[147] 14. dahara', uttarebhyaḥ
der kleine [Raum], wegen des Folgenden.

Die Schrift sagt: »hier in dieser Brahmanstadt [dem Leibe] ist ein Haus, eine kleine Lotosblume [das Herz]; inwendig darinnen ist ein kleiner Raum (Äther); was in dem ist, das soll man erforschen, das wahrlich soll man suchen zu erkennen« u.s.w. (Chând. 8, 1, 1.) Hier fragt es sich, ob der kleine Raum (Äther) in der kleinen Lotosblume des Herzens das Element des Äthers bedeutet oder die individuelle Seele oder die höchste Seele? Woher diese Frage? Wegen der Worte: »Raum« (âkâça) und »Brahmanstadt«. Das Wort âkâça (Raum, Äther) wird nämlich in der Schrift sowohl von dem Elemente des Äthers als auch von dem höchsten Brahman gebraucht; daher es sich fragt, ob der »kleine [Raum]« das Element des Äthers oder der Allerhöchste ist. Ebenso fragt es sich bei dem Worte »Brahmanstadt«, ob hier mit dem Namen »Brahman« die individuelle Seele bezeichnet wird, so dass der Leib als ihre Stadt die »Brahmanstadt« heisst, oder ob die Brahmanstadt die Stadt des höchsten Brahman selbst bedeutet; daher der Zweifel sich erhebt, ob es der individuelle oder der höchste Âtman sei, welchem, sei es dem einen oder dem andern, als dem Herrn der Stadt, der Besitz des »kleinen Raumes« zuzusprechen ist.

Angenommen also, ›weil das Wort âkâça gewöhnlich das Element des Äthers (Raumes) bezeichnet, der »kleine« bedeute hier das Ätherelement; diesem würde im Hinblick auf den kleinen Bezirk desselben [im Herzen] jene | »Kleinheit« beigelegt werden; in der Stelle: »wahrlich so gross dieser Weltraum ist, so gross ist dieser Raum inwendig im Herzen« (Chând. 8, 1, 2), hätten wir auf Grund der Unterscheidung seines Vorhandenseins in der Aussenwelt und im Innern eine Gegenüberstellung beider als Massstab und Gemessenes; und die weitere Behauptung, dass Himmel und Erde inwendig in [jenem kleinen Raume] beschlossen seien (Chând. 8, 1, 3), wäre dahin zu verstehen, dass der Raum [im Herzen mit dem Weltraume] vermöge seiner Natur als die Möglichkeit des Erfülltwerdens (avakâça-âtmanâ) eine Einheit bilde. – Oder auch man könnte annehmen, der »kleine [Raum]« sei, weil er als die »Brahmanstadt« bezeichnet wird, die individuelle Seele; denn der Leib könnte die Brahmanstadt heissen als die Stadt der individuellen Seele, sofern er von dieser durch ihre eignen Werke [in einem früheren Dasein] erworben worden ist; dass er als die Stadt des Brahman bezeichnet würde, müsste bildlich[147] verstanden werden; denn freilich hat das höchste Brahman zu dem Leibe nicht die Beziehung eines Besitzers zu dem Besitztume. Das Verweilen des Besitzers der Stadt an einem einzelnen Orte derselben geschähe so wie bei einem Könige [der auch nur an einer bestimmten Stelle seines Reiches residiert]. Da nämlich die individuelle Seele zu ihrem Upâdhi das Manas hat, das Manas aber seinen Sitz vorwiegend im Herzen hat, so konnte auch von der individuellen Seele gesagt werden, dass sie inwendig im Herzen wohne. Die ihr beigelegte »Kleinheit« würde dazu stimmen, dass sie (Çvet. 5, 8) »eine Nadelspitze gross« genannt wird, und ihre Gleichsetzung mit dem Weltraume wiederum erklärt sich aus der Absicht, ihre Identität mit Brahman zu betonen. Übrigens ist auch gar keine Rede davon, dass man den kleinen Raum erforschen und zu erkennen suchen solle, sondern dieser wird nur vorgenommen, um das, »was darinnen ist«, wie es heisst, mithin ein von ihm selbst Verschiedenes näher zu bestimmen.‹

Hierauf | geben wir zur Antwort, dass unter dem »kleinen Raume« nur der höchste Gott verstanden werden kann und nicht das Element des Äthers oder die individuelle Seele. Warum? »wegen des Folgenden«, d.h. wegen der aus dem weiteren Fortgange der Stelle sich ergebenden Gründe. Denn nachdem der kleine Raum als zu betrachten aufgegeben worden, und es sodann weiter hiess: »wenn sie zu ihm sagen, ... was ist denn dort, das man erforschen soll, das man soll suchen zu erkennen«, so folgt auf diesen Einspruch die Begleichung in den Worten: »dann soll er sagen: wahrlich so gross dieser Weltraum ist, so gross ist dieser Raum inwendig im Herzen; in ihm sind beide, der Himmel und die Erde beschlossen« u.s.w. (Chând. 8, 1, 2-3.) Wenn hier die Schrift von dem Raume, welcher um der Kleinheit der Lotosblume willen selbst klein erschien, diese Kleinheit durch Gleichsetzung mit dem allgemeinen Raume abwehrt, so folgt daraus, dass sie zugleich die Vorstellung, als sei der kleine Raum der elementare Raum (Äther), abwehrt. Denn wennschon das Wort âkâça (Äther, Raum) ursprünglich den elementaren Raum (Äther) bedeutet, so geht es doch nicht an, dass dieser [in obigen Worten] sich selbst gleichgesetzt werde; daher der Gedanke an das Element des Raumes (Äthers) ausgeschlossen wird. – ›Aber wir sagten doch schon, dass der Raum, obwohl er einer sei, doch auf Grund der in ihm angenommenen Unterscheidung des Äussern und des Innern als Massstab und Gemessenes | einander entgegengestellt werden könne!‹ – So geht es nicht! Denn das ist kein zulässiger Ausweg, dass man sich auf eine bloss [künstlich] angenommene Verschiedenheit beruft. Aber selbst wenn man auf Grund einer solchen bloss angenommenen Verschiedenheit den Gegensatz des Massstabes und des Gemessenen sich ausmalt, so ergiebt sich, dass der Innenraum, weil er begrenzt ist, nicht den Aussenraum als[148] Mass haben kann. – ›Aber auch wenn man es von dem höchsten Gotte versteht, so kann, weil eine andere Schriftstelle von diesem sagt, er sei »grösser als der Raum« (Çatap. br. 10, 6, 3, 2), der Raum doch auch nicht als Mass dienen!‹ – Dieser Einwand ist nicht triftig; denn unsere Schriftstelle will nur die infolge der Umkleidung mit der Lotosblume sich ergebende Kleinheit von Gott abwehren, nicht aber von ihm lehren, dass er so oder so gross sei. Wollte sie beides zugleich hier lehren, so würde die Stelle ihre Einheit einbüssen. Auch könnte nicht, bei der angenommenen Unterscheidung [von Aussenraum und Innenraum] gesagt werden, dass in der von der Lotosblume umschlossenen einzelnen Stelle des Weltraumes Himmel und Erde beschlossen seien. Endlich auch, wenn es heisst: »das ist der Âtman, der sündlose, frei vom Alter, frei vom Tod und frei vom Leiden, ohne Hunger und ohne Durst; sein Wünschen ist wahrhaft, wahrhaft sein Ratschluss« (Chând. 8, 1, 5), so können die hier erwähnten Eigenschaften des Âtmanseins, der Sündlosigkeit u.s.w. dem Elemente des Raumes unmöglich zukommen. Und wenn anderseits auch das Wort Âtman auf die individuelle Seele passen würde, so bleibt doch der Gedanke an die individuelle Seele s um der andern Gründe willen ausgeschlossen; denn von der durch die Upâdhi's eingeschränkten, der Grösse einer Nadelspitze gleichgesetzten, individuellen Seele lässt sich die durch die Umkleidung mit der Lotosblume bedingte Kleinheit nicht [wie in unserer Stelle geschieht] aufheben. Meint ihr, die Allgegenwart werde der individuellen Seele beigelegt, um ihre Identität mit Brahman anzuzeigen, so wollen wir doch lieber sagen, dass dasjenige, durch Identität mit welchem die Allgegenwart der individuellen Seele angezeigt werden soll, nämlich dass das Brahman geradezu hier als das allgegenwärtige u.s.w. bezeichnet werde. Wenn weiter behauptet wurde, dass, wenn es heisse: »die Brahmanstadt«, die bildliche Bezeichnung als Stadt durch die individuelle Seele veranlasst sei, und dass es somit die individuelle Seele sein müsse, welcher wie einem Könige, als dem Herrn dieser Stadt, der Aufenthalt an einer einzelnen Stelle derselben zugeschrieben werde, so erwidern wir darauf, dass hier der Leib, weil er wirklich eine Stadt des höchsten Brahman ist, als die »Brahmanstadt« bezeichnet wird, indem das Wort »Brahman« im eigentlichen Sinne zu nehmen ist; nämlich auch Brahman ist mit dieser Stadt verbunden, sofern sie die Stätte seiner Wahrnehmbarkeit ist; denn die Schrift sagt: »dann schaut er ihn, der höher ist als dieser höchste Komplex des Lebens, den in der Burg [des Leibes] wohnenden Geist« (Praçna 5, 5), und: »das ist fürwahr jener Purusha (Geist), welcher in allen Burgen (pûrshu) als Burgbewohner weilt« (Bṛih. 2, 5, 18.) Oder auch, die Stadt gehört der individuellen Seele, und das Brahman wird als in dieser Stadt gegenwärtig erkannt; ähnlich wie wenn man sagt, dass[149] | Vishṇu in dem Çâlagrâma-Steine gegenwärtig sei. Hierzu kommt, dass es weiter in unserer Stelle heisst: »und gleichwie hienieden der Genuss, den man durch die Arbeit erworben, dahinschwindet, so schwindet auch im Jenseits der durch die guten Werke erworbene Genuss dahin«, und nachdem hiermit ausgesprochen, dass die Frucht der Werke eine endliche sei, so heisst es weiter: »wer aber von hinnen scheidet, nachdem er die Seele (âtman) erkannt hat und jene wahrhaften Wünsche, dem wird zu Teil in allen Welten ein Leben in Freiheit«; hier wird gesagt, dass die Frucht der Erkenntnis des in Rede stehenden kleinen Raumes eine unendliche sei, und dies beweist, dass der höchste Âtman darunter zu verstehen ist. Wenn aber endlich noch behauptet wurde, dass der kleine Raum gar nicht das zu Suchende und zu Erforschende sei, dass derselbe vielmehr nur erwähnt werde, um ein anderes [nämlich das, was in ihm sei] näher zu bestimmen, so antworten wir: handelte es sich nicht um die Erforschung des Raumes selbst, so würde nicht mit den Worten »wahrlich so gross dieser Weltraum ist, so gross ist dieser Raum inwendig im Herzen« u.s.w. noch eine besondere Auseinandersetzung über die Natur des Raumes beigefügt werden. – ›Aber dient nicht vielleicht auch diese Auseinandersetzung nur, um auf das Vorhandensein der inwendig in dem Räume befindlichen Dinge hinzuweisen? Denn es heisst ja: »wenn man zu ihm sagt: hier in dieser Brahmanstadt ist ein Haus, eine kleine Lotosblume; inwendig darinnen ist ein kleiner Raum; was ist denn dort [in dem Raume], was man erforschen soll, was man soll suchen zu erkennen?« – und um die hier aufgeworfene Frage zu beantworten wird, nach erfolgter Gleichsetzung mit dem Weltraume, dargelegt, dass Himmel und Erde u.s.w. in dem kleinen Raume beschlossen seien [woraus folgt, dass es sich nicht um den Raum, sondern um dessen Inhalt handelt].‹ – Aber dem ist nicht so; denn wäre dem so, | so würde dasjenige als das zu Erforschende und zu Erkennende angegeben werden, was, wie z.B. der Himmel und die Erde, inwendig in dem Raume beschlossen ist; dem entspricht aber nicht das Folgende, wo es heisst: »in ihm sind beschlossen die Wünsche, er ist der Âtman der sündlose« (Chând. 8, 1, 5); hier wird jener in Rede stehende, Himmel und Erde als Inhalt in sich befassende Raum [selbst, nicht bloss sein Inhalt] wieder herangezogen, und sodann heisst es: »wer aber von hinnen scheidet, nachdem er die Seele erkannt hat und jene wahrhaften Wünsche« (Chând. 8, 1, 6); diese Fortsetzung beweist, wie sich aus dem eine Zusammenfassung anzeigenden Wörtchen »und« ergiebt, dass es sich sowohl um eine Erkenntnis des die Wünsche befassenden Âtman als auch um die der von ihm befassten Wünsche handelt; und hieraus folgt, dass auch schon im Anfange der Stelle dazu aufgefordert wird, ebenso wohl den in der Lotosblume des Herzens befindlichen kleinen Raum wie die inwendig in ihm beschlossenen[150] wahren Wünsche, den Himmel und die Erde u.s.w., zu erkennen. Es ist also dieser Raum, welcher, aus den ausgeführten Gründen, als der höchste Gott aufzufassen ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 147-151.
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