Eilftes Capitel

[106] Allein auch nicht ohne Veränderung. Wenn nämlich wir selbst keine Veränderung der Gedanken durchgehen, oder ohne es zu bemerken sie durchgehen, so kommt es uns vor, als ob keine Zeit verfließe; wie auch denen, welche in Sardinien, wie die Sage erzählt, schlafen bei den Heroen, wann sie erwachen. Sie knüpfen nämlich das frühere Jetzt an das spätere Jetzt, und lassen weg, weil sie es nicht empfinden, was dazwischen ist. Gleichwie nun, wenn nicht ein verschiedenes wäre das Jetzt, sondern eines und dasselbe, nicht wäre eine Zeit; so auch, weil unbemerkt bleibt die seiende Verschiedenheit, scheint nicht zu sein die Zeit dazwischen. Wenn nun, zu meinen daß keine Zeit sei, dann uns begegnet, wenn wir keine Veränderung bezeichnen, sondern in Einem und Untheilbarem die Seele bleibend erscheint; sobald aber wir sie bemerken und bezeichnen, wir dann sagen, es verfließe eine Zeit: so erhellt, daß nicht ist ohne Bewegung und Veränderung die Zeit. Daß nun also weder Bewegung, noch ohne Bewegung die Zeit ist, erhellt. Wir müssen aber bei unserem Verfahren, da wir nachforschen, was ist die Zeit, davon beginnen, was von der Bewegung sie ist. Denn zugleich Bewegung empfinden wir und Zeit. Auch nämlich wenn es finster ist und wir nichts mittelst des Körpers erfahren, irgend eine Bewegung aber in der Seele ist, so scheint sogleich auch zumal zu verfließen eine Zeit. Allein auch wenn eine Zeit zu verfließen scheint, so zeigt sich zugleich auch, daß eine Bewegung geschieht. Also ist entweder Bewegung, oder von der Bewegung etwas die Zeit. Weil nun nicht Bewegung, muß sie etwas von der Bewegung sein. – Da aber alles was sich bewegt, von[106] etwas zu etwas sich bewegt, und alle zwischen diesen liegende Größe stetig ist, so gilt, was von der Größe, auch von der Bewegung. Weil nämlich die Größe stetig ist, ist auch die Bewegung stetig. Weil aber die Bewegung, auch die Zeit; denn wie groß die Bewegung, für eben so groß gilt auch die verfließende Zeit. Das Vor also und Nach in dem Raume ist das erste; dort aber ist es der Lage nach. Weil es nun an der räumlichen Größe ein Vor und Nach giebt, so giebt es nothwendig auch in der Bewegung ein Vor und Nach, entsprechend dem in jener. Allein auch in der Zeit giebt es ein Vor und Nach, weil stets begleitet eines von ihnen das andere. Es ist aber hier das Vor und Nach in der Bewegung, und indem es ist, ist es Bewegung; sein Sein ist jedoch ein anderes, und nicht Bewegung. Allein auch die Zeit erkennen wir, wenn wir bestimmen die Bewegung dadurch daß wir das Vor und Nach bestimmen. Und dann sagen wir, daß eine Zeit verfließe, wenn wir das Vor und Nach in der Bewegung wahrnehmen. Wir bestimmen sie aber dadurch, daß wir diese als verschieden von einander annehmen, und dazwischen wieder etwas von ihnen verschiedenes. Wenn wir nämlich die Aeußersten verschieden von dem Mittleren denken, und zwei Jetzt die Seele ausspricht, das eine das vorhergehende, das andere das nachfolgende: dann und hievon sagen wir, es sei eine Zeit. Denn was bestimmt ist durch die Jetzt, gilt für Zeit, und mag somit zum Grunde liegen. – Wenn wir nun als Eins das Jetzt wahrnehmen, und nicht entweder als das Vor und Nach in der Bewegung, oder als das nämliche zwar, welches aber ein vorangehendes und ein nachfolgendes hat: so gilt keine Zeit als vorhanden, weil auch keine Bewegung. Wenn aber als das Vor und Nach, dann sprechen wir von Zeit. Dieß nämlich ist die Zeit; Zahl der Bewegung nach dem Vor und Nach. Nicht also ist Bewegung die Zeit; sondern wiefern Zahl hat die Bewegung.[107] Dieß sieht man daran: das Mehr und Minder unterscheiden wir durch Zahl, Bewegung aber die mehre oder mindere, durch Zeit. Eine Zahl also ist die Zeit. Da aber die Zahl ist doppelt; denn sowohl das Gezählte und das Zählbare nennen wir Zahl, als das womit wir zählen: so ist die Zeit, was gezählt wird, und nicht, womit wir zählen. Es ist aber ein anderes, womit wir zählen, und das, was gezählt wird.

Und wie die Bewegung immer eine andere ist, so auch die Zeit. Alle Zeit aber, die zugleich ist, ist die nämliche. Denn das Jetzt ist das nämliche was es immer war, sein Sein aber ist ein verschiedenes. Das Jetzt aber mißt die Zeit, wiefern es vorangehend und nachfolgend ist. – Das Jetzt nun ist gewissermaßen zwar dasselbe, gewissermaßen aber nicht dasselbe. Wiefern es nämlich immer in einem andern ist, ist es ein verschiedenes: hierin aber besteht eben dieß, daß es Jetzt ist. Wiefern es hingehen überhaupt nur ist, dasselbe. Denn es schließt, sich wie bemerkt, an die Bewegung an, an diese aber die Zeit, wie wir sagen. Und auf gleiche Weise an den Punct das Bewegte, woran wir die Bewegung erkennen und das Vorangehende in ihr und das Nachfolgende. Dieß aber ist als seiendes überhaupt, das nämliche: ein Punct nämlich, oder ein Stein, oder etwas anderes dieser Art; dem Begriffe nach aber ein anderes, wie die Grübler es für verschieden ausgeben, Koriskus im Lyceum zu sein, und Koriskus auf dem Markte. Auch dieses wäre also, indem es hier oder dort ist, verschieden. An das Bewegte aber schließt sich das Jetzt an, wie die Zeit an die Bewegung. An dem Bewegten aber erkennen wir das Vor und Nach in der Bewegung. Wiefern nun zählbar ist das Vor und Nach, ist es das Jetzt. Also ist auch in diesem das Jetzt an sich das nämliche; denn es ist das Vor und Nach in Bewegung: sein Sein aber ist ein verschiedenes; denn als zählbar ist das Vor und[108] Nach des Jetzt. Und erkennbar ist vorzüglich dieses; denn auch die Bewegung ist es mittelst des Bewegten, und die Ortveränderung mittelst des den Ort verändernden. Denn ein Wesen ist, was bewegt wird; die Bewegung aber nicht.

Gewissermaßen nun also bedeutet das Jetzt stets dasselbe, gewissermaßen aber nicht dasselbe; denn auch mit dem, was bewegt wird, verhält es sich also. Klar aber ist auch, daß, wenn es keine Zeit gäbe, es kein Jetzt geben würde; wenn aber es kein Jetzt gäbe, es keine Zeit geben würde. Denn zugleich ist, wie das Bewegte und die Bewegung, so auch die Zahl des Bewegten und die der Bewegung. Die Zeit nämlich ist die Zahl der Bewegung; das Jetzt aber ist, wie das Bewegte, gleichsam Einheit der Zahl. – Und sowohl stetig zusammenhängend ist die Zeit mittelst des Jetzt, als auch theilbar nach dem Jetzt. Denn es entspricht auch dieses der Bewegung, und dem was bewegt wird. Auch die Bewegung nämlich und die Ortveränderung ist Eine durch das Bewegte, wiefern dieses Eines, und nicht bloß an sich; denn hier könnten Unterbrechungen sein; sondern im Begriffe. Und es bestimmt dieses das Vor und Nach in der Bewegung. Es entspricht aber auch dieses wohl dem Puncte. Denn auch der Punct hält theils gewissermaßen zusammen die Länge, theils bestimmt er sie; denn er ist von dem einen Anfang, von dem andern Ende. Aber will man ihn so nehmen, daß für zwei gelten soll der Einige, so muß er stillstehen, wenn Anfang und Ende sein soll der nämliche Punct. Das Jetzt aber ist, weil bewegt wird, was den Ort verändert, stets ein anderes. Also ist die Zeit Zahl, nicht als von dem nämlichen Puncte, der sowohl Anfang als Ende wäre, sondern als das Aeußerste der Linie vielmehr, und nicht wie die Theile; wegen dessen was bemerkt ist. Den mittelsten Punct nämlich würde man als zwei betrachten müssen, so daß ein Stillstehen[109] folgen würde. Und übrigens ist ersichtlich, daß auch nicht Theil das Jetzt von der Zeit ist, noch die Theilung der Bewegung. Gleichwie auch nicht die Puncte von der Linie; die Linien hingegen zwei Theile der Einigen sind. – Als Grenze nun also ist das Jetzt nicht Zeit, sondern es ist nur nebenbei. Wiefern aber es zählt, ist es Zahl. Die Grenzen nämlich sind nur in Bezug auf das, von dem sie Grenzen sind; die Zahl hingegen ist sowohl in Bezug auf diese Pferde die Zehn, als auch anderwärts. – Daß nun also die Zeit Zahl der Bewegung ist nach dem Vor und Nach, und eine stetige, denn sie ist es von einem Stetigen, ist ersichtlich.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 106-110.
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