Zweites Capitel

[54] Daß richtig gesprochen worden, erhellt auch theils aus dem, was die Andern über sie sagen, theils daraus, daß es nicht leicht ist, sie anders zu bezeichnen. Denn weder die Bewegung noch die Veränderung könnte man unter eine andere Gattung bringen; und die anders von ihr gesprochen haben, haben nichts Richtiges beigebracht. Dieß ergiebt sich, wenn man untersucht, was Einige aus ihr machen, wenn sie Verschiedenheit und Ungleichheit und das Nichtseiende die Bewegung nennen. Bei welchem Allen eben keine Nothwendigkeit ist, daß es bewegt werde, weder wenn etwas verschieden ist, noch wenn ungleich, noch wenn nicht seiend. Aber auch die Veränderung geht weder in dieses ein, noch von diesem aus mehr als von dem Gegentheil. Der Grund, daß sie sie hierein setzen, ist, daß sie ein Unbestimmtes zu sein scheint, die Bewegung. Die Anfänge aber der einen Hauptreihe sind wegen ihrer verneinenden Natur unbestimmt; und keiner von ihnen ist weder Etwas, noch Beschaffenheit, noch auch unter den übrigen Grundbegriffen. Von dem Scheine aber, daß ein Unbestimmtes sei die Bewegung, ist Ursache, daß von den Gattungen des Seins man weder unter die Möglichkeit, noch unter die Wirklichkeit schlechthin sie setzen kann. Denn weder die mögliche Größe muß nothwendig sich bewegen, noch die wirkliche Größe. Die Bewegung scheint somit zwar eine Wirksamkeit zu sein,[54] aber eine unvollkommene. Ursache ist, daß ein Unvollkommenes ist das Mögliche, dessen Wirksamkeit die Bewegung ist. Und darum ist es schwer auszumachen, was sie ist. Denn entweder unter die Verneinung mußte man sie setzen, oder unter die Möglichkeit, oder unter die Wirksamkeit schlechthin. Hiervon erscheint aber nichts als statthaft. So bleibt denn also die erwähnte Auskunft übrig, daß sie Wirksamkeit zwar sei, eine solche Wirksamkeit aber, wie wir sagten, die schwierig zwar zu erkennen, aber deren Sein doch statthaft ist.

Bewegt aber wird auch das Bewegende, wie gesagt, alles, was der Möglichkeit nach beweglich und dessen Nichtbewegung Ruhe ist. Denn bei welchem die Bewegung stattfindet, bei diesem ist die Nichtbewegung Ruhe. Das Wirken nämlich in Bezug auf dieses, sofern es ein solches, ist das Bewegen selbst. Dieses aber vollbringt es durch Berührung: so daß es zugleich auch leidet. Darum ist Bewegung Wirklichkeit des Beweglichen als Beweglichen. Es geschieht dieses aber durch Berührung dessen, welches die Kraft zur Bewegung hat, oder des Bewegsamen; daher ist das Wirken stets zugleich ein Leiden. Eine Formbestimmung aber wird stets das Bewegende hinzubringen: entweder Etwas, oder Beschaffenheit, oder Größe, welche Anfang und Ursache der Bewegung ist, wenn es bewegt. So macht der wirkliche Mensch aus dem möglichen Menschen einen Menschen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 54-55.
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