Sechstes Capitel

[15] Damit zunächst zusammenhängen möchte die Untersuchung, ob ihrer zwei oder drei oder mehre sind. Denn daß nur Einer sei, ist nicht statthaft, weil nicht Eins die Gegensätze sind. Daß aber unbegrenzte, auch nicht, weil dann nicht erkennbar das Seiende wäre. – Ein Gegensatz nur ist in jeder Gattung enthalten; das Wesen aber bildet Eine Gattung. Uebrigens reichen begrenzte Anfänge hin; und es ist besser, aus begrenzten zu erklären, wie Empedokles, als aus unbegrenzten. Alles nämlich glaubt dieser aus begrenzten erklären zu können, wie Anaxagoras[15] aus unbegrenzten. – Ferner gehen einige Gegensätze anderen voran, und es entstehen einige aus andern; z.B. das Süße und Bittere, und Weiß und Schwarz; die Anfänge aber müssen ewig bleiben. – Daß nun also weder Einer nur, noch unbegrenzte sind, erhellt hieraus. Um nun bei den begrenzten zu bleiben, so hat, nicht zwei nur anzunehmen, seinen Grund. Denn fragen könnte man, wie die Dichtigkeit dazu kommt, auf die Dünne zu wirken, oder diese auf die Dichtigkeit; und gleichergestalt auch jedweder andere Gegensatz. Denn nicht führt die Freundschaft die Feindschaft zusammen und schafft etwas aus ihr, noch die Feindschaft aus jener; sondern beide bedürfen eines dritten. Einige legen noch mehres zum Grunde, um daraus hervorgehn zu lassen die Natur der Dinge. – Hierüber könnte man ferner folgende Frage aufwerfen; wenn man nicht will irgend eine andere Natur den Gegensätzen zum Grunde legen. Bei keinem Dinge erblicken wir Gegensätze des Wesens. Der Anfang aber darf nicht eine anderweite Grundlage voraussetzen; denn dann gäbe es einen Anfang des Anfangs. Die Grundlage nämlich würde Anfang, und früher zu sein scheinen, als das, was dafür gegeben ward. Sodann sagen wir, daß kein Wesen entgegengesetzt sei einem Wesen. Wie nun sollte aus dem, was nicht Wesen ist, ein Wesen werden können? oder wie, was nicht Wesen ist, vor dem Wesen sein? Folglich wer sowohl die vorige Auseinandersetzung für wahr zu halten geneigt ist, als diese, muß notwendig, um beide zu retten, ein drittes zum Grunde legen.

So nun verfahren auch diejenigen, die Ein bestimmtes Wesen für das Ganze ausgeben, z.B. das Wasser, oder das Feuer, oder das Mittlere zwischen diesen. Nichtiger wird wohl das Mittlere genannt; denn Feuer und Erde und Luft und Wasser gehen ja mit der Natur des Gegensatzes in ihre Verflechtungen ein. Darum handeln[16] diejenigen nicht ohne Grund, die das was zum Grunde liegt, zu etwas anderem als diese Wesen machen. Von den Andern am meisten, die die Luft nennen. Denn die Luft hat am wenigsten unter den übrigen sinnlich wahrnehmbare Unterschiede. Ihr zunächst steht das Wasser. Alle indessen lassen dieses Eine durch die Gegensätze sich gestalten: wie durch Dichtigkeit und Dünne, und durch das Mehr und Minder. Dieses aber ist im Allgemeinen Ueberwiegen offenbar und Zurückbleiben, wie zuvor gesagt. Und es scheint alt zu sein auch diese Meinung, daß das Eine, und Ueberwiegen und Zurückbleiben Anfänge der Dinge sind. Wiewohl nicht in derselben Weise; sondern die Alten hielten die zwei für das Thätige, das Eine für das Leidende; von Späteren aber einige umgekehrt, das Eine für das Thätige, die zwei für das Leidende.

Drei Grundwesen also anzunehmen, könnte, wenn man es von dieser und von andern verwandten Seiten betrachtet, einigen Grund zu haben scheinen, wie wir bereits ankündigten. Mehr als drei aber nicht. Denn zu dem Leiden ist hinreichend das Eine. Sollten aber ihrer vier sein, und diese zwei Gegensätze bilden, so entsteht die Nothwendigkeit, daß besonders für jeden derselben ein eigenes Mittelwesen angenommen werde. Wenn aber die Glieder der Gegensätze mit einander gegenseitig zeugen können, so wäre überflüßig der eine der Gegensätze. – Indessen es ist sogar un möglich, daß mehre die ersten Gegensätze sind. Denn das Wesen ist Eine Gattung des Seienden; so daß also nach dem Vor und Nach sich die Anfänge allein unterscheiden können; aber nicht nach der Gattung. Denn stets ist in Einer Gattung Ein Gegensatz. Alle Gegensätze aber scheinen sich zurückzuführen auf Einen. – Daß nun weder Eines das Grundwesen, noch mehr als zwei oder drei sind, ist klar. Von diesen aber welches, unterliegt, wie wir sagten, vielem Zweifel.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 15-17.
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