Achtes Capitel

[44] Anzugeben ist also zuvörderst, wiefern die Natur zu den Endursachen gehört; sodann zu sprechen über das[44] Nothwendige, wie es sich bei dem Natürlichen verhält. Auf diese Ursache nämlich gehen Alle zurück, daß, da das Warme von Natur ein solches ist, und das Kalte, und jedes andere dergleichen, dieß aus Nothwendigkeit ist, geschieht oder wird. Denn wenn sie auch eine andere Ursache angeben, so berühren sie diese gleichsam nur, und verabschieden sie sogleich wieder: der eine die Freundschaft und die Feindschaft, der andere den Gedanken. Es fragt sich aber, was hindert, daß die Natur nicht eines Zweckes wegen thätig sei, oder weil es besser ist; sondern wie wenn der Himmel regnet, nicht damit das Getreide wächst, sondern aus Nothwendigkeit. Das Aufgestiegene nämlich muß gefrieren und das Gefrorne zu Wasser geworden herabfallen; daß aber, wenn dieß geschieht, das Getreide wächst, trifft sich so nebenbei. Gleicherweise auch, wenn jemandem verdirbt das Getreide in der Tenne, so regnet es nicht deshalb, damit es verderbe, sondern dieß traf sich nebenbei. Daher die Frage: Was hindert, daß nicht eben so die Theile sich verhalten in der Natur? Daß z.B. die Zähne aus Nothwendigkeit wachsen, die vordern scharf, geeignet auseinander zu theilen, die Backenzähne breit, und tüchtig zu zerkauen die Speise; nicht deswegen nämlich seien sie entstanden, sondern dieß habe sich so zugetragen. Gleicherweise auch bey den andern Theilen, in welchen scheint statt zu finden das Weswegen. Wo nun alles sich traf, wie wenn es zu einem Zwecke entstanden wäre, da ward gerettet, was von ungefähr sich so passend zusammengefunden hatte; was sich aber nicht so traf, das ging unter, und geht unter, wie Empedokles sagt von dem Kuhgeschlecht mit Menschenantlitz. – Dieses nun ist es, was man einwenden könnte, und vielleicht noch anderes dergleichen. Es kann sich aber dieß nicht auf diese Weise verhalten. Denn dieß und alles, was von Natur ist, geschieht eben entweder so, oder zum meisten; von dem aber, was aus Zufall und von[45] ungefähr ist, nichts. Denn nicht dem Zufall oder irgend einem besonderen Ereigniß schreibt man den häufigen Regen im Winter zu, sondern eher in den Hundstagen; noch die Hitze in den Hundstagen, sondern in dem Winter. Wenn nun entweder ein zufälliges Ereigniß oder ein Zweck die Ursache sein soll, dieß aber nicht, weder aus Zufall noch von ungefähr sein kann, so muß es wohl einen Zweck haben. Aber von Natur ist doch alles dergleichen, wie wohl selbst diejenigen zugeben möchten, die jenes behaupten. Folglich giebt es ein Weswegen in dem, was von Natur geschieht und ist. Ferner worin ein Endziel ist, da wird in Bezug auf dieses gehandelt, sowohl im Beginn als im Fortgang. Sollte nun nicht, was von seiner Thätigkeit, auch von seiner Natur gelten, und ist nicht die Natur, wenn kein Hinderniß eintritt, das Gesetz der Thätigkeit eines Jeden? Die Thätigkeit aber hat einen Zweck, folglich hat auch die Natur diesen Zweck. Z.B. wenn ein Haus zu dem von Natur Entstehenden gehörte, würde es eben so werden, wie jetzt durch die Kunst. Und könnte umgekehrt das Natürliche nicht nur durch Natur, sondern auch durch Kunst entstehen, so würde es eben so werden, wie es von Natur ist. Wegen des Einen also kann das Andere sein. Und überhaupt vollendet die Kunst theils was die Natur nicht zu vollbringen vermag, theils ahmt sie sie nach. Hat nun das der Kunst Angehörige einen Zweck, so hat einen solchen auch das der Natur Angehörige. Denn auf gleiche Weise verhält sich gegenseitig in dem der Kunst und in dem der Natur Angehörigen, das Spätere zu dem Früheren. Am deutlichsten sieht man dieß an den vernunftlosen Thieren, die weder mit Kunst, noch mit Absicht, noch Ueberlegung handeln. Darum zweifeln Einige, ob mit Denkkraft, oder womit sonst ihr Werk verrichten die Spinnen, die Ameisen und ähnliche Thiere. Man gehe nur ein wenig weiter, und man wird auch bei den Pflanzen solchergestalt[46] Zweckmäßiges geschehen finden zu einem Endziel, wie die Blätter zu der Frucht Bedeckung. Wenn also von Natur zugleich und eines Zweckes wegen die Schwalbe ihr Nest macht, und die Spinne ihr Gewebe, und die Pflanze ihre Blätter wegen der Früchte, und die Wurzeln nicht nach oben, sondern nach unten, zum Behuf der Nahrung: so erhellt, daß es eine solche Ursache giebt in dem, was von Natur geschieht und ist. Und da die Natur zwiefach ist, einmal als Stoff, das anderemal als Form; Endziel aber diese, und des Endziels halber das Uebrige: so möchte diese wohl die Ursache des Weswegen sein. Fehler aber fallen vor auch in dem, was nach Kunst geschieht. Denn unrichtig schreiben kann der Sprachlehrer, und unrichtig mischender Arzt das Heilmittel. Warum also sollten sie nicht auch in der Natur vorfallen können? Ist also Einiges durch Kunst, in welchem der Zweck vollständig wirkt, Anderes aber ein Mislungenes, worin der Zweck angestrebt, aber verfehlt wird: so verhält es sich gleichergestalt auch in dem Natürlichen. Und die Misgeburten sind Fehler, begangen in jenem Anstreben, eines Zweckes. Auch in den ursprünglichen Zusammensetzungen würden daher jene halbthierischen Ungestalten, wenn sie nicht zu einer Bestimmung und Ziel kommen konnten, aus der Verderbnis eines Anfangs entstanden sein, wie jetzt des Saamens. Uebrigens muß der Saame zuerst gewesen sein, und nicht sogleich die Thiere; und jene weiche Masse war sonst Saame. Auch in den Pflanzen ist die Zweckbeziehung enthalten, doch weniger ausgebildet. Es fragt sich daher, ob auch in den Pflanzen, wie Kuhgeschlecht mit Menschenantlitz, so Traubenstamm mit Olivenzweig entstand, oder nicht. Dieß klingt wunderlich. Und doch hätte es geschehen müssen, da es auch bei den Thieren geschah. Es hätte ja auch schon in den Saamen der Zufall stattfinden müssen. Ueberhaupt aber läugnet, wer so spricht, alles Sein von Natur[47] und die Natur. Denn von Natur ist, was von einem in ihm selbst enthaltenen Anfange stetig bewegt zu einem Endziele gelangt; und zwar nicht von jedem zu dem nämlichen, oder zu einem zufälligen; doch von jedem einzelnen stets zu dem nämlichen, wenn nichts hindert. Der Zweck und was des Zweckes wegen geschieht, kann wohl auch durch Zufall geschehen, wie man sagt, zufällig kam der Fremde und ging, nachdem er sich gebadet hatte, wenn er nämlich gleich als sei er deswegen gekommen, handelte; nicht aber deswegen kam. Es war hiedurch etwas Beiläufiges ausgedrückt; der Zufall nämlich gehört zu den beiläufigen Ursachen, wie wir auch vorhin sagten. Dafern aber dieß immer oder meistentheils geschieht, so geschieht es nicht nebenbei, noch aus Zufall. In der Natur aber geschieht es immer so, wenn nichts hindert. Sonderbarer aber ist es, nicht glauben zu wollen, daß etwas eines Zweckes wegen geschehe, wenn man nicht das Bewegende überlegen sieht. Auch die Kunst überlegt ja nicht. Denn wäre in dem Holze die Schiffbaukunst enthalten, so würde sie gleichergestalt mit der Natur verfahren. Wenn also in der Kunst der Zweck erhalten ist, so ist er auch in der Natur enthalten. Am deutlichsten sieht man dieß, wenn jemand sich selber heilt. Diesem nämlich gleicht die Natur. – Daß nun also Ursache die Natur und zwar in Gestalt des Zweckes, ist ersichtlich.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 44-48.
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