimmt, also den Menschen für ein auf dem Lande lebendes Geschöpf erklärt, so besteht auch hierfür keine Nothwendigkeit, sondern es wird dies nur so angenommen. Nun macht es aber hierbei keinen Unterschied, ob man in viele oder wenige Bestimmungen einen Gegenstand eintheilt; die Sachlage bleibt dieselbe. Dieses Verfahren nützt also denen, welche es anwenden, selbst bei Dingen nichts, die sich beweisen lassen; denn alle diese Bestimmungen können sehr wohl in Bezug auf den Menschen wahr sein, ohne dass doch das Was und das wesentliche Was des Menschen dadurch offenbart wird; auch kann es kommen, dass dabei in Betreff des Wesens des Gegenstandes etwas zugesetzt oder weggelassen oder darüber hinausgegangen wird.

Hierin wird in den meisten Fällen gefehlt; indess kann man eine Lösung erlangen, wenn man alles, was in dem Was des Gegenstandes enthalten ist, ansetzt und dies durch fortgesetzes Eintheilen erreicht; indem man das Oberste sich fordert und dabei sodann nichts auslässt. Es müssen diese Bestimmungen nothwendig die Definition des Gegenstandes enthalten, wenn alles Wesentliche in die Eintheilung aufgenommen und nichts weggelassen wird; und es muss dies die Definition sein, denn man muss dann bis zu dem Untheilbaren gelangt sein.

Indess enthält auch ein solches Verfahren kein Schliessen, wenn es auch die Erkenntniss in einer andern Weise herbeiführt und nicht als widersinnig gelten kann, da ja auch die Induktion wohl nicht beweist und doch etwas erkennen lässt. Aber einen Schluss zieht derjenige nicht, welcher die Definition aus der Eintheilung abnimmt; sondern es verhält sich damit so, wie bei jenen Schlussfolgerungen, wo der Mittelbegriff fehlt. Wenn jemand in solchem Falle behauptet, dass wenn jenes wäre, auch dieses sei, so kann man fragen: Warum? und ebenso verhält es sich mit den Gliedern einer Eintheilung. Was ist z.B. der Mensch? Antwort: ein sterbliches, aufrechtstehendes, zweifüssiges, ungeflügeltes Geschöpf. Hier[73] kann man bei jedem zugesetzten Beiwort fragen: Weshalb? Der Antwortende wird sagen und durch sein Eintheilen dies bewiesen zu haben glauben, weil Alles entweder sterblich oder unsterblich ist. Allein selbst eine vollständige solche Angabe ist keine Definition; und wenn also auch durch die Eintheilung etwas bewiesen würde, so würde doch damit die Definition zu keinem Schluss.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 72-74.
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