Neuntes Capitel

[48] Der Begriff des Nothwendigen aber, beruht auf Voraussetzungen, oder ist er ein schlechthin Gegebenes? Zur Zeit nämlich meint man, das Nothwendige habe sein Sein in dem Werden und Geschehen selbst. Wie wenn einer die Mauer aus Nothwendigkeit entstanden meinte, indem das Schwere von Natur nach sich bewege, das Leichte aber, nach oben und außen. Darum sind die[48] Steine unten und was zur Grundlage dient, die Erde oben wegen ihrer Leichtigkeit, am meisten aber nach der Oberfläche das Holzwerk als das Leichteste. – Dessenungeachtet ist sie zwar nicht ohne dieses entstanden, aber auch nicht durch dasselbe, außer dem Stoffe nach, sondern um allerhand zu verbergen und zu erhalten. Gleicherweise auch bei allem Andern, worin das Weswegen vorkommt: nicht ohne das, was die Natur der Nothwendigkeit trägt; aber auch nicht durch dasselbe, außer in Bezug auf den Stoff, sondern eines Zweckes wegen. Z.B. warum ist die Säge so ein Ding? Damit dieß sei, und deswegen. Dieses Weswegen freilich könnte nicht erfolgen, wenn sie nicht eisern wäre. Nothwendig also wird sie eisern sein, wenn die Säge als solche, und ihr Werk bestehen soll. Durch Voraussetzung also ist das Nothwendige, und nicht als Endziel. In dem Stoffe nämlich ist die Nothwendigkeit, der Zweck aber ist in dem Begriffe.

Es ist aber die Nothwendigkeit in dem Mathematischen, und in dem zufolge der Natur geschehenden gewissermaßen auf ähnliche Art. Weil nämlich das Gerade ein solches ist, so muß nothwendig das Dreieck Winkel, gleich zwei rechten, haben. Aber nicht, wenn dieses, so jenes. Sondern vielmehr wenn dieß nicht ist, so giebt es gar kein Gerades. Bei dem aber, was eines Zweckes wegen geschieht, umgekehrt: wenn das Endziel sein soll oder ist, so wird sein oder ist auch das Vorangehende. Und wenn nicht, wie dort bei aufgehobenem Schlusse der Anfang nicht sein kann, so hier das Endziel und der Zweck. Denn Anfang ist auch dieser, nicht der Handlung, aber der Berechnung. Dort aber giebt es nur einen Anfang der Berechnung; denn Handlungen sind nicht.

Soll nun also ein Haus sein, so muß das Erwähnte geschehn oder vorhanden sein oder überhaupt sein, oder überhaupt der Stoff selbst wegen des Zweckes, z.B. Steine und Ziegel, so gewiß ein Haus entsteht. Nicht[49] jedoch durch dieses ist oder wird das Endziel, außer nur dem Stoffe nach. Ueberhaupt indessen kann ohne es weder das Haus sein, noch die Säge, jenes ohne die Steine, diese ohne das Eisen. Denn auch dort sind nicht die Anfänge, wenn nicht das Dreieck zwei Rechte hat. Es ist also ersichtlich, daß die Nothwendigkeit in der Natur als der Stoff und dessen Bewegungen gilt. Und beiderlei Ursachen hat der Naturforscher abzuhandeln; mehr aber das Weswegen. Denn Ursache ist dieses des Stoffes, nicht aber dieser des Endziels. Und das Endziel, das Weswegen, ist auch zugleich der Anfang von der Bestimmung und dem Begriffe. Gleichwie in den Künsten, weil das Haus ein solches Ding ist, nothwendig dieß geschehen und vorhanden sein, und weil die Gesundheit hierin besteht, nothwendig dieß geschehen muß: so auch, wenn der Mensch dieß sein soll, muß jenes sein, und wenn jenes, noch jenes andere. Vielleicht aber auch im Begriffe ist die Nothwendigkeit: indem man nämlich die Handlung des Sägens bestimmt, daß sie eine solche Zerschneidung ist, diese aber nicht statt finden kann, wenn die Säge nicht solche Zähne hat, diese aber wiederum nicht anders als eisern sein können. Denn es giebt auch in dem Begriffe einige Theile als Stoff des Begriffes.[50]

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 48-51.
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