Viertes Capitel

[83] Was denn aber der Raum ist, kann folgendermaßen deutlich werden. Nehmen wir dasjenige von ihm, was da scheint Wahrheit an und für sich ihm zuzukommen. Wir glauben zu wissen, daß der Raum sei zuvörderst das Umgebende von jenem, dessen Ort er ist. Und daß er nichts von dem Dinge sei. Ferner, daß der erste Raum weder kleiner noch größer sei. Ferner, daß er jedem Dinge zwar nicht ausgehe, aber doch trennbar von ihm sei. Hiezu daß aller Raum das Oben und Unten habe. Und daß sich bewege von Natur und verbleibe an seinen eigenthümlichen Orte ein jeder Körper; hieraus aber das Oben und Unten erwachse. Von diesen Voraussetzungen aus ist nun das Uebrige zu betrachten. Es muß aber der Versuch gemacht werden, die Untersuchung so zu führen, daß das Was sich ergebe dergestalt, daß sowohl die Einwürfe sich lösen, als auch, was zukommen soll dem Raume, als wirklich ihm zukommend sich erweise, und dabei die Ursache der Schwierigkeit und der Zweifel über ihn ersichtlich werde. Denn so nur würde am vollkommensten sich alles aufklären.

Zuvörderst nun ist zu bedenken, daß man nicht fragen würde nach dem Raume, wenn es nicht eine Bewegung gäbe in Bezug auf den Raum. Darum nämlich glauben wir hauptsächlich auch den Himmel im Raume, weil er stets in Bewegung ist. Diese aber ist theils Ortveränderung, theils Wachstum und Abnahme. Denn auch bei dem Wachstum und der Abnahme geschieht eine Veränderung, und was vorher hier war, geht über in einen kleineren oder größeren Raum. – Es ist aber das was sich bewegt ein solches, theils an und für sich der[83] That nach, theils nebenbei. Von dem aber was nebenbei sich bewegt, ist einiges fähig, für sich sich zu bewegen, z.B. die Theile des Körpers, und der Nagel in dem Schiffe; anders nicht fähig, sondern stets nur nebenbei, z.B. die weiße Farbe oder die Einsicht. Dieses nämlich kann nur dergestalt den Ort verändern, daß das, worin es gegenwärtig ist, ihn verändert. Nun sagen wir, es sei etwas als in einem Raume in dem Himmel, weil in der Luft, diese aber in dem Himmel. Aber auch in der Luft nicht so, als wäre es in der ganzen, sondern durch das, was an ihm das Aeußerste und Umgebende ist, sagen wir, sei es in der Luft. Denn wäre die ganze Luft sein Ort, so wäre nicht mehr gleich der Ort eines Dinges und das Ding: es soll aber doch gleich sein. Ein solcher aber ist der unmittelbare, worin etwas zunächst ist. Sobald nun nicht abgesondert ist das Umgebende, sondern stetig zusammenhängend, so heißt es nicht darin wie an einem Orte, sondern wie Theil in Ganzem. Sobald es aber abgesondert ist und jenes nur berührend, so ist es unmittelbar in etwas, welches Aeußerstes des Umgebenden und weder Theil ist dessen was in ihm ist, noch größer als der Zwischenraum, sondern gleich. Denn in Einem und demselben ist das Aeußerste dessen was sich berührt. – Und was stetig zusammenhängend ist, bewegt sich nicht in jenem, sondern mit ihm. Was aber abgesondert, in ihm; und ob zugleich sich bewege das Umgebende oder nicht, nichtsdestoweniger. So auch wenn es nicht abgesondert ist, wird es als Theil in einem Ganzen genannt, z.B. als in dem Auge das Sehen, oder in dem Körper die Hand. Wenn aber abgesondert und berührend, als in dem Orte, wie in dem Troge das Wasser, oder in dem thönernen Gefäße der Wein. Die Hand nämlich bewegt sich mit dem Körper, das Wasser aber, in dem Troge.

Was nun ist der Raum, kann man hieraus sehen.[84] Es giebt nämlich vielerlei, wovon der Raum eines sein muß. Entweder nämlich Form, oder Stoff, oder eine Art von Zwischenraum, nämlich der zwischen demjenigen was das Aeußerste ist, oder das Aeußerste selbst, wenn es keinen Zwischenraum giebt außer der Größe des darin enthaltenen Körpers. Daß er nun hievon dreierlei nicht sein kann, ist ersichtlich. Aber wegen seines Umgebens zwar gilt er für die Form. Denn in dem Nämlichen ist das Aeußerste des Umgebenden und des Umgebenen. Es sind nun allerdings beides Begrenzungen; aber nicht des Nämlichen, sondern die Form des Dinges, der Raum aber, des umgebenden Körpers. Darum aber, weil häufig, während das Umgebende bleibt, sich verändert das Umgebene und von jenem getrennte, z.B. Wasser das aus dem Gefäß herausgeht, so erscheint das Dazwischenliegende als ein Zwischenraum, der ein Sein hätte unabhängig von dem Körper, welcher sich entfernt. Dem aber ist nicht so. Sondern es tritt herein welcher Körper sich trifft von denen, welche die Plätze wechseln und zur Berührung geeignet sind. Wäre aber der Zwischenraum etwas wirkliches und an demselben Orte bleibendes, so gäbe es unbegrenzt viele Räume. Denn wechselt das Wasser und die Luft den Platz, so wird dasselbe geschehen mit den Theilen allen in dem Ganzen, wie mit dem gesammten Wasser in dem Gefäße. In Bezug auf sie also muß sich der Ort zugleich mitverändern. So wird es denn also einen Ort des Ortes geben, und viele Räume werden zugleich sein. – Aber es ist nicht ein anderer der Ort des Theils, worin er sich bewegt, wenn das ganze Gefäß den Ort verwechselt, sondern er bleibt derselbe. Worin sie nämlich sind, darin wechseln unter sich den Platz die Luft, das Wasser und die Theile des Wassers; aber nicht in demjenigen Orte, wo sie hinkommen, welcher ein Theil ist des Ortes, welcher der Ort des ganzen Himmels ist.

Auch der Stoff aber könnte scheinen der Raum zu[85] sein, wenn man an Ruhendem die Betrachtung anstellte und nicht abgesonderten, sondern stetig zusammenhängenden. Gleichwie nämlich bei der Umbildung etwas, das jetzt weiß ist, wiederum schwarz wird, und was jetzt hart, wiederum weich, und wir deshalb sagen, daß es geben müsse einen Stoff; so nimmt man nach einer ähnlichen Vorstellung auch das Sein des Raumes an. Nämlich jenes darum, weil, was Luft war, dieses jetzt Wasser ist; den Raum aber, weil, wo jetzt die Luft war, da jetzt Wasser ist. Allein der Stoff ist, wie in dem Vorhergehenden gesagt, weder trennbar von dem Dinge, noch es umgebend; der Raum aber beides. – Wenn nun also keines von diesen dreien der Raum ist, weder die Formbestimmung, noch der Stoff, noch ein Zwischenraum, der stets bleibt als verschieden von dem Dinge, welches sich entfernt; so muß der Raum sein das was übrig bleibt von den vieren: die Grenze des umgebenden Körpers, nach welcher er den umgebenden berührt. Ich verstehe aber unter dem umgebenden Körper den, welcher beweglich ist dem Raume nach. Es scheint aber etwas großes und zu begreifen schwieriges der Raum darum, weil stets dabei hineinscheint der Stoff und die Form, und weil beim Ruhen des Umgebenden erfolgt die Versetzung dessen, was sich räumlich bewegt. Als denkbar nämlich erscheint das Sein eines von den bewegten Körpern verschiedenen Zwischenraumes. Hiezu trägt etwas bei auch die Luft, welche für körperlos gilt. Es erscheint nämlich nicht nur als die Grenzen des Gefäßes der Raum, sondern auch als das, was in der Mitte ist, als ein Leeres. – Es ist aber wie das Gefäß ein versetzbarer Raum, so der Raum ein unbewegliches Gefäß. Darum wenn in einem Bewegten etwas bewegt und verändert wird, was darinnen ist, z.B. in dem Fluße das Schiff, so ist Gefäß für es vielmehr, als Ort, das Umgebende. Es neigt sich dazu hin ein Unbewegliches zu[86] sein, der Ort und Raum. Darum ist eher der ganze Fluß ein Ort, weil er unbeweglich als ganzer ist. Also des Umgebenden unmittelbare, unbewegliche Grenze, dieses ist der Raum.

Und deswegen gilt der Mittelpunct des Himmels und das, was uns das Aeußerste seines Kreisumschwunges ist, dieses für das Obere, jenes für das Untere von Allem im eigentlichsten Sinne: weil das eine stets stehen bleibt, das Aeußerste des Kreises aber auf ähnliche Weise sich bleibend verhält. Also da das Leichte das ist, was nach oben sich bewegt von Natur, das Schwere, was nach unten; so ist die nach der Mitte zu umgebende Grenze das Unten und die Mitte selbst, die nach dem Aeußersten zu, das Oben, und das Aeußerste selbst. Und deswegen gilt für eine Fläche und gleichsam ein Gefäß der Raum, und für umgebend. – So ist denn auch gewissermaßen zugleich mit dem Dinge der Raum. Denn zugleich mit dem Begrenzten sind die Grenzen.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 83-87.
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