Fünftes Buch

[132] Als die Philosophie ihren Gesang beendet hatte, wollte sie das Gespräch auf andere Betrachtungen und Untersuchungen hinüberlenken. Ich aber ergriff das Wort und sagte; »Du bist kraft deiner Autorität in jeder Weise befugt, diese an sich schon so wohl begründete Ermahnung auszusprechen. Ich sehe jetzt übrigens in der That ein, daß die Frage nach der Vorsehung, wie du vorhin schon bemerktest, mit vielen andern wichtigen Fragen aufs engste verknüpft ist. Zunächst aber möchte ich nun wissen, ob du überhaupt an einen Zufall glaubst und was du als solchen bezeichnest!«

Darauf entgegnete sie: »Ich will mich beeilen, mein Versprechen einzulösen und dir den Weg zu erschließen, auf dem du wieder in deine wahre Heimat zurückzugelangen vermagst. In betreff der von dir gestellten Frage ist es nun aber einerseits zwar sehr nützlich, darüber ins klare zu kommen, andererseits aber führt sie uns für ein Weilchen von unserem Hauptthema ab und ich fürchte fast, daß dich diese Abschweife ermüden und zur Vollendung des rechten Weges unfähig machen könnten!«

»Das brauchst du durchaus nicht zu fürchten!« erwiderte ich. »Die Erlangung dieser so heiß ersehnten Erkenntnis wird mir vielmehr eine Beruhigung sein, zumal ich bei der überzeugenden Kraft, die deine Ausführungen bisher nach jeder Richtung hin bewährt haben, auch im folgenden sicher zur vollsten Klarheit zu gelangen hoffen darf!«

»Gut,« sagte sie, »so will ich dir willfahren.« Und nun begann sie folgendermaßen: »Wenn jemand unter Zufall[132] ein ganz von selbst, außerhalb jeder ursächlichen Verknüpfung vor sich gehendes Ereignis versteht, dann behaupte ich allerdings, daß es überhaupt keinen Zufall giebt und daß dieses Wort, wenn man auch etwas thatsächlich Geschehendes damit bezeichnet, dennoch an sich völlig bedeutungslos ist. Wo könnte denn bei der alles ordnenden Thätigkeit Gottes ein solcher Zufall noch seine Stätte haben?

Daß aus nichts auch nichts entstehen kann, ist ein wahrer Satz und auch von den Alten niemals bezweifelt worden, wenn diese dabei auch mehr an das Entstehen aus realer Materie, als an das Bewirktwerden von einer ursächlichen Kraft gedacht haben. Aber in jenem Satz an sich haben sie den Grundstein gelegt für alle denkende Naturbetrachtung.

Wenn nun etwas ohne alle Ursache geschehen soll, so entsteht es eben aus nichts, und da dies unmöglich ist, so ist eben auch kein Zufall in dem vorhin bezeichneten Sinne möglich!«

»Du meinst also,« warf ich ein, »daß gar nichts mit Recht als Zufall bezeichnet werden kann? Oder giebt es etwas Derartiges, wenn auch die Menschen die Bezeichnung ›Zufall‹ meist in unrichtiger Weise gebrauchen?«

»Mein Jünger Aristoteles,« antwortete sie, »hat diese Fragen in seinem Werke ›Physika‹ in kurzer und der Wahrheit am nächsten kommender Weise beantwortet.«

»Wie aber?« fragte ich.

»Er sagt folgendermaßen: Wenn jemand irgend etwas zu einem bestimmten Zwecke vornimmt und wenn er dann aus gewissen Gründen etwas ganz anderes als das Erwartete damit erreicht, so nennt man das einen Zufall; so z.B. wenn jemand, um seinen Acker zu bestellen, den Boden umgräbt und dabei eine Summe gemünzten Goldes findet. Hier scheint nun zwar ein Zufall vorzuliegen, aber in Wirklichkeit ist doch dies Ereignis durchaus nicht durch nichts bewirkt, es hat vielmehr seine ausreichenden Ursachen, deren[133] unvorherzusehendes und überraschendes Zusammentreffen den Schein der Zufälligkeit erweckte. Hätte nämlich der Landmann seinen Acker nicht umgegraben und hätte nicht gerade dort irgend jemand sein Gold verscharrt gehabt, so wäre eben das Gold nicht gefunden worden. Das Wesen eines sogenannten zufälligen Ereignisses besteht also kurz darin, daß es durch das Zusammentreffen mehrerer voneinander unabhängiger Ursachen ohne jede Absicht des Betreffenden geschieht. Denn nieder derjenige, der das Gold vergrub, noch derjenige, der seinen Acker bestellte, hatten dabei die Absicht, daß das Gold in dieser Weise gefunden werde, sondern es trafen eben die beiden ganz selbständigen Ereignisse zusammen, daß dieser gerade an der Stelle grub, wo jener sein Gold verscharrt hatte. Wir gewinnen damit also die folgende Definition des Zufalls: Der Zufall besteht darin, daß durch eine auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Thätigkeit ein ganz unerwarteter, durch verschiedene selbstständige zusammentreffende Ursachen bewirkter Effekt erzielt wird. Das Zusammentreffen und das Zusammenwirken dieser Ursachen erfolgt auf Grund eben jener in unabänderlicher Verknüpfung bestehenden Ordnung, die, von der Vorsehung als von ihrer Quelle ausgehend, alles nach Ort und Zeit regelt und bestimmt.«

Droben im zackigen Persergebirg', wo fliehende Scharen,

plötzlich gewendet, ins Herz jagen dem Sieger den Pfeil,

Fließen aus einem Quell der Euphrat her und der Tigris;

aber getrennt alsbald wälzen die Wasser sie hin.

Wenn aber wieder versöhnt in dem nämlichen Bette sie gleiten,

wird die schwimmende Last beider in eine vereint.

Schiffe gesellen sich dann und stromgetragene Stämme,

seltsame Bande knüpft oft die vereinigte Flut!

Aber den wechselnden Lauf, ihn regiert die Gestaltung der Erde,

auch im Strudel und Fluß herrscht des Gefälles Gesetz.

Also der Zufall auch, der scheinbar zügelbefreite,

treu und gehorsam stets feste Gesetze befolgt!
[134]

»Ich verstehe das,« sagte ich hierauf, »und stimme deinen Ausführungen vollkommen bei. Ist denn nun aber in dieser großen Reihe in sich zusammenhängender Ursachen und Wirkungen überhaupt noch Raum für die Freiheit unseres Willens oder sind auch die Regungen der Menschenseele gänzlich und unbedingt der Verkettung des Schicksals unterworfen?«

»Nein,« antwortete sie, »es giebt einen freien Willen und vernunftbegabte Wesen sind ohne ihn überhaupt gar nicht denkbar. Was nämlich von der Natur mit der Gabe des Vernunftgebrauchs beschenkt ist, das hat damit auch die Fähigkeit zu urteilen und zu entscheiden bekommen und erkennt aus eigener Kraft, was es fliehen und was es sich wünschen muß. Was aber jemand für wünschenswert hält, das sucht er zu erlangen, und demjenigen weicht er aus, vor dem er sich hüten zu müssen glaubt. So hat also derjenige, der Urteilskraft besitzt, auch die Freiheit, zu wollen oder nicht zu wollen. Allerdings ist aber diese Freiheit nicht bei allen die gleiche: die erhabenen göttlichen Wesen haben zwar ein untrügliches Urteil, uneingeschränkte Willensfreiheit und auch die Macht, das Gewünschte Sofort zu verwirklichen. Die menschlichen Seelen aber sind am freiesten, wenn sie noch ganz in der Betrachtung des göttlichen Geistes verharren, weniger frei, wenn sie in Körper eingehen und noch weniger, wenn sie in den gegliederten irdischen Leib hineingebannt werden. Die äußerste Knechtschaft ist es aber, wenn sie sich den Lastern hingeben und damit den Besitz der Vernunft verlieren, die den Menschen doch eigentlich erst zum Menschen macht. Denn wenn sie ihre Augen vom Lichte der ewigen Wahrheit abwenden und sie auf die niedrigen, dunklen Dinge richten, dann wird sie bald der Nebel des Wahnes völlig umhüllen und verderbliche Leidenschaften werden sie beunruhigen. Aber gerade durch die Hingabe[135] an diese Leidenschaften verschärfen sie sich noch die selbstgeschaffene Knechtschaft und machen sich gewissermaßen kraft der Freiheit ihres Willens selber zu Gefangenen.

Alles dies aber erkennt klar die unmittelbare Anschauung der Vorsehung, die von Ewigkeit her alles voraussah, und sie teilt einem jeglichen das ihm bestimmte Los zu, so wie er es verdient, sie, die


›auf alles herabschaut, alles auch höret.‹


Phöbus, den Träger strahlenden Lichtes,

preisen Homers entzückende Lieder!

Machtlos aber vermag er die Strahlen

nicht in der Erde innerste Schluchten,

nicht in des Meeres Tiefen zu senken.

Anders dagegen der Schöpfer des Weltalls

leitet das Ganze vom Throne des Himmels.

Nimmer beschränkt ihn die Masse der Erde,

nimmer der Wolken nächtliches Dunkel!

Seiender, Werdendes und auch Vergangenes

schaut er mit einem Blicke des Geistes.

Ihm nur erhellt sich ein jegliches Dunkel,

er nur allein ist die Sonne der Welten!


»Aber sieh!« nahm ich nun wieder das Wort, »nun werde ich wieder von einem andern, noch schwerer zu lösenden Zweifel befallen!«

»Was ist denn das für ein neuer Zweifel?« fragte meine Gefährtin. »Freilich kann ich es mir fast schon denken, was dich nun wieder beunruhigt!«

»Es scheint mir,« entgegnete ich, »ein großer Gegensatz und Widerspruch darin zu liegen, daß einer seits Gott alles vorherwissen und andererseits doch eine Freiheit des Willens bestehen soll. Wenn nämlich Gott alles voraussieht und bei ihm jeder Irrtum unmöglich ist, so muß doch notwendigerweise[136] alles das eintreten, was die göttliche Vorsehung voraussieht. Da diese nun aber nicht bloß die Thaten der Menschen, sondern auch ihre Gedanken und Willensregungen vorherweiß, so scheint es doch keinen freien Willen geben zu können; denn es kann weder irgend ein Ereignis eintreten, noch irgend eine Willensregung lebendig werden, von denen die untrügliche göttliche Vorsehung nicht vorher Kenntnis gehabt hätte. Könnte sich aber der Wille auch in einer anderen als in der so vorhergesehenen Weise bethätigen, so könnte man eben nicht von sicherer Voraussicht, sondern nur von einer unbestimmten Meinung reden, und so etwas von Gott zu sagen, halte ich für sündhaft. Ich kann aber auch jener Ausführung nicht zustimmen, mittelst welcher einige über die Schwierigkeit dieser Frage hinwegzukommen glauben. Diese sagen nämlich, daß das zukünftige Ereignis nicht deswegen geschieht, weil die göttliche Allwissenheit sein Eintreten vorausgesehen hatte, sondern daß gerade umgekehrt ein Ereignis deswegen, weil es künftig geschehen wird, der göttlichen Voraussicht nicht verborgen bleiben kann. Man müsse also die ganze Sache umkehren, denn es sei nicht notwendig, daß etwas Vorausgesehenes wirklich geschehe, sondern daß das künftige Ereignis vorausgesehen werde. – Als ob es sich hierbei überhaupt um die Frage handelte, welches der Grund und welches die Folge sei, ob die Vorsehung der Grund der Notwendigkeit eines künftigen Geschehens, oder ob eben diese Notwendigkeit der Grund für die göttliche Voraussicht sei. – wir wollen hier aber doch nur untersuchen, ob, auch ganz abgesehen von aller Verknüpfung von Grund und Folge, das Eintreffen der vorausgesehenen Dinge ein notwendiges sei, wenn auch das Vorauswissen selbst nicht die Notwendigkeit des künftigen Geschehens bewirkt. Wenn jemand sich in sitzender Stellung befindet, und ein anderer vermutet, daß er sitze, so ist diese Vermutung natürlich notwendigerweise wahr, und ebenso umgekehrt, wenn jemand von einem andern die richtige[137] Vermutung hegt, daß er sitze, so muß dieser andere natürlich auch thatsächlich sitzen. In beiden Fällen liegt eine Notwendigkeit vor, hier, daß der Betreffende sitze, dort, daß die gehegte Vermutung der Wahrheit entspreche. Aber nicht deswegen sitzt der Betreffende, weil die dahin gehende Vermutung wahr ist, sondern die letztere ist vielmehr wahr, weil der Mensch wirklich schon saß, als sie gefaßt wurde. Wenn also auch der Grund für die Notwendigkeit der einen in der andern Thatsache liegt, so ist doch die Notwendigkeit für beide die gleiche.

Ähnliches läßt sich nun aber auch von der Vorsehung und den zukünftigen Ereignissen sagen. Denn wenn letztere auch deswegen, weil sie wirklich eintreten werden, vorausgesehen werden, nicht aber, weil sie vorausgesehen werden geschehen: so müssen sie hoch entweder von Gott als künftig eintretend Vorausgesehen werden, oder, als von Gott vorausgesehen, sich verwirklichen, und jede dieser zwei Möglichkeiten würde für sich schon genügen, um jede Willensfreiheit illusorisch zu machen. – Wie widersinnig ist es überhaupt, das Eintreten zeitlicher Dinge für den Grund der ewigen Vorsehung zu erklären! Denn zu sagen, daß Gott deswegen die Dinge vorhersehe, weil sie thatsächlich geschehen werden, das ist doch eigentlich nichts anderes, als früher vorgefallene Dinge, bereits feststehende Thatsachen, für den Grund göttlicher Voraussicht zu halten! – Ferner: wenn ich von einem Dinge weiß, daß es existiert, dann muß es eben auch existieren. Ebenso aber muß auch dasjenige eintreten, von dem ich gewiß weiß, daß es eintreten wird so ist es also unmöglich, daß ein Ereignis, von dem ich wirklich vorherweiß, nicht geschehe. Endlich: wenn jemand eine den thatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechende Ansicht hat, so liegt kein wahres Wissen vor, sondern eine irrtümliche Meinung, die von der Wahrheit des wirklichen Wissens sehr weit entfernt ist. Wenn also ein Thun oder Geschehen seiner Natur nach derartig ist, daß man nicht[138] sicher und bestimmt sagen kann, daß es eintreten wird, wer wird dasselbe dann überhaupt vorherwissen können? Wie wahre Wissenschaft nichts irrtümliches enthalten kann, so ist es auch einfach unmöglich, daß eine Sache sich thatsächlich anders verhalte, als eben diese Wissenschaft sie auffaßt. Die Wissenschaft kann aber aus dem Grunde nichts Falsches enthalten, weil kein Ding sich anders verhalten kann, als es von der untrüglichen wahren Wissenschaft begriffen wird!

Wie steht es nun aber? Wie kann Gott diese ihrer Natur nach ungewissen Dinge vorauswissen? Hält er das Eintreffen von Ereignissen, die möglicherweise auch ungeschehen bleiben könnten, für vollkommen sicher, so täuscht er sich: dies darf man aber nicht einmal denken, geschweige denn offen aussprechen! Wenn Gott aber die richtige Anficht über die Zukunft solcher Dinge hat und erkennt, daß sie ebensogut geschehen wie ungeschehen bleiben können, so kann man das doch kein Vorherwissen nennen, da er ja gar nichts Sicheres und Bestimmtes weiß. Es würde damit ebenso sein wie mit dem lächerlich klingenden Seherspruch des Tiresias:


›Was ich verkünd', o Laertessohn, wird sein oder nicht sein!‹


Inwiefern würde denn die göttliche Voraussicht die menschlichen Meinungen übertreffen, wenn sie, ebenso wie die Menschen, solche Dinge, deren Zukunft ungewiß ist, auch für ungewiß erklären müßte? Wenn aber bei diesem sichersten Quell aller Dinge keine Unsicherheit bestehen kann, dann muß doch auch alles genau so eintreffen, wie Gott es bestimmt vorhergewußt hat. Da gäbe es denn keine Freiheit mehr für die menschlichen Gedanken und Handlungen, die der göttliche Geist alle voraussieht und jedem seine eine, unabänderliche Zukunft zuweist. Wenn man dies aber anerkennt,[139] wie traurig sind dann die Folgen, die sich daraus für die menschlichen Verhältnisse ergeben! Zwecklos und bedeutungslos würden damit alle Strafen und alle Belohnungen, die für die Bösen und die Guten ausgesetzt sind, da sie nicht mehr durch freie und selbstthätige Willensäußerungen verdient werden! Im höchsten Grade ungerecht würde dann erscheinen, was uns heute das Gerechteste dünkt, daß nämlich die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden, denn dann werden diese ja zum Bösen wie zum Guten nicht mehr durch den eigenen Willen, sondern durch die unabänderliche Bestimmtheit der Zukunft geführt werden. Es würde dann kein. Laster und keine Tugenden mehr geben sondern wirr und ununterscheidbar würden Verdienst und Verschuldung durcheinander gemengt sein! Die allerlächerlichste Folge wäre aber diese: da die ganze Weltordnung aus der göttlichen Vorsehung abgeleitet und dem menschlichen Denken keine Selbstthätigkeit mehr belassen würde, so müßten dann auch alle unsere Laster und Unthaten aus den Vater alles Guten zurückgeführt werden!

Außerdem hätte dann aber auch alles Hoffen und alles Beten gar keinen Sinn mehr. Denn was sollen wir hoffen oder erbitten, wenn alles, also auch das, was wir uns wünschen, in der unabänderlichen Folge der Geschicke schon jetzt vorherbestimmt ist? Damit würde aber der einzige unmittelbare Verkehr zwischen Gott und den Menschen hinwegfallen, der eben im Hoffen und im Gebet besteht. Können wir durch schuldige Demütigung das unschätzbare Gut der göttlichen Gnade erlangen, so ist dies eben die einzige Art, wie die Menschen mit Gott in Verbindung treten und des unerreichbaren Gotteslichtes, schon bevor sie zu seiner Herrlichkeit eingehen, teilhaftig werden können! Nehmen wir aber eine unabänderlich vorherbestimmte Zukunft an, so verlieren Hoffnung und Gebet ihre Kraft, und wie vermöchten wir dann noch zur Vereinigung und Verbindung mit dem höchsten Lenker aller Dinge zu gelangen?![140] Dann könnte man wirklich mit den Worten deines Liedes sagen, daß das Menschengeschlecht, von seinem ewigen Quell getrennt, verwelken und verfallen müßte!«

Was untergräbt die Verknüpfung der Dinge?

Welche Gottheit reizte die Wahrheit

gegen die Wahrheit zu heftigem Kampfe?

Jede für sich ward nimmer bezweifelt,

nicht aber gelten sie nebeneinander.

Oder besteht hier keinerlei Zwiespalt?

Muß nicht zum Wahren sich fügen das Wahre?

Ach, unser Geist in den Banden des Körpers

kann bei der schwächeren Flamme des Lichtes

nicht mehr die feinsten Verknüpfungen finden!

Aber weshalb denn begehrt er so glühend

nach der verschleierten Wahrheit Erkenntnis?

Weiß er denn, was er sich müht zu erkennen?

– Wer aber strebt nach erlangter Erkenntnis? –

Weiß er es nicht: was sucht er so blind dann?

– Keiner begehrt doch, was nicht er erkannte,

keiner erstrebt doch so dunkele Ziele! –

Wo soll er suchen? Und wenn er gefunden,

woran erkennen, es sei das Ersehnte?

Einst hat erkannt er mit göttlicher Klarheit

nicht nur das Ganze, das Einzelne gleichfalls.

Aber auch jetzt, in den Banden des Körpers,

hat er nicht gänzlich vergessen des Ursprungs,

schaut noch das Ganze, doch nicht mehr die Teile!

Also der Mensch, wenn er strebt nach der Wahrheit.

nicht mehr erkenntlich erblickt er die Ziele.

Aber ein Ahnen verblieb ihm im Herzen:

Ans Allgemeine sich immer erinnernd,

zieht er zu Rate das droben Geschaute,

daß an der Hand des geretteten Wissens

wieder er finde verlorene Wahrheit!
[141]

Hieraus entgegnete die Philosophie: »Der Streit über die Vorsehung ist schon sehr alt. Auch Cicero hat ihn in seiner Untersuchung über die Gabe des Voraussehens lebhaft erörtert, du selbst hast lange und viel darüber nachgedacht, aber trotzdem ist noch niemand mit ausreichendem Fleiß und der erforderlichen Folgerichtigkeit bis zur Erkenntnis der Wahrheit durchgedrungen. Daß die Frage immer in Dunkel gehüllt geblieben ist, kommt aber daher, daß die Kraft menschlicher Gedankenarbeit das einfache Wesen des göttlichen Vorherwissens eben nicht zu erfassen vermag. Könnte sie es, so würden ihr damit sofort alle Zweifel für immer gelöst sein.

Ich werde nun versuchen, die Frage zu erörtern und aufzuklären; vorher aber will ich noch etwas näher auf dasjenige eingehen, was dich in dieser Sache so mächtig beunruhigt. Ich frage dich also, warum du jene von dir erwähnte Erklärungsweise für unannehmbar hältst, die da behauptet, daß die göttliche Voraussicht der Freiheit des Willens deswegen nicht entgegenstehe, weil sie nicht der Grund für die Notwendigkeit des Eintretens zukünftiger Ereignisse sei. Du kannst also diese Notwendigkeit, ganz abgesehen von dem Verhältnis von Grund und Folge, nur so verstehen, daß das im voraus Erkannte eben auch wirklich geschehen muß. Wenn also, wie du vorhin sagtest, die Notwendigkeit künftiger Ereignisse nicht durch das Vorherwissen selber bewirkt ist, wodurch sind dann die aus freiem Willen beruhenden Geschehnisse in dieser ganz bestimmten Weise zur Vollendung gebracht? Nehmen wir doch, damit tu dir über die Folgen klar wirst, beispielsweise einmal an, es gebe kein Vorherwissen: dann kann doch von dieser Seite her die Notwendigkeit der auf freiem Willen beruhenden Ereignisse nicht bewirkt werden. Nicht wahr?« – »Gewiß nicht!« – »Nehmen wir nun aber an, es gebe ein Vorherwissen, dasselbe sei aber nicht der bewirkende Grund für die Notwendigkeit der Ereignisse, so bleibt meiner[142] Ansicht nach die Freiheit des Willens voll und unbeschränkt bestehen.

Darauf wirst du vielleicht entgegnen, daß das Vorherwissen, wenn es auch nicht selbst die Notwendigkeit des Geschehens begründe, doch ein Zeichen dafür sei, daß irgend etwas notwendigerweise eintreten werbe. Damit wäre aber doch, auch abgesehen von allem Vorhererkennen, die Notwendigkeit des zukünftigen Geschehens angenommen. Jedes Zeichen zeigt eben etwas Thatsächliches an, wenn es dies auch nicht selber bewirkt. Es muß also vorerst dargethan werden, daß alles mit Notwendigkeit geschehe, damit dann die Vorsehung das Zechen für diese Notwendigkeit sein könne. Wenn die Notwendigkeit nicht bestände, so könnte auch die Vorsehung kein Zeichen von ihr sein. Ein sicherer beweis, wirst du dann weiter sagen, kann aber nicht auf derartige bloße Zeichen und von außen hergenommene Argumente gestützt werden, sondern nur auf zusammenhängende, wirklich notwendige Gründe. Ja, wie ist es nun aber bei alledem denkbar, daß das, was bestimmt vorhergesehen wird, auch nicht eintreten könne?! Wir glauben doch einerseits nicht, daß die Ereignisse, deren Geschehen die Vorsehung im vorausgeschaut hat, nicht eintreten werden, andererseits sind wir ebensowenig der Ansicht, daß solche Ereignisse, wenn sie wirklich eintreten, allein durch die in ihnen wirkende Naturnotwendigkeit veranlaßt worden sind. Folgendes Beispiel mag dies noch deutlicher zeigen: wir sehen doch viele Dinge sich vor unseren Augen vollziehen, wir sehen z.B. die Thätigkeit der Rosselenker auf dem Wagen, wie sie das Gespann leiten und es ausbiegen lassen; und viele ähnliche derartige Dinge. Wird nun irgend eins derselben völlig durch die Notwendigkeit in seinem Verlaufe bestimmt?«

»Gewiß nicht,« sagte ich. »Alle Geschicklichkeit wäre ja ohne Zweck und Wirkung, wenn alles gezwungen seinen Gang ginge!«[143]

»Was also bei seinem Geschehen nicht notwendig war,« fuhr sie fort, »das war auch vorher schon zukünftig, ohne deswegen auch notwendig zu sein. Es giebt also zukünftige Dinge, deren Eintreten von jeder Notwendigkeit völlig frei ist. Niemand wird doch behaupten, daß jetzt thatsächlich geschehende Dinge früher nicht zukünftig gewesen seien. Solche Dinge haben also, auch wenn sie vorhergesehen werden, dennoch Freiheit in ihrem Geschehen. Denn ebensowenig wie das Wissen von gegenwärtigen Dingen für das, was jetzt geschieht, so bewirkt auch das Vorherwissen der Zukunft keine Notwendigkeit für die zukünftigen Ereignisse.

Nun wirst du allerdings sagen, daß ja gerade dies bezweifelt werde, ob es von Dingen, deren Eintreten zweifelhaft sei, überhaupt ein Vorherwissen geben könne. Es scheint dir dies ein Widerspruch zu sein und du glaubst, daß aus dem Vorherwissen auch die Notwendigkeit des Eintreffens folgen müsse, daß ohne Notwendigkeit kein Vorherwissen bestehen und daß wahres Wissen immer nur etwas ganz Bestimmtes erfassen könne. Wenn aber Dinge, deren Geschehen ungewiß ist, als ganz bestimmt vorausgesehen werden, so sei dies nur eine unsichere Vermutung und kein wahres Wissen. Mit der Reinheit wirklichen Wissens sei es unvereinbar, daß dasselbe eine Sache anders auffasse, als wie sich diese thatsächlich verhalte.

Diese ganze Ansicht ist aber irrtümlich und zwar deshalb, weil sie davon ausgeht, daß alles, was man weiß, nur nach der Natur und dem Wesen des Gewußten selber erkannt wird. In Wahrheit ist aber gerade das Gegenteil der Fall, denn alles, was erkannt wird, wird nicht nach seinem eigenen Wesen, sondern vielmehr nach der geistigen Veranlagung des Erkennenden aufgefaßt. Um dies an einem einfachen Beispiel klar zu machen: dieselbe runde Gestalt eines Körpers wird durch das Gesicht anders als durch den Tastsinn erkannt. Ersteres erfaßt und umfaßt aus der Entfernung mit einem Blicke das Ganze. Letzterer tritt an[144] das Objekt selbst heran und indem er sich von ringsher an dasselbe anschmiegt, erkennt er durch die Gesamtheit der einzelnen Berührungen die Rundung der Form.

Auch der Mensch selbst erscheint den Sinnen anders als der Einbildungskraft, noch anders dem Verstande, noch anders endlich der unmittelbar anschauenden Vernunft. Die Sinne nämlich erkennen die Gestalt in der sie bildenden Materie, die Einbildungskraft aber als solche, ohne diese Materie; darüber hinaus aber geht der Verstand und faßt die einzelnen Erscheinungen zu einer Gesamtheit zusammen. Noch vollkommener aber ist die Anschauung der reinen Vernunft. Diese bildet nicht erst induktiv eine Gesamtheit, sondern die schaut unmittelbar durch die ungetrübte Kraft des Geistes die einfache Idee des Menschen an sich.

Hierbei ist aber noch eines höchst beachtenswert: die höhere Art und Form der Auffassung umfaßt nämlich auch die niedere, diese kann sich aber niemals zu jener erheben. Die Sinne können niemals etwas anderes als die Materie, die Einbilbungskraft kann nie den aus der Allgemeinheit gewonnenen Begriff, der Verstand aber niemals die einfache Idee selbst erfassen. Die reine Vernunft dagegen Schaut gleichsam aus der Höhe herab, und wenn sie die Idee einmal erfaßt hat, so erkennt sie auch alles ihr Untergeordnete und zwar auf eben dieselbe Weise, wie sie auch die von keinem sonst geschaute Idee selbst erkannt, hatte. Denn auch den allgemeinen Begriff des Verstandes, die stofflosen Gestalten der Einbildungskraft und die sinnliche Materie erkennt sie nicht durch eben den Verstand, die Einbildungskraft und die Sinne, sondern mit einem einzigen Blicke des Geistes, sozusagen ideell, erfaßt sie das Ganze. Ebenso erkennt auch der Verstand, wenn er den allgemeinen Begriff eines Dinges erfaßt hat, zugleich auch das Vorstellbare und das Sinnliche dieses Dinges ohne Einbildungskraft und ohne die Sinne. Er faßt nämlich seinen allgemeinen Begriff so: der Mensch ist ein auf zwei Beinen gehendes, vernunftbegabtes[145] Lebewesen. Dies ist nun zwar ein allgemeiner Begriff aber jeder weiß sofort, daß ihm ein vorstellbares und sinnlich wahrnehmbares Objekt zu Grunde liegt, das der Verstand nicht durch die Einbildungskraft oder die Sinne, sondern durch Begriffliches erkennen aufgefaßt hat. Auch die Einbildungskraft, die allerdings auf den Sinnen beruht, mittelst deren wir anschauend oder tastend die Gestalten erkennen: auch sie erkennt das Sinnliche nicht durch Sinnliches Erfassen, sondern einzig und allein durch die Vorstellung.

Siehst du nun ein, wie beim Erkennen die Erkennenden mehr nach ihrer eigenen Art und Anlage die Dinge erfassen, als nach der Natur dieser letzteren selbst? Und das hat auch seinen guten Grund! Denn da jedes Urteil ein Thätigwerden des Urteilenden ist, so muß dieser seine Thätigkeit doch notwendigerweise durch seine eigene Kraft und nicht durch eine fremde erfüllen!


Trüb und dunkel erscheint uns jetzt

jener stoischen Greise Wort:

daß sich alles Empfinden nur,

alle Bilder, von außen her

prägen uns in den Geist hinein,

wie mit eilendem Griffel oft

auf geglätteter Tafel Plan,

der noch nimmer empfing die Schrift,

Zeichen bildet der Druck der Hand.

Doch wenn eigene Kräfte nichts

zeigen könnten dem Menschengeist,

wenn er immer geduldig nur

müßt' empfangen von außen her,

wiedergeben, ein Spiegel nur,

leere Bilder der Wirklichkeit:

woher kämen dem Menschengeist

allumfassende Kräfte dann,

der das Einzelne klar durchschaut,

der zergliedert Erkanntes auch,[146]

dann es wieder vereint erfaßt?!

Wechselnd wählt er die Wege sich:

Hebt zum Himmel das Haupt empor,

steigt hinab in der Erde Schoß,

zieht sich dann in sich selbst zurück,

weist am Wahren das Falsche nach.

So ist immer des Menschen Geist

machtvoll thätig und nimmt fürwahr

nicht bloß duldend den Eindruck auf,

den der äußere Stoff bewirkt.

Zwar den lebenden Körper trifft,

ihm erregend des Geistes Kraft,

stets ein äußerer Eindruck erst:

wenn das Auge das Licht erblickt,

wenn zum Ohre die Stimme dringt

Dann des Geistes erregte Kraft

weckt bewegend im Herzen auf

gleichgestimmter Ideen Schar,

prüft nach ihnen das äußre Ding,

reiht das neu gefundene Bild

ein in die Schätze des Geistes!


Wenn also in dieser Weise bei der Wahrnehmung körperlicher Gegenstände, obgleich zunächst nur außer uns liegende Eigenschaften derselben auf unsere Sinne wirken und dem Thätigwerden unserer Geisteskräfte ein auf den Körper gemachter Eindruck vorausgeht, der die Thätigkeit des Geistes auf sich richtet und die bisher im Innern schlummernden Ideen erweckt: ich sage, wenn bei einer solchen Wahrnehmung körperlicher Gegenstände der Geist nicht direkt von außen affiziert wird, sondern von sich aus, aus eigener Kraft über die auf den Körper ausgeübten eindrücke urteilt: wieviel mehr wird dann noch ein von aller körperlichen Einwirkung ganz freies Wesen in seinen Urteilen nicht an die äußeren Objekte gebunden sein und eine freiere Bethätigung seines Geistes entfalten![147]

Es ist in dieser Weise den verschiedenen Wesen auch ein vielfach abgestuftes Erkenntnisvermögen zu teil geworden. Nur die Sinne allein, ohne alle anderen Erkenntnismittel, besitzen die unbeweglichen Geschöpfe, wie z.B. die Muscheln des Meeres und alle diejenigen Gebilde, die an den Felsen festgewachsen leben. Die Einbildungskraft würde den beweglichen Tieren beschieden, bei denen wir schon bestimmte Seelische Regungen, finden, kraft deren sie das eine fliehen, das andere aber begehren. Verstand besitzt nur das Menschengeschlecht und die höchste Vernunft endlich ist allein der Gottheit eigen. Dabei ist nun diejenige Erkenntnis den anderen überlegen, die ihrer Natur nach nicht nur das ihr speciell, sondern auch das den übrigen Erkenntnisarten Zugängliche erfaßt.

Wie wäre es nun aber, wenn z.B. die Sinne und die Einbildungskraft sich gegen den Verstand erhöben und dem Allgemeinen, das jener zu schauen vorgiebt, die Wirklichkeit absprächen? Wenn sie sagten: was sinnlich wahrnehmbar und vorstellbar ist, das kann nichts Allgemeines sein. Hätte also der Verstand recht, so würde das Sinnliche gar nicht wirklich existieren. Da es aber unbestreitbar ist, daß es gar vielerlei Sinnliches und Vorstellbares giebt, so sind die Begriffe des Verstandes völlig leer, da sie das konkrete, sinnlich wahrnehmbare Einzelding als etwas; Allgemeines, als einen bloßen Begriff auffassen. – Wenn nun der Verstand darauf antwortete, daß er auch das Sinnliche und Vorstellbare in seinen allgemeinen. Begriffen mit begreife, daß aber jene anderen Erkenntnisarten sich gar nicht zu der Erfassung des Allgemeinen erheben könnten, da eben ihr Erkenntnisvermögen nicht übersinnliche Erscheinungen hinauskomme, daß man sich aber doch jedenfalls bei der Erkenntnis der Dinge, immer an das zuverlässigere und vollkommenere Urteil halten müsse: würden dann wir, denen sowohl die Kraft des Verstandes als auch die Einbildungskraft und die sinnliche Wahrnehmung gegeben ist, uns in[148] diesem Streite nicht viel eher auf die Seite des Verstandes als auf die seiner Gegner stellen müssen?!

Ähnlich ist es nun aber, wenn der menschliche Verstand glaubt, daß die göttliche Vernunft die zukünftigen Dinge nur in derselben Weise, wie er selbst, anzuschauen vermöge. Du folgerst nämlich so: Diejenigen Dinge, deren Eintreffen nicht sicher und notwendig ist, können auch nicht bestimmt vorausgesehen werden. Von diesen Dingen kann es also kein Vorherwissen geben, denn dann müßte eben alles mit Notwendigkeit eintreten. – Wenn wir aber, wie des Verstandes, so auch der höchsten göttlichen Einsicht teilhaftig werden könnten, dann würden wir, ebenso wie wir die Einbildungskraft und die Sinne dem Verstande unterordnen, ebenso das Zurücktreten des Verstandes gegenüber der göttlichen Vernunft für durchaus gerecht erachten.

Könnte sich unser Verstand also auf die Höhe jener unfehlbaren Einsicht erheben, so würde er von dort aus sehen, was er: durch sich selber nicht zuerkennen vermag, daß es nämlich auch von Dingen, deren Geschehen ungewiß ist, doch ein sicheres und bestimmtes Voraussehen, geben kann und daß diese Voraussicht keine bloße Meinung oder Ahnung ist, sondern ein unmittelbares und von keinerlei Schranken begrenztes Wissen!


Sind doch die Formen der Wesen so mannigfach

hier auf unser Erde!

Lang und gestreckt ist der Körper von einigen,

dichten Staub erregend,

Zieht mit der Brust eine ununterbrochene

Furche durch den Boden.

Andere schweben mit flüchtigen Fittichen

droben mit den Winden,

Heben sich leichteren Fluges noch über des

Äthers weite Räume.

Andere schreiten und pressen die lastende

Sohle tief ins Erdreich;[149]

Diese durchschweifen die Felder als Wanderer,

jene dichte Wälder. –

Diese Geschöpfe die allerverschiedensten

Formen zwar besitzen,

Doch es beschränkt das zur Erbe gerichtete

Antlitz ihre Sinne!

Einzig das Menschengeschlecht mit erhobenem

Haupte vorwärts schreitet!

Leicht ihm und aufrecht erhebt sich der Körperbau,

achtet nicht der Erde.

Diese Gestalt, wenn du nicht in den irdischen

Fesseln thöricht schmachtest,

Mahnt, wie das Antlitz erhebst und die Stirne du

frei empor zum Himmel,

So die Gedanken zu richten aufs Höhere,

daß nicht tief am Boden

Liege dein göttlicher Geist, da der Körper doch

stolz und aufrecht schreitet!


»Da also,« fuhr sie fort, »alle Gegenstände unseres Wissens, wie soeben gezeigt ist, nicht nach ihrer eigenen, sondern nach der Natur der sie Erkennenden aufgefaßt werden, so wollen wir jetzt, soweit uns dies möglich ist, die Natur des göttlichen Wesens zu erkunden suchen, damit wir damit zugleich auch erfahren, welcher Art das göttliche Wissen sei.

Nun ist aber doch von alten mit Verstand begabten Menschen anerkannt, daß Gott ewig sei, und wenn wir demnach jetzt den Begriff der Ewigkeit klarzustellen suchen, so wird sich aus ihm dann auch über das göttliche Wesen und das göttliche Wissen das Richtige ergeben. Ewigkeit ist aber der unbeschränkte, das Ganze zugleich umfassende vollkommene Besitz des Lebens, was durch eine Vergleichung mit den zeitlichen Dingen noch deutlicher werden wird. Was nämlich in der Zeit lebt, das geht, jetzt gegenwärtig, aus der Vergangenheit in die Zukunft hinüber, und es giebt nichts Zeitliches, das die ganze Ausdehnung seines[150] Lebens zugleich umfassen, sein ganzes Leben gleichzeitig leben könnte. Vielmehr hat es in jedem Moment das Morgen noch nicht erreicht, das Gestern schon wieder verloren, und auch in dem heutigen sehen lebt man eben nur in dem jeweiligen einen, vorübergehenden, flüchtigen Augenblick, Ein Ding also, das den Gesetzen des zeitlichen Verlaufs unterworfen ist, wenn es auch, wie Aristoteles dies von der Welt behauptet, nie begonnen hat zu sein und nie aufhören wird und im unendlichen Verlauf der Zeit immer weiter lebt: es ist darum doch noch nicht so beschaffen, daß es mit Recht als ewig bezeichnet werden könnte. Denn wenn sein sehen auch von unendlicher Dauer ist, so umfaßt und lebt es doch nicht dieses ganze Leben gleichzeitig, sondern das in der Zukunft liegende begreift es noch nicht in sich.

Ewig wird dagegen mit Recht dasjenige genannt, was die ganze Fülle des unendlichen Lebens zugleich umschließt und besitzt, so daß nichts Zukünftiges sich ihm entzieht und nichts Vergangenes ihm schon wieder verloren ging. Ein solches Wesen muß sich seiner selbst in seinem ganzen Umfang allzeit bewußt und teilhaftig, sich selbst in jedem Augenblick vollkommen gegenwärtig sein. Die ganze Unendlichkeit der ablaufenden Zeit ist für ein solches Wesen Gegenwart! Daher sind diejenigen im Unrecht, die sich auf das Wort des Platon stützen, daß diese Welt leinen Anfang gehabt habe und auch kein Ende haben werde, und die deshalb die erschaffene Welt für gleich ewig mit ihrem Schöpfer halfen. Ein Anderes nämlich ist es, ein unbegrenzt dauerndes Leben zu führen, wie dies Platon von der Welt behauptet, ein Anderes aber ist es, die unbegrenzte Dauer des Lebens gleichzeitig zu leben und sie zu einer einheitlichen Gegenwart zusammenzufassen, wie dies offenbar im Wesen des höchsten Geistes liegt. Nicht mit Rücklicht auf zeitliche Dauer darf Gott als der Schöpfung vorausgehend angesehen werden, sondern nur auf Grund seines ureigenen, einfachen Wesens![151]

Diese Allgegenwart des ganzen beweglichen Lebens sucht nun jener unendliche Wechsel der zeitlichen Dinge nur nachzuahmen, und da er sie nicht wirklich nachbilden und ihr nicht gleichkommen kann, so ist statt des ständigen Beharrens die Bewegung sein Los und statt der einfachen Gegenwart eine endlose Vergangenheit und Zukunft!

Da das Irdische ferner die ganze Fülle seines Lebens nicht mit einemmal besitzen kann, so sucht es den Zustand, den es vollkommen nicht zu erreichen und zu verwirklichen vermag, doch dadurch nachzuahmen, daß es ebenfalls in gewisser Weise nie zu sein aufhört, indem es sich an die – wenn überhaupt so zu bezeichnende Gegenwart dieses einzigen, flüchtigen Augenblicks anklammert; und diese Gegenwart, die ja gleichsam ein Abbild sein soll jener steten Allgegenwart, verleiht den Dingen, die sie jeweilig umfaßt, den Schein des wirklichen Seins.

Da also das irdische nicht zu beharren vermag, so beschreitet es den unendlichen Weg der Zeit und so geschieht es, daß es im fortschreiten die Dauer des Lebens bewirkt, das es im Beharren nicht in seiner ganzen Fülle gleichzeitig umfassen konnte. Wenn wir die Dinge also mit ihrem rechten Namen nennen wollen, so müssen wir, nach Platons Ausspruch, Gott als ewig, die Welt aber als unbegrenzt dauernd bezeichnen!

Da nun aber jedes Urteil die Dinge, auf die es sich richtet, nur nach der eigenen Natur des Urteilenden erkennt, und da Gott seiner Natur nach ewig und allgegenwärtig ist, so geht auch das göttliche Wissen über alle zeitliche Bewegung hinaus und hat nur eine einzige, einfache Gegenwart. Es umfaßt also auch die unendlichen Räume der Vergangenheit und der Zukunft und schaut in seiner einfachen Erkenntnis alles, als ob es gerade jetzt gegenwärtig geschehe. Willst du diese Gegenwärtigkeit, in der Gott alles zugleich erkennt, richtig, begreifen, so darfst du sie nicht als ein Vorherwissen künftiger Dinge, sondern nur als ein[152] Wissen des allzeit Gegenwärtigen auffassen. Ebenso sollte man demgemäß auch nicht von einem Vorausschauen, sondern nur von einem ›Schauen‹ schlechthin reden, das machtvoll erhaben über alle niederen Dinge wie von einer hohen warte herab das All überblickt!

Kannst du nun etwa noch behaupten, daß dasjenige, was vom Auge der Gottheit geschaut werde, darum auch notwendig geschehen müsse, da doch auch die Menschen das, was sie sehen, dadurch nicht notwendig machen? Oder glaubst du etwa, daß dem Dinge, das du als gegenwärtig erkennst, eben dein Blick irgend welche Notwendigkeit beilegen könne?« – »Gewiß nicht!« – »Wenn wir also demnach die göttliche und die menschliche Gegenwart einmal miteinander vergleichen, soweit eine solche Vergleichung überhaupt zulässig ist, so ist zu sagen, daß, wie ihr Menschen gewisse bestimmte Dinge in eurer zeitlichen Gegenwart wahrnehmt, daß so Gott die Gesamtheit aller Dinge in seiner ewigen Allgegenwart schaut. Daher ändert das göttliche Vorher schauen oder vielmehr Schauen das Wesen und die Eigenheit der Dinge nicht, sieht sie vielmehr nur einfach so als gegenwärtige vor sich, wie sie in der Zeit als künftige geschehen werden. Unfehlbar und ohne jeden Irrtum in der Beurteilung erkennt er in einem einzigen geistigen Erfassen sowohl, was notwendig, als auch, was frei und willkürlich eintreffen wird. Es ist ebenso wie wenn ihr gleichzeitig einen Menschen auf der Erde lustwandeln und die Sonne am Himmel aufgehen seht: obgleich ihr beides zugleich erblickt, so macht ihr doch einen Unterschied und erkennt das eine als eine freiwillige Bewegung, das andere als einen notwendigen Vorgang. Ebenso hält auch Gott, der alles zugleich schaut, die verschiedenen Dinge sehr wohl auseinander, die ihm selber als gegenwärtig erscheinen, vom Standpunkte des Zeitablaufs aber erst in der Zukunft geschehen werden. Deshalb hat Gott aber auch keine bloße Meinung oder Ahnung, sondern ein auf vollkommenster[153] Wahrheit beruhendes Erkennen, da er bei den Dingen, deren Dasein er wahrnimmt, auch sehr wohl weiß, wann seine Notwendigkeit für ihr eintreten vorgelegen hat.

Wenn du darauf nun doch noch sagst, es sei unmöglich, daß dasjenige, dessen künftiges Erscheinen Gott sieht, nicht geschehe, daß aber dasjenige, dessen Nicht- Eintreffen unmöglich ist, eben notwendig geschehen müsse, und wenn du mir dabei gerade das Wort Notwendigkeit durchaus aufzwingen willst, so werde ich darauf etwas erwidern, das zwar unbestreitbar wahr ist, das aber wohl nur ein treuer Erforscher des göttlichen Wesens verstehen wird. Ich antworte dir nämlich, daß dasselbe künftige Ereignis, mit Rücksicht auf die Kenntnis, die Gott von ihm hat, notwendig ist, seiner eigenen Natur nach aber vollkommen frei und ungezwungen geschieht. Es giebt nämlich zwei Arten von Notwendigkeit, die einfache, wie z.B. in dem Satz: ›Alle Menschen müssen notwendigerweise sterben‹, und eine bedingte, wonach es z.B. notwendig ist, daß ein Mensch, von dem du gewiß weißt, daß er spazieren geht, auch wirklich spazieren geht. Denn was jemand wirklich weiß, das kann natürlich nicht anders sein, als er es weiß, aber diese Bedingung bewirkt doch immer noch nicht jene andere einfache Notwendigkeit. Die zweite Art der Notwendigkeit liegt eben nicht in der eigenen Natur des betreffenden Vorgangs, sondern sie wird nur durch den Hinzutritt einer Bedingung bewirkt. Den freiwilligen Spaziergänger treibt doch keine zwingende Notwendigkeit zum Gehen, obgleich er natürlich dann, wenn er umherspaziert, notwendigerweise gehen muß. Ebenso muß auch das, was die Vorsehung als gegenwärtig schaut, notwendigerweise geschehen, wenn auch in seiner eigenen Natur keine Notwendigkeit dafür begründet ist. Nun sind aber dem göttlichen Geiste auch diejenigen zukünftigen Dinge gegenwärtig, die aus voller Freiheit des Willens hervorgehen. Diese sind also mit Rücksicht auf das göttliche Schauen notwendig, weil eben das Bedingtsein durch[154] die Kenntnis, die Gott von ihnen hat, hinzukommt; an sich betrachtet behalten sie aber durchaus die volle Freiheit ihrer Natur. Es ist also zweifellos, daß alle Dinge, die Gott als künftige erkennt, auch wirklich geschehen, aber einige von ihnen treten eben auf Grund freier Willensentschließung ein und verlieren mit ihrer Verwirklichung noch nicht ihren eigenartigen Charakter, kraft dessen sie vor ihrem Eintreffen auch ebensogut hätten ungeschehen bleiben können.

Was hat das Nicht-notwendig-sein nun aber für einen Sinn, wenn auch nicht notwendige Dinge kraft der Bedingtheit durch das göttliche Wissen genau so, als ob sie notwendig wären, geschehen müssen? Es ist hierbei ebenso, wie mit den kurz vorher erwähnten Dingen, dem Wandeln des Menschen und dem Aufgehen der Sonne. In dem Moment, wo diese Dinge geschehen, ist es unmöglich, daß sie nicht geschehen, und dabei war das eintreten des einen auch schon vor seiner Verwirklichung notwendig, während dies bei dem anderen durchaus nicht der Fall war. Ebenso ist nun auch die Verwirklichung der von Gott als gegenwärtig geschauten Dinge über jeden Zweifel erhaben und doch sind die einen von ihnen sachlich notwendig, die anderen dagegen von der Willkür handelnder Menschen abhängig. Von diesen letzteren können wir also mit Recht sagen, sie seien mit Rücklicht auf die göttliche Allwissenheit notwendig, für sich betrachtet aber frei von allem Zwang der Notwendigkeit, ähnlich wie die durch die Sinne erkennbaren Gegenstände, vom Standpunkt des Verstandes aus aufgefaßt, gewisse allgemeine Begriffe verkörpern, an sich betrachtet aber nur Einzeldinge sind.

Nun wirst du vielleicht noch sagen: wenn es wirklich in meiner Macht steht, meine Vorsätze beliebig zu andern, so kann ich ja die Vorsehung zu schanden machen, indem ich das, was sie vorauszusehen glaubt, einfach willkürlich andere. Darauf erwidere ich dir: Es ist zwar richtig, daß du deine Vorsätze ändern kannst, aber da der allgegenwärtige,[155] untrügliche Blick der Vorsehung eben auch erkennt, daß du dies kannst und auch ob du es wirklich thust und nach welcher Richtung hin deine Willensänderung sich wendet, so kannst du trotz alledem dem göttlichen Vorherwissen nicht entgehen, wie du ja auch dem Blick eines gegenwärtigen Auges nicht entgehen kannst, so mannigfache Handlungen, du auch aus freiem Willen vornehmen magst.

Was wirst du auf dies alles nun sagen? Glaubst du immer noch, daß das göttliche Wissen durch deine Willensbestimmungen verändert wird, in der Weise, daß sich mit den Änderungen deines Willens auch das göttliche Wissen jedesmal ändern muß? – Nein, ich sehe es, du glaubst es nicht mehr! Es eilt vielmehr das Schauen, der Gottheit allem künftigen Geschehen voraus: und versetzt es in die eine Gegenwart, die seine Erkenntnis völlig umfaßt. Es ändert sich: nicht, wie du meinst weil es bald dies, bald jenes vorherwissen müsse, sondern selber immer unverändert kommt es mit einem einzigen Blicke allen Veränderungen zuvor und umfaßt sie alle zugleich und miteinander!

Diese Gegenwärtigkeit des Erfassens und Schauens aller Dinge besitzt Gott nicht wegen der dereinstigen Verwirklichung des Zukünftigen, sondern lediglich kraft seines eigenen, einfachen Wesens. Damit lösen sich nun auch die Zweifel, die du vorhin äußertest, als du es für unwürdig erklärtest, unsere, zukünftigen Schicksale als Ursache der göttlichen Allwissenheit zu bezeichnen. Hat doch diese Kraft der Allwissenheit, die alles als gegenwärtig erkennt und umfaßt, selbst die Art der Erscheinung aller Dinge bestimmt, ist aber in keiner Weise ihrerseits von künftigen Ereignissen abhängig.

Somit bleibt also dem Sterblichen die ungehemmte Freiheit seiner Entschließungen gewahrt und es sind keine unbilligen Gesetze, die dem von jedem Zwang befreiten Willen Belohnungen und Strafen in Aussicht stellen. Bestehen bleibt auch die Gottheit in voller Kraft und Bedeutung,[156] die aus der Höhe herab alles überschaut und alles vorausweiß, es bleibt auch die ewige Allgegenwart des göttlichen Schauens, dem auch unser künftiges Thun und Treiben immer gegenwärtig sein wird und kraft deren allzeit, gerecht den Guten Belohnungen, den Bösen aber Strafen zu teil werden. Nicht vergeblich sind die auf Gott gerichteten Hoffnungen und die zu ihm emporsteigenden Gebete, die nicht unerfüllt bleiben können, wenn sie Gerechtes erflehen und aufrichtig gemeint sind! Widersteht also dem Laster, übt immer die Tugend, erhebt die Seele in gerechter Hoffnung und richtet demütige Gebete zum Himmel empor!

Wollt ihr euch nicht absichtlich dagegen verschließen, so müßt ihr erkennen, daß in der That eine zwingende Notwendigkeit für euch besteht, euch dem Guten zuzuwenden, denn ihr lebt und ihr handelt vor den Augen eines allsehenden Richters!«[157]

Quelle:
Boetius: Die Tröstungen der Philosophie. Leipzig [o.J.].
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