Zehntes Capitel

[103] Es reiht sich an das bisher Versprochene, über die Zeit zu handeln. Zuerst nun ist es wohlgethan, Zweifel über sie vorzulegen, nach äußerlicher Begriffbestimmung, ob sie zu dem Seienden gehört zu dem Nichtseienden; sodann welches ihre Natur ist. Daß sie nun überhaupt nicht ist, oder Einschränkungen und Dunkelheiten, könnte man aus Folgendem argwöhnen. Ein Theil nämlich von ihr ist gewesen, und ist nicht, der andere aber wird sein, und ist noch nicht. Hieraus aber besteht sowohl die unbegrenzte, als die stets gesetzte Zeit: was aber aus Nichtseiendem besteht, könnte unfähig scheinen,[103] auf irgend eine Art Theil zu haben am Sein. Ueberdieß ist bei allem Theilbaren, wenn es sein soll, nothwendig daß sobald es ist, entweder einige oder alle Theile sind. Von der Zeit aber ist ein Theil gewesen, der andere wird sein, keiner aber ist; da doch sie theilbar ist. Das Jetzt aber ist nicht Theil. Denn Maß ist der Theil, und bestehen muß das Ganze aus den Theilen: die Zeit aber scheint nicht zu bestehen aus dem Jetzt. Ferner aber auch eben dieses Jetzt, welches erscheint als bestimmend das Vergangen und das Zukünftig, ob es eines und dasselbe immer verbleibt, oder stets ein anderes wird, ist nicht leicht zu sehen. Denn wofern es stets ein anderes und wieder ein anderes ist, kein Theil aber von denen, die in der Zeit sind, mit einem andern zugleich ist, wenn nicht der eine umgiebt, der andere umgeben wird, wie die kleinere Zeit von der größeren, das Jetzt aber, was nicht ist, vorher aber war, irgendwann untergegangen sein muß: so werden auch die Jetzt zugleich mit einander nicht sein, sondern untergegangen muß stets sein das vorhergehende. In sich selbst nun können sie nicht untergegangen sein; weil sie damals waren. Daß aber in einem andern Jetzt untergegangen sei das vorhergehende Jetzt, ist nicht statthaft. Denn es dürfte unmöglich sein, daß stetig mit einander zusammenhängen die Jetzt, gleichwie der Punct mit dem Puncte. Ist es nun in dem unmittelbar angrenzenden nicht untergegangen, sondern in einem andern, so würde es in dem dazwischenliegenden Jetzt, deren unendlich viele sind, zugleich noch sein. Dieß aber ist unmöglich. – Allein auch nicht daß stets dasselbige verbleibe, ist denkbar. Denn nichts was theilbar und begrenzt ist, hat nur Eine Grenze, weder wenn es nach einer Richtung fortlaufend ist, noch wenn nach mehren. Das Jetzt aber ist Grenze, und die Zeit kann man nehmen als begrenzt. – Ferner wenn zugleich zu sein der Zeit nach und weder früher noch später, in dem[104] Nämlichen zu sein, und in dem Jetzt bedeutet, so wäre, wenn das Frühere und das Spätere in diesem Jetzt ist, zugleich das was vor zehntausend Jahren geschah mit dem was heute geschieht; und weder früher noch später ist je eines als das andere. – Ueber das nun was zu dem Begriffe der Zeit gehört, mögen diese Zweifel aufgestellt sein.

Was aber die Zeit ist, und welche Natur sie hat, ist eben so sehr aus dem Ueberlieferten undeutlich, als nach dem, was wir vorher durchgegangen sind. Einige nämlich behaupten, sie sei die Bewegung das All, Andere, die Kugel selbst. Allein von dem Umschwunge ist ja auch der Theil eine Zeit, Umschwung aber nicht: ein Theil nämlich vom Umschwunge, welchen man herausnimmt, aber nicht Umschwung. – Ferner wenn es mehre Himmel gäbe, so müßte auf gleiche Weise die Zeit, eines jeden von diesen Bewegung sein. So gäbe es denn viele Zeiten zugleich. – Die Kugel des All aber konnte denen, die dieß behaupten, als die Zeit erscheinen, weil sowohl in der zeit Alles ist, als auch in der Kugel des All. Es ist aber einfältiger das Erwähnte, als daß man seine Unmöglichkeit besonders in Erwägung ziehn sollte. – Da es aber am meisten für sich hat, daß eine Bewegung sei und Veränderung die Zeit, so wäre dieses zu untersuchen. Die Veränderung und Bewegung eines Dinges nun ist in demjenigen selbst, was sich verändert, allein, oder wo sich befindet das selbst, was sich bewegt und verändert: die Zeit aber auf gleiche Weise auch überall und bei Allem. Ferner ist alle Veränderung schneller oder langsamer; die Zeit aber ist es nicht. Denn das Langsam und Schnell ist durch Zeit bestimmt: schnell nämlich ist, was in wenig Zeit sich viel bewegt; langsam, was in vieler wenig. Die Zeit aber ist nicht bestimmt durch Zeit, noch dadurch, daß sie eine Größe hat, noch daß eine Beschaffenheit. Daß sie nun also nicht Bewegung ist,[105] erhellt. Kein Unterschied sei und aber für jetzt, Bewegung zu sagen oder Veränderung.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 103-106.
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