Siebentes Capitel

[17] So wollen wir denn nun zuvörderst von dem Werden überhaupt handeln. Denn es ist naturgemäß, zuerst das Gemeinschaftliche auszusprechen und so zu der Betrachtung des dem Einzelnen Eigenthümlichen zu schreiten. Wir pflegen zu sagen, daß aus dem einen das andere werde, und aus diesem jenes, und meinen damit theils das Einfache, theils das Zusammengesetzte. Ich meine dieß aber so. Es kann ein Mensch musikalisch werden: es kann aber auch das Nichtmusikalische musikalisch werden, oder der nichtmusikalische Mensch ein musikalischer Mensch. Unter dem Einfachen nun verstehe ich, sofern das Werden von ihm ausgeht, den Menschen und das Nichtmusikalische; sofern es Ziel des Werdens ist, das Musikalische; ein zusammengesetztes Werdende in beider Hinsicht aber ist vorhanden, wenn wir sagen, daß der nicht musikalische Mensch musikalisch, oder ein musikalischer Mensch geworden ist. Hier nun wird in dem einen Falle nicht allein gesagt, daß etwas Bestimmtes, sondern auch daß es aus etwas Bestimmtem wird, wie aus dem Nichtmusikalischen ein Musikalisches; in dem andern aber wird dieß nicht allemal gesagt; denn nicht aus dem Menschen wird der Musikalische, sondern der Mensch wird musikalisch. Von demjenigen Werdenden aber, was wir als einfachen Ausgangpunct des Werdens nannten, bleibt das eine im Werden bestehen, das andere bleibt nicht bestehen. Der Mensch nämlich bleibt, indem er zum musikalischen Menschen wird, oder dieß ist. Das Nichtmusikalische aber und das Unmusikalische bleibt nicht, weder als einfaches, noch in der Zusammensetzung.

Nach diesen Bestimmungen nun ist über das Werdende überhaupt folgendes festzusetzen, wenn man auf das Gesagte zurückblickt. Es muß stets etwas zum Grunde liegen als Werdendes, und dieß, wenn es auch der Zahl[18] nach Eines ist, kann doch der Formbestimmung nach nicht Eins sein. Formbestimmung und Begriff aber nehme ich gleichbedeutend. Es ist nämlich nicht dasselbe, Mensch und unmusikalisch zu sein; das eine bleibt, das andere bleibt nicht. Das nicht Entgegenstehende nämlich bleibt: der Mensch also bleibt; das Musikalische aber und das Unmusikalische bleibt nicht, noch das aus Beiden Zusammengesetzte, wie der unmusikalische Mensch. Aus etwas werden aber, und etwas nicht werden, wird mehr zwar gesagt von dem Nichtbleibenden; z.B. aus einem Unmusikalischen ein Musikalischer werden; aus einem Menschen aber nicht. Doch heißt es bisweilen auch von dem Bleibenden eben so; daß nämlich aus dem Erz eine Bildsäule wird, sagen wir, nicht daß das Erz eine Bildsäule. So auch von dem Werden aus dem Entgegenstehenden und Nichtbleibenden braucht man beide Ausdrücke: aus diesem wird das, und dieß wird das: es heißt nämlich sowohl, aus einem Unmusikalischen wird ein Musikalischer, als, der Unmusikalische wird musikalisch. Darum auch bei den Zusammengesetzten eben so: man sagt sowohl, daß aus dem unmusikalischen Menschen, als daß der unmusikalische Mensch ein musikalischer wird. – Wenn übrigens Werden auf vielfache Weise gesagt wird, und von Einigem nicht Werden schlechthin, sondern ein bestimmtes Werden, Werden schlechthin aber nur von den Wesen; so ist hinsichtlich des übrigen zwar ersichtlich, daß etwas zum Grunde liegen muß, das da wird: denn Größe, Beschaffenheit, Verhältniß, Zeitliches und Räumliches hat ein Werden nur wiefern etwas dabei zum Grunde liegt, weil allein das Wesen ohne anderweite Grundlage besteht, das übrige aber alles nicht ohne das Wesen. Daß aber auch die Wesen, und was sonst noch schlechthin Seiendes ist, aus irgend einer Unterlage sein Werden hat, möchte bei genauerer Betrachtung sich ergeben. Denn stets ist etwas, das zum Grunde liegt, daraus das Werdende[19] wird; so die Pflanzen und die Thiere aus dem Saamen. Es wird aber das schlechthin Werdende, theils durch Umbildung, wie die Bildsäule aus dem Erze, theils durch Zusetzung, wie das Wachsende, theils durch Wegnahme, wie aus dem Steine das Brustbild, theils durch Zusammensetzung, wie das Haus, theils durch Umbildung, wie was sich verändert dem Stoffe nach. Von allem aber was so wird, ist ersichtlich, daß es aus zu Grunde liegendem wird. So daß es klar ist aus dem Gesagten, daß das Werdende alles stets ein zusammengesetztes ist. Es ist etwas, das da wird, es ist aber auch etwas, das da dieses wird; und dieß ist ein zweifaches, das zum Grunde liegende, oder das Entgegenstehende. Ich nenne aber als entgegenstehend, das Unmusikalische, als zum Grunde liegend, den Menschen. Und die Ungestalt, und die Formlosigkeit oder die Unordnung, als Entgegenstehendes, das Erz aber, oder den Stein, oder das Gold, als zum Grunde liegendes. Ersichtlich ist nun, wenn Ursachen und Anfänge der natürlichen Dinge sind, aus denen als ersten sie sind und wurden, nicht nebenbei, sondern jedes so zu sagen seinem Wesen nach; daß sein Werden alles hat aus der Grundlage und der Form. Es besteht nämlich der musikalische Mensch aus dem Menschen und dem Musikalischen, auf gewisse Weise; denn auflösen lassen sich die Begriffe in jene Begriffe. Klar also möchte sein, daß das Werdende wird aus diesem. – Es ist aber das zum Grunde liegende der Zahl nach Eins, der Formbestimmung nach aber zwei. Was gezählt wird, ist nämlich der Mensch und das Gold, und überhaupt der Stoff. Denn dieß ist mehr ein Etwas, und nicht nebenbei wird aus ihm das Werdende. Die Verneinung aber und der Gegensatz gelten für beiläufig. Eins aber ist die Formbestimmung wie die Ordnung, die Musik oder irgend etwas anderes auf diese Weise bezeichnetes. – So kann man denn einerseits für zwei ausgeben die Anfänge, wie z.B.[20] das Musikalische und das Unmusikalische, das Warme und das Kalte, das Geordnete und das Ordnunglose; andererseits aber nicht, indem es unmöglich ist, daß Gegentheile von einander Einwirkungen aufnehmen. Gelöst aber wird auch dieß dadurch, daß das zum Grunde liegende ein anderes ist. Denn dieses ist kein Gegentheil. So daß also weder mehre, als die entgegengesetzten Glieder, die Anfänge gewissermaßen sind, sondern zwei, so zu sagen der Zahl nach; noch wiederum durchaus nur zwei, weil ihnen ein verschiedenes Sein zukommt, sondern drei. Denn ein verschiedenes Sein hat der Mensch und das Nichtmusikalische; das Gestaltlose und das Erz.

Wie viele nun die Anfänge der dem Werden unterworfenen Naturwesen und auf welche Weise sie so viele sind, ist besprochen worden. Und klar ist, daß etwas zum Grunde liegen muß dem Gegensatze; die in diesem Begriffenen aber zwei sind. Auf gewisse Weise kann man dieß umgehen, denn hinreichend sein mag das eine der entgegengesetzten Glieder, durch seine Abwesenheit oder Anwesenheit die Veränderung hervorzubringen. – Das zum Grunde liegende Wesen aber lernt man kennen durch vergleichende Betrachtung. Denn wie zur Bildsäule das Erz, oder zum Stuhle das Holz, oder zu irgend einem andern das Form hat, der Stoff und das Formlose sich verhält, ehe es die Form annimmt, so verhält dieses sich zu dem Wesen, und dem Etwas, und dem Seienden. – Wir können somit Einen Anfang annehmen, der jedoch nicht dergestalt Einer ist, wie das bestimmte Etwas, sondern vielmehr Einer als Begriff. Ihm gegenüber steht die Verneinung. In welchem Sinne nun dieß zwei, und in welchem es mehre sind, ist oben gesagt worden. Zuerst wurde ausgesprochen, daß die Anfänge nur die Gegensätze sind. Hierauf, daß noch ein anderes ihnen zum Grunde liegen muß, und ihrer drei sind. Aus dem jetzt Gesagten aber ist ersichtlich, worin der Unterschied der Gegensätze[21] besteht, und wie sich die Anfänge zu einander verhalten, und was das zum Grunde liegende ist. Ob aber Wesen die Formbestimmung oder die Grundlage sei, ist noch nicht klar. Aber daß die Anfänge drei, und wie sie drei sind, und welche ihre Weise ist, ist klar. – Ueber die Zahl nun und die Beschaffenheit der Anfänge möge diese Betrachtung genügen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 17-22.
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