[183] 33. bhâvan tu Bâdarâyaṇo; 'sti hi
sie sind es doch, lehrt Bâdarâyaṇa; denn sie ist Thatsache.

Das Wort »doch« dient, um die gegnerische Meinung abzulehnen. Nämlich der Lehrer Bâdarâyaṇa nimmt an, dass auch die Götter u.s.w. trotzdem berufen sind; denn wenn auch zu solchen Lehren, bei denen, wie z.B. bei der »Honiglehre«, eine Einmischung der Götter vorkommt, eine Berufung dieser selbst freilich[183] unmöglich ist, so ist die Berufung der Götter zur reinen | Brahmanwissenschaft doch »Thatsache«, sofern eine solche Berufung durch die Bedürftigkeit und Fähigkeit [zur Erlösung], durch das Nichtausgeschlossensein von derselben u.s.w. bedingt wird. Denn wenn auch diese Berufung für gewisse Lehren unmöglich ist, so ist sie darum doch nicht für die Fälle, in welchen sie möglich ist, in Abrede zu stellen. Es können ja auch nicht alle Menschen, ja nicht einmal die Brahmanen, zu allen [heiligen Bräuchen] berufen sein, wie z.B. nicht zur Königsweihe; und was dort gilt, das muss auch hier gelten. Dass aber die Götter u.s.w. zur Brahmanlehre berufen sind, dafür haben wir ein sprechendes Anzeichen in der Schrift, wenn es heisst: »Wer immer von den Göttern dieses [durch die Erkenntnis: ›ich bin Brahman‹] inne ward, der ward eben zu demselbigen, und ebenso von den Ṛishi's, und ebenso von den Menschen« (Bṛih. 1, 4, 10.) Ferner auch in der Stelle: »Da sprachen sie [die Götter und Dämonen]: wohlan lasst uns den Âtman erforschen, durch dessen Erkenntnis man alle Welten erlangt und alle Wünsche! Da machte von den Göttern Indra sich auf den Weg und von den Dämonen Virocana« (Chând. 8, 7, 2.) Und auch die Smṛiti berichtet unter anderm die Unterredung des Yâjñavalkya mit dem Gandharva [nach dem Glossator im Mokshadharma, Mahâbh. 12]. Wenn aber behauptet wurde: »auch weil im Lichte ihr Sein« bestehe, deswegen seien die Götter nicht berufen, so antworten wir: obgleich die zur Bezeichnung der Gottheiten dienenden Worte [lies: çabdâç], wie Âditya u.s.w., sich auch auf das Licht u.s.w. beziehen, so bedeuten sie doch [zugleich] die entsprechenden, mit Geistigkeit, Gottherrlichkeit u.s.w. begabten Götterwesen; denn in diesem Sinne werden sie in den Mantra's und Arthavâda's gebraucht; und | die Götter haben, kraft ihrer Gottherrlichkeit, das Vermögen, entweder als Selbst (âtman) des Lichtes u.s.w. zu verharren oder auch nach Belieben die entsprechende Individualität (vigraha) anzunehmen; denn also sagt die Schrift bei Erklärung der Subrahmaṇyâ-Formel (Shaḍviṇça-br. 1, 1): »›o Widder des Medhâtithi‹, nämlich als Widder einstmals raubte Indra den Kâṇva-Spross Medhâtithi«. Und die Smṛiti erzählt (Mahâbh. 1, 4397), wie Âditya in Mannesgestalt die Kuntî besuchte. Ja, auch der Lehm und ähnliche Stoffe haben nach der Schriftlehre geistige Vorsteher, denn es heisst: »der Lehm sprach« – »die Wasser sprachen« (Çatap. br. 6, 1, 3, 2. 4.) Was aber die [fünf] Naturelemente, wie das Licht u.s.w., betrifft, so ist zuzugeben, dass dieselben auch als Sonne u.s.w. ungeistige Wesen sind; aber auch sie haben als Vorsteher geistige Götterwesen; denn so erscheinen sie, wie bereits bemerkt (p. 287, 3) in den Mantra's und Arthavâda's. – Wenn aber weiter behauptet wurde, dass die Mantra's und Arthavâda's, weil ihr Zweck ein anderer sei, nicht als Beweis[184] für die Individualität der Götter u.s.w. gelten könnten, so haben wir zu bemerken, dass es beim Beweise des Seins oder Nichtseins nur auf die Glaubwürdigkeit der Quelle, nicht aber darauf ankommt, ob sie diesen oder jenen Zweck verfolgt. Denn auch wenn z.B. einer zu einem andern Zwecke ausgegangen ist, so kann er darum doch bemerken, ob sich auf dem Wege zufällig Gras, Blätter und dergleichen | befinden. – ›Aber‹, so könnte ›man einwenden, in dem erwähnten Beispiele liegt die Sache doch anders. Denn dort ist es die Wahrnehmung, auf Grund deren wir das Vorhandensein von Gras, Blättern u. dgl. annehmen; hier hingegen ist der zur Anempfehlung beigefügte Arthavâda mit der angeordneten Vorschrift zu einem Zusammenhange verbunden, daher man in ihm nicht eine besondere, auf Thatsächliches bezügliche Äusserung sehen darf. Denn wenn ein ganzer Satz bindende Kraft hat, so braucht ein in ihm vorkommender Nebensatz darum für sich allein noch nicht bindende Kraft zu haben. So z.B. wenn es in der Schrift heisst: »keinen Branntwein trinkt!« so ist, weil diese drei Worte in dem negativen Satze miteinander verbunden stehen, als einziger Sinn das Verbot des Branntweintrinkens zu verstehen, nicht aber darf man, weil dabei die beiden Worte: »Branntwein trinkt« miteinander verbunden stehen, zugleich ein Gebot, Branntwein zu trinken, darin finden.‹ – Hierauf ist zu erwidern, dass in diesem Beispiele allerdings die Sache anders liegt. Es ist richtig, dass man bei dem Verbote des Branntweintrinkens, wegen der Einheit des Wortzusammenhangs, nicht einem Teile dieser Wortverbindung noch einen Sinn beilegen darf; wo hingegen eine angeordnete Vorschrift und ein Arthavâda (Erklärung) zusammenstehen, da ergeben die Worte des Arthavâda für sich allein einen auf ein Thatsächliches bezüglichen Zusammenhang, und sodann erst werden diese Worte, sofern sie den Zweck der Vorschrift klarlegen, zu einer Anempfehlung derselben. So sind z.B. in der Stelle: »Ein dem Vâyu heiliges weisses Gefäss soll ergreifen, wer nach Wohlstand begehrt« (Taitt. saṃh. 2, 1, 1, 1) diese zu der angeordneten Vorschrift gehörigen Worte: »Ein dem Vâyu heiliges« u.s.w., durch die Vorschrift miteinander verbunden. Anders aber | steht es mit den darauffolgenden, einen Arthavâda bildenden Worten: »Wahrlich, der Vâyu (Wind) ist die schnellste Gottheit; und an den Vâyu wendet er [der Solches thut] sich mit dem ihm gebührenden Anteile; der führet ihn hin zu dem Wohlstande.« Hier heisst es nicht mehr [in der Form einer Vorschrift]: »der Vâyu soll ergreifen« oder: »die schnellste Gottheit soll ergreifen« u. dgl., sondern die Arthavâda-Worte bilden, indem sie die Natur des Vâyu rühmen, einen zwischeneingeschobenen Zusammenhang für sich, und indem sie besagen: »so ausgezeichnet ist die Gottheit, auf die sich dieses Werk bezieht«, so dienen sie dazu, die vorhergehende Vorschrift anzuempfehlen.[185] Wenn dabei der Inhalt der [als Arthavâda zwischen die Vorschriften] eingeschobenen Stelle eine Sache ist, die schon aus andern Erkenntnisgründen feststeht [z.B. aus der Wahrnehmung; so in dem Satze Vâj. saṃh. 23, 10: »Agni (das Feuer) ist Arzenei gegen die Kälte«], so besteht der Arthavâda in der blossen Nachsagung (anuvâda) derselben [und ist, im Sinne Çankara's, ein Vidyamâna-arthavâda]. Wo er hingegen mit andern Erkenntnisgründen in Widerspruch steht [z.B. in dem Satze: »der Opferpfosten ist die Sonne«], da besteht der Arthavâda in einem Guṇavâda [in einer uneigentlichen, figürlichen Aussage]. Wo aber weder das Eine noch das Andere stattfindet [also wenn es sich um Aussagen handelt, die von der Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden, – und auf solche kommt es, wenn die Autorität der Schriftoffenbarung erwogen werden soll, vor allem an], sollen wir da, weil kein anderer Erkenntnisgrund vorhanden ist, einen blossen Guṇavâda, oder sollen wir, weil kein anderer Erkenntnisgrund der Schriftaussage widerspricht, einen Vidyamâna-arthavâda annehmen? Hier muss jeder, dem es um Überzeugungen zu thun ist, einen Vidyamâna-arthavâda [die Offenbarung einer transscendenten Thatsache] nicht aber einen Guṇavâda [so statt guṇânuvâda zu lesen] annehmen.1 Alles dies gilt auch von den Mantra's. – Ja, noch mehr! Auch die Vorschriften selbst, sofern sie zu Opfern auffordern, die dem Indra und den andern Göttern darzubringen sind, setzen die [individuelle] Gestalt des Indra u.s.w. voraus; denn es ist nicht möglich, den Indra u.s.w., wenn sie keine solche Gestalt haben, im Denken vorzustellen; | ohne sie aber im Denken vorzustellen, kann einer bestimmten Gottheit ein Opfer nicht dargebracht werden. Und auch die Schrift lässt sich vernehmen: »die Gottheit, für welche man die Opfergabe bereitet hat, an die denke man, wenn man den Opferruf sprechen will« (Ait. br. 3, 8, 1.) Dass aber die Natur einer Sache in dem blossen Namen bestehe, kann man nicht annehmen, indem Name und Sache zweierlei sind. Somit muss die Gestalt des Indra u.s.w., ebenso wie sie in den Mantra's und Arthavâda's vorkommt, von jedem, der die Schrift überhaupt als Autorität festhält, angenommen werden. In der erwähnten Weise können nun auch weiter die Itihâsa's und Purâṇa's, sofern sie auf den dafür massgebenden Mantra's und Arthavâda's fussen, als Zeugnisse für die Individualität der Götter[186] benutzt werden. Ja, möglicherweise fussen dieselben sogar auf der Wahrnehmung; denn wenn etwas auch für uns nicht wahrnehmbar ist, so konnte es doch für die Altvordern wahrnehmbar sein. Und dem entsprechend wird z.B. von der Smṛiti überliefert, dass Vyâsa [der Autor des Mahâbhâratam] und andere mit den Göttern und [ṛishi's] in der Wahrnehmung Verkehr gepflogen haben. Wer aber behaupten wollte, dass es, so wie für die jetzt Lebenden, auch für die Altvordern nicht möglich gewesen sei, mit Göttern u.s.w. zu verkehren, der würde | die Mannigfaltigkeit der Welt leugnen; er könnte auch behaupten, dass es, so wie jetzt, auch zu andern Zeiten keinen weltbeherrschenden Fürsten gegeben habe, und somit würde er die auf die Königsweihe bezüglichen Gebote [an denen ihr Anhänger des Jaimini doch festhaltet] nicht gelten lassen; er könnte ferner annehmen, dass, so wie jetzt, auch zu andern Zeiten die Pflichten der Kasten und Âçrama's keine feststehende Regel gehabt hätten, und somit müsste er den Gesetzes-Kanon, welcher die Regeln dafür angiebt, für zwecklos erklären. Man muss daher festhalten, dass die Altvordern, zufolge hervorragender Verdienste, mit Göttern und [ṛishi's] sichtbarlich verkehrt haben; so stimmt es zusammen. Auch sagt die Smṛiti (Yogasûtra 2, 44): »durch Studium [wird erlangt] mit der geliebten Gottheit Vereinigung«. Und wenn dieselbe weiter lehrt, dass der Yoga als Lohn die Herrschaft über die Natur verleihe, bestehend [in der Freiheit von der Körperlichkeit und ihren Gesetzen, und dadurch] in der Fähigkeit, sich atomklein zu machen u.s.w., so ist auch das nicht durch einen blossen Machtspruch von der Hand zu weisen. Und auch die Schrift lässt die Machtvollkommenheit des Yoga gelten, wenn sie sagt (Çvet. 2, 12):


»Aus Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther

Entspringt und bildet sich, fünffachen Wesens,

Die Yoga-Tugend. Wer zu ihr gelangt,

Für den giebt es nicht Krankheit mehr noch Alter,

Noch auch den Tod; weil ihm zu Teil geworden

Ein Leib gebildet aus dem Yoga-Feuer.«


Auch die Fähigkeiten der Ṛishi's, dieser Schauer der Mantra's und Brâhmana's, darf man nicht nach unsern | Fähigkeiten bemessen. Somit folgt, dass, was die Itihâsa's und Purâṇa's [über die Natur der Götter] enthalten, wohlbegründet ist. Und auch die Anschauungen der gewöhnlichen Menschen hat man nicht, soweit es angeht, als unbegründet von der Hand zu weisen.

Somit ist es berechtigt, auf Grund der Mantra's u.s.w. die Individualität der Götter anzunehmen, und da, aus demselben Grunde, auch die Bedürftigkeit u.s.w. auf dieselben zutrifft, so folgt, dass auch die Götter u.s.w. zur Brahmanwissenschaft berufen[187] sind. Und auch die Anschauungen von der Stufenerlösung (kramamukti) stimmen hiermit zusammen [sofern das Dasein als Gott eine Vorstufe der endgültigen Erlösung bilden kann].

1

Çankara unterscheidet also, wie es scheint, nur zwei Unterarten des Arthavâda, den Guṇavâda und den Vidyamâna-arthavâda. Letzterer wird von Späteren weiter zerlegt in den Anuvâda, der die empirischen, und den Bhûta-arthavâda, der die transscendenten Thatsachen begreift, die im Veda mitgeteilt werden (vgl. Madhusûdana in Webers Indischen Studien I, S. 15.)

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 183-188.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon