Viertes Buch

[98] In sanfter und lieblicher Weise hatte die Philosophie, die immer ihre Hoheit und Würde in Antlitz und Haltung bewahrte, diese Verse vorgetragen. Ich aber konnte den inneren Schmerz doch immer noch nicht völlig vergessen und überwinden und fiel ihr jetzt in die Rede, obgleich sie offenbar noch weiter hatte sprechen wollen. »O Bringerin des Lichts!« rief ich aus, »alles, was ich bisher von dir gehört habe, das steht für mich teils durch seine unmittelbare göttliche Klarheit, teils durch deine eigene Beweisführung unwiderleglich fest und war mir, wenn auch vom Schmerz ob der erlittenen Unbill verdunkelt, doch auch schon vorher nicht völlig unbekannt. Der Hauptgrund für meinen Kummer liegt aber darin, daß, trotzdem ein allgütiger Lenker der Dinge lebt, das Böse nicht nur überhaupt besteht, sondern sogar straflos ausgeht. Daß schon diese Thatsache geeignet ist, die höchste Verwunderung zu erregen, wirst auch du gewiß zugeben. Es kommt nun aber etwas noch schwerer Wiegendes hinzu. Denn unter der Herrschaft und Blüte des Unrechts empfängt die Tugend nicht nur keine Belohnung, sondern sie wird noch überdies von den Bösen mit Füßen getreten und muß an Stelle der Missethaten die diesen gebührenden Strafen erdulden! Daß dies möglich ist in dem Reiche eines Gottes, der alles vermag und alles, aber nur Gutes, will darüber kann niemand genugsam staunen und klagen!«

»Sicherlich,« antwortete die Philosophie, »würde es der allererstaunlichste und ungeheuerlichste Zustand sein, wenn in dem aufs beste geordneten Heim eines solchen Hausvaters[98] die wertlosen Geräte gut behandelt, die kostbaren dagegen verachtet würden! Aber dem ist nicht so! Im Gegenteil, wenn wir unsere vorhin gewonnenen Schlüsse auch jetzt noch gelten lassen, so kannst du aus dem Wesen desjenigen, über dessen Reich wir jetzt sprechen, schon erkennen, daß die Guten stets mächtig, die Bösen ohnmächtig und verworfen sind, daß das Laster immer Strafe, die Tugend dagegen Belohnung empfängt, daß den Guten allein das Glück, den Bösen das Unglück zu teil wird, und noch viele andere ähnliche Wahrheiten, die deine Klagen beschwichtigen und dir Halt und Trost gewähren können. Und da du nun vorhin schon unter meiner Leitung das Wesen und den Sitz der höchsten Glückseligkeit erkannt hast, so will ich dir jetzt, nach Besprechung des notwendig Vorauszuschickenden, den Weg zeigen, der dich sicher wieder nach Hause zurückführen wird! Flügel werbe ich deinem Geiste verleihen, auf denen er sich in lichte Höhen erheben kann, und so wirst du von aller Unruhe frei werden und schließlich auf meinen Wegen, unter meiner Leitung und Führung, gerettet ins Vaterland zurückkehren!«

Denn ich erhebe mit flüchtigen Fittichen

mich hoch empor zum Himmelszelt!

Freudig der Geist, der verachtet das Irdische,

entflieht der niedern Erdenwelt,

dringt durch der Lüfte Bereich, den unendlichen,

sieht unter sich die Wolken ziehn,

schwebt durch die obersten Schichten der Feuerwelt,

die von des Äthers Schwingung glühn.

Während er weilt in der Sterne Bereiche noch,

da teilt er bald des Phöbus Stand,

oder begleitet die Pfade des eiligen

Saturn, des Greifes, als Trabant,

oder er schwingt sich im Kreise mit anderen

Gestirnen, leuchtend klar und hell! –

[99] Wenn er genug ihre Sphären erkundete,

verläßt er ihre Grenzen schnell,

folgt nur dem Äther, dem hellen, beweglichen,

und schaut das heil'ge Himmelslicht!

Hier hält das Scepter der König der Könige,

er thront im höchsten Weltgericht,

führt den geflügelten Wagen unwandelbar

und lenkt ein jegliches Geschick!

Führte der Weg, den du suchst, o Vergeßlicher,

dich hier auf diese Höhn zurück,

dann wirst du rufen: Ja, dies ist mein Vaterland!

Hier sei des Lebens Lauf vollbracht!

Wenn es dich dann auf die Erde gelüstete

zurückzublicken in die Nacht:

Sähst du die Fürsten, vor denen erzitterte

das Volk, beraubt, beraubt der Macht!


»Fürwahr!« sagte ich hierauf, »große Dinge verstrichst du und ich zweifle nicht daran, daß du sie auch wirst ausführen können. Nun aber halte mich auch nicht länger hin, da du meine Erwartung so mächtig erregt hast!« – »Zunächst,« sprach sie, »sollst du erkennen, daß die Guten immer Macht besitzen, die Bösen dagegen aller Gewalt entbehren. Von diesen beiden Sätzen beweist sich jeder durch den andern. Denn da gut und böse Gegensätze sind, so ist, wenn die Macht des Guten feststeht, damit auch die Ohnmacht des Bösen gegeben, und steht andererseits die Gebrechlichkeit des Bösen außer Frage, so ist damit auch die Festigkeit des Guten bewiesen. Um aber unserem Satze eine noch größere Glaubwürdigkeit zu verleihen, will ich aus doppeltem Wege vorgehen und von beiden Seiten her meine Behauptungen beweisen.

Auf zwei Dingen beruht die Wirkung aller menschlichen Handlungen: auf dem Willen und auf der Macht. Fehlt eins von diesen beiden, so kann überhaupt gar nichts zustande kommen. Denn wenn der Wille fehlt, so wird eben das nicht Gewollte überhaupt nicht in Angriff genommen,[100] und wenn die Macht fehlt, so ist der Wille vergeblich. Wenn du also siehst, daß jemand etwas erreichen will, was er doch thatsächlich nicht erreicht, so wirst du nicht daran zweifeln, daß ihm eben die Macht, das Gewollte auch zu vollbringen, gefehlt hat.« – »Das ist klar und nicht zu leugnen!« – »Wenn du aber siehst, daß jemand das erreicht hat, was er wollte: wirst du dann daran zweifeln, daß er auch die Macht dazu gehabt hat?« – »Gewiß nicht!« – »Was also jemand kann, darin ist er mächtig, machtlos aber in dem, was er nicht kann.« – »Das gebe ich zu!« – »Erinnerst du dich nun noch des Schlusses, zu dem wir vorhin gelangten, daß das Ziel alles menschlichen Willens, so verschieden auch thatsächlich sein Streben erscheine, die Glückseligkeit sei?« – »Allerdings, das haben wir bewiesen!« – »Erinnerst du dich ferner daran, daß das Glück daß Gute selbst sei und daß also das Gute von allen gewünscht werde?« – »Daran brauche ich mich gar nicht erst zu erinnern, das ist mir noch durchaus gegenwärtig!« – »Es streben also alle Menschen, gute wie böse, mit demselben Verlangen nach der Gewinnung des Guten?« – »Das müssen wir folgerichtig annehmen« – »Es ist aber gewiß, daß diejenigen, die das Gute erreichen, selbst gut werden. Nicht wahr?« – »Sicherlich!« – »Erreichen also die Guten das Ziel ihres Strebens?« – »Es scheint allerdings so!« – »Wenn aber andererseits die Bösen das Gute, nach dem sie streben, erreichten, so würden sie nicht böse sein.« – »Gewiß nicht!« – »Da also beide Teile das Gute zu erreichen suchen und die einen es wirklich erlangen, die andern aber nicht: ist es da zweifelhaft, daß die Guten mächtig sind, die Bösen aber machtlos?« – »Nein!« sagte ich. »Wer daran zweifelt, der kann die Natur der Dinge nicht erkennen und logische Folgerichtigkeit nicht begreifen!« – »Ferner,« fuhr die Philosophie fort, »wenn Zweien von der Natur dieselbe Bestimmung zu teil geworben ist und der eine in diesem natürlichen Beruf auf das vorgesteckte[101] Ziel hinstrebt und es erreicht, der andere aber seine natürliche Aufgabe nicht zu lösen imstande ist, sondern auf einem andern als dem von der Natur bezeichneten Wege seine natürliche Bestimmung zwar nicht erfüllt, aber den Schein erweckt, als ob er sie erfüllte: wen von diesen beiden wirst du für den stärkeren halten?« – »Ich kann mir nun zwar schon denken,« sagte ich, »wo du hinaus willst, bitte dich aber dennoch, deine Erläuterungen noch etwas weiter auszuführen!« – »Nun gut,« sprach sie. »Wie ist es denn? Glaubst du, daß die Bewegung des Gehens den Menschen von Natur eigen ist, oder leugnest du dies?« – »O, gewiß nicht!« – »Und zweifelst du daran, daß diese Bewegung die natürliche Aufgabe der Füße sei?« – Auch daran zweifle ich nichtig – »Wenn also ein Mensch, der seine Füße zu gebrauten vermag, auf ihnen einherschreitet, ein anderer aber, dem die Füße diesen Dienst versagen, auf den Händen zu gehen versucht: wer von beiden hat dann nach deiner Meinung mit Recht als der Stärkere zu gelten?« – »Schließe nur gleich das übrige hier an,« entgegnete ich, »denn es zweifelt ja natürlich niemand daran, daß derjenige, der seine natürlichen Funktionen zu erfüllen vermag, stärker ist, als der, der es nicht kann!« – »Ich fahre also fort,« sagte meine Gefährtin. »Das höchste Gut, das den Bösen ebenso wie den Guten als Ziel vorgesteckt ist, wird von den Guten durch die natürliche Bethätigung der Tugenden erreicht, die Bösen aber suchen kraft verschiedener Begierden, die mit der natürlichen Ausgabe des Strebens nach dem Guten nichts gemein haben, eben dieses Gute zu gewinnen. Oder bist du etwa anderer Meinung?« – »Durchaus nicht,« antwortete ich, »und auch die Folgen hieraus sind mir schon völlig klar. Denn aus dem, was ich bereits als richtig anerkannt habe, ergiebt sich ja, daß die Guten mächtig, die Bösen aber machtlos sind!« – Sie entgegnete: »Du hast rechte mit deiner vorgreifenden Bemerkung und das ist, wie die Ärzte zu hoffen pflegen, das Zeichen eines geweckten und[102] schon gefestigten Geistes. Ich will daher, da deine Auffassung schon eine so schnelle und sichere geworden ist, jetzt gleich eine ganze Reihe von Gründen und Folgerungen zusammenfassen. Beachte also, wie sehr die Machtlosigkeit der lasterhaften Menschen zu Tage tritt, die nicht einmal dasjenige erreichen können, zu dem ein natürlicher Trieb sie zieht und fast mit Gewalt hinführt! Wie würde es aber erst sein, wenn sie auch von diesem wirksamen und fast unbesieglichen Beistand der leitenden Natur verlassen würden! Sieh nur die Ohnmacht, tu der die frevelnden Menschen befangen sind! Nicht ist es ein leichter und vergänglicher Lohn, nach dem sie vergeblich verlangen, sondern im Streben nach der Summe und dem Kernpunkt aller Dinge erweisen sie sich als unvermögend und gerade in denjenigen Dingen haben sie keinen Erfolg, die bei Tag und bei Nacht ihr ganzes Sinnen und Trachten sind. Gerade hierbei aber zeigt sich die Macht der Guten! Denn ebenso wie du denjenigen, der, auf seinen Füßen einherschreitend, bis an den äußersten für das Betreten überhaupt zugänglichen Ort gelangt, für den kräftigsten Fußgänger halten wirst, so mußt du auch denjenigen, der das äußerste überhaupt denkbare Ziel aller Wünsche erreicht, notwendig für den Mächtigsten halten. Als Gegensatz hierzu ergiebt sich dann eben, daß gerade die Lasterhaften aller Kräfte bar erscheinen. Weshalb verachten sie denn die Tugend und folgen dem Bösen? Aus Unkenntnis des Guten? Dann müßten sie gewiß als machtlos gelten, denn was ist ohnmächtiger als blinde Unwissenheit?! Oder wußten sie, daß das Gute zu erstreben sei? Dann hat sie also böse Lust vom rechten Wege abgeführt. So vermögen eben die durch Ausschweifungen Geschwächten dem Laster nimmermehr zu widerstehen. – Oder haben sie gar mit vollem Wissen und Willen das Gute verlassen und sich dem Bösen zugewandt? Dann aber sind sie nicht nur ohnmächtig, sondern hören überhaupt auf zu existieren. Diejenigen nämlich, die das gemeinsame Ziel aller aufgeben,[103] die geben damit hoch eigentlich auch das Leben aus. Es könnte zwar jemand wunderbar erscheinen, daß wir den Bösen, die doch die Mehrzahl der Menschen bilden, die Existenz überhaupt absprechen wollen. Es ist aber doch so. Ich leugne ja nicht, daß die Bösen böse sind, aber das einfache sein spreche ich ihnen ab. Ebenso nämlich, wie man einen Leichnam war als einen toten Menschen, aber nicht als einen Menschen schlechtweg bezeichnen kann, ebenso kann ich auch von den Lasterhaften zwar sagen, daß sie böse sind, daß sie aber schlechthin ›sind‹, das kann ich nicht behaupten. Denn das, was ist, bewahrt und beobachtet die Ordnung der Natur, was aber von ihr abweicht, giebt damit auch das in ihr liegende sein auf. Du wirst nun zwar sagen: ›Die Bösen haben doch aber immer hin eine gewisse Macht!‹ und ich will dies auch gar nicht einmal leugnen. Aber diese Macht rührt nicht von ihrer Fähigkeit, sondern von ihrer Unfähigkeit her. Sie vermögen das Böse, was sie nicht könnten, wenn ihnen die größere Macht, das Gute zu thun, nicht verloren gegangen wäre! Daß sie aber jenes vermögen, zeigt so recht deutlich ihre völlige Ohnmacht. Denn wenn das Böse, wie wir vorhin durch logische Schlüsse gefunden haben, nichts ist, dann ist es auch offenbar, daß die Schlechten, da sie nur das Böse thun können, in Wahrheit gar nichts vermögen.« – »Das sehe ich ein!« sagte ich. – »Damit du aber siehst,« fuhr sie fort, »wie gewaltig die wahre Macht ist, so erinnere dich an das, was wir kurz vorhin festgestellt haben, daß es nämlich überhaupt nichts Mächtigeres geben kann, als das höchste Gut.« – »Gewiß, ich erinnere mich daran!« – »Das höchste Gut kann aber doch niemals das Böse thun!« – »Sicherlich nicht!« – »Kann nun wohl jemand sagen, daß die Menschen alles vermöchten?« – »Wer bei Verstande ist, kann das nicht behaupten.« – »Nun können die Menschen aber doch das Böse thun.« – »O wenn sie es doch nicht könnten!« – »Da also nur derjenige allmächtig ist, der allein das Gute[104] vermag, nicht aber derjenige, der auch das Böse thun kann, so ist es klar, daß die Bösen im Vergleich zu den Guten völlig kraftlos und ohnmächtig sind.

Dazu kommt aber noch das Folgende: Wir haben gezeigt, daß alle Macht unter die begehrenswerten Dinge zu rechnen sei und daß alles begehrenswerte auf das Gute als auf sein letztes Endziel hinführt. Die Fähigkeit, das Böse zu vollbringen, kann aber nicht auf das höchste Gut hinführen, also auch nicht begehrenswert sein. Damit haben wir die einfache Schlußfolgerung:

Alle Macht ist begehrenswert,

die Fähigkeit, das Böse zu thun, ist nicht begehrenswert, folglich kann die Fähigkeit zum Bösen auch keine wahre Macht sein.

Aus allem diesem ergiebt sich, daß die Guten ganz gewiß mächtig, die Bösen ohne Zweifel ohnmächtig sind und daß das Wort des Platon wahr ist, nach dem nur die Weisen das, was sie wünschen, auch vollbringen können, dagegen die Bösen zwar alles, was ihnen beliebt, auszuüben, aber nie an das Ziel ihrer Wünsche zu gelangen vermögen. Zwar glauben sie bei all ihrem Thun in dem, das sie ergötzt, das ersehnte Gut zu erreichen. In Wahrheit aber können sie es nicht, da das Böse nie der Glückseligkeit teilhaftig zu werden vermag!


Hoch erhaben auf dem Throne siehst du die Könige sitzen,

Stolz umwallt vom Purpurmantel, Schwerter und Lanzen blitzen!

Drohend schaut ihr finstres Auge, kündet verderbliche Tücke! –

Doch durchdringen diese falsche schimmernde Hülle die Blicke,

Sehn sie unter ihr die Herren lastende Fessel tragen,

Denn am Herzen böse Lüste giftig fressen und nagen!

Nimmer läßt der Zorn sie ruhen, stört den Frieden im Herzen,

Kummer und getäuschte Hoffnung schaffen verzehrende Schmerzen.

So gehorcht der eine Herrscher wiederum vielen Gewalten,

Die ihm keine Freiheit lassen, schimpflich gefesselt ihn halten!
[105]

Du siehst also, wie tief im Schmutz das Böse steckt und welche Hoheit, welcher Glanz die Redlichkeit verklärt. Daraus folgt aber auch, daß das Gute nie ohne Belohnung bleiben, das Lasterhafte niemals der Strafe entgehen kann. Denn dasjenige, um dessen willen eine Sache unternommen wird, das eben ist, wie man richtig annehmen muß, auch ihre Belohnung, wie in der Rennbahn der Kranz, der das Ziel bezeichnet, dem siegenden Renner als Belohnung zu teil wird. Nun haben wir aber gezeigt, daß die Glückseligkeit eben jenes höchste Gut selbst ist, das Ziel jeglichen Strebens, das allem menschlichen Thun als gemeinsame Belohnung ausgesetzt ist. Als solche kann sie aber den Guten unmöglich entgehen, denn was des Guten entbehrt, kann niemals selbst mit Recht als gut bezeichnet werden.

Daher kann also den tugendsamen Sitten niemals ihre Belohnung entgehen, und wenn die Bösen auch wüten soviel wie sie wollen: der Kranz auf der Stirne des Weisen fällt nicht herab und niemals welkt er dahin! Den rechtschaffenen Seelen kann fremde Unredlichkeit den ihnen von Natur eigenen Glanz unmöglich entreißen. Zwar wenn ihnen dieser Glanz, der sie erfreut, nur von außen her gegeben wäre, so könnte er ihnen von irgend einem dritten oder auch von dem Verleiher selbst jederzeit wieder genommen werden. Da er aber in Wahrheit den Guten durch ihre eigene innere Tugend verliehen wird, so kann auch nur der ihn wieder verlieren, der aufhört, tugendhaft zu sein! Und endlich: da jede Belohnung nur deswegen begehrt wird, weil man sie für ein Gut hält: wer könnte da von demjenigen, der des höchsten Gutes selbst teilhaftig geworden ist, behaupten, daß er der Belohnung entbehre? Und welcher Belohnung! Der größten und schönsten von allen!

Nun aber rufe dir einmal jenes Corollar ins Gedächtnis zurück, das ich dir vorhin als höchst bedeutsam mitteilte, und ziehe dann die weiteren Schlüsse daraus. Also: da das höchste Gut die Glückseligkeit ist, so müssen die Guten[106] eben deswegen, weil sie gut sind, auch glückselig sein. Die Glückseligen sind aber, wie wir gesehen haben, gottgleich. Die Gottgleichheit ist also die Belohnung der Guten, die ihnen kein künftiger Tag abschwächen, keine Macht vermindern und keine Unredlichkeit beschmutzen kann. – Wenn sich dies aber so verhält, dann kann auch kein Weiser mehr über die unvermeidliche Strafe der Bösen im Unklaren sein. Denn wie das Gute und das Böse selbst, so zeigen auch ihre Bestrafung und ihre Belohnung das ganz entgegengesetzte Antlitz und der Art und Weise, wie wir die Belohnung der Guten sich vollziehen sehen, muß bei der Bestrafung der Bösen die betreffende entgegengesetzte Erscheinung entsprechen. Wie also die Belohnung der Rechtschaffenen in ihrer eigenen Rechtschaffenheit liegt, so ist die Strafe für die Nichtswürdigen ihre eigene Nichtswürdigkeit. Ferner, wenn ein Mensch Strafe erleidet, so zweifelt er nicht daran, daß ihm etwas Böses widerfahren sei. Wollten also die Bösen über sich selbst objektiv urteilen, könnten sie sich dann frei von Strafe erklären, sie, die von dem Allerbösesten, was es giebt, der Nichtswürdigkeit, nicht nur betroffen, sondern ganz und gar durchdrungen sind?!

Mache dir doch einmal die ganze Größe der Strafe klar, die, im Gegensatz zu den Guten, die Bösen verfolgt! Du hast vorhin gesehen, daß alles, was ist, eins ist, und daß dieses Eine wiederum identisch ist mit dem höchsten Gut, so daß also alles, was ist, auch gut sein muß. Was aber vom Guten abfällt, das hört auf, zu sein. Die Bösen hören also auf, zu sein, was sie einst waren; denn daß sie einst Menschen waren, beweist noch die ihnen gebliebene äußere Form des menschlichen Körpers. Die eigentliche innere Natur des Menschen verloren sie aber, als sie sich dem Bösen zuwandten!

Wie sich nun aber jeder durch seine eigene Tugend über die Menschheit emporheben kann, so muß andererseits die Nichtswürdigkeit diejenigen, die sie der menschlichen Natur[107] beraubte, auch unter die menschliche Würde herabdrücken und erniedrigen, so daß du den durch das Laster Entstellten fürder nicht mehr für einen Menschen halten kannst. Brennende Habsucht verzehrt den Geizigen, den gewaltthätigen, rastlosen Räuber fremder Güter. Mit einem Wolfe wirst du einen solchen Menschen füglich vergleichen! Der Wilde und Unruhige, der seine Zunge nur zum Zanken und Streiten gebraucht, wird dir einem kläffenden Hunde, der heimliche Fallensteller aber, der gern betrügerisch im Trüben fischt, einem Fuchse ähnlich erscheinen. Wer in unmäßige Zornausbrüche verfällt, zeigt die Natur eines Löwen, die eines Hirsches dagegen, wer furchtsam und stets fruchtbereit vor den ungefährlichsten Dingen erzittert. Dem Esel ähnelt der Träge und Stumpfsinnige. Wer leichtsinnig und flatterhaft fortwährend seine Interessen wechselt, unterscheidet sich tu nichts von den Vögeln, und derjenige endlich, der in gemeinen und schmutzigen Fleischeslüsten versunken ist, der ist in seinen wüsten Begierden dem unreinen Schweine verwandt! So kommt es, daß derjenige, der die Rechtschaffenheit aufgegeben und damit zugleich aufgehört hat ein Mensch zu sein, nun, da er sich zum göttlichen Wesen nicht emporzuschwingen vermochte, schmachvoll zu den Tieren hinabsinkt!«


Als des Ithakerfürsten Schiff

Planlos schweifend das Meer durchschnitt,

Lenkt es Eurus der Insel zu,

Wo die liebliche Kirke weilt,

Die beim Nahen des Fremden schnell

Mischt im Becher den Willkommtrunk,

Murmelnd grausigen Zauberspruch.

Bald verwandelt den Fremden dann

Ihre kräutererfahrne Hand:

Einer bietet des Ebers Bild,

Zahn und Kralle dem andern wuchs,

Mauritanischem Löwen gleich.

[108] Wer zur Klage die Stimme hob.

Laut nun heult er im Wolfsgewand.

Als ein indischer Tiger schleicht

Jener dort um das Haus herum! –

Zwar Arkadiens milder Gott,

Hermes, schützte zur rechten Zeit

Vor dem tückischen Willkommtrunk

Ihn, den herrlichen Dulder selbst.

Doch den zauberberührten Kelch

Tranken, ach, die Gefährten schon!

Nun als Schweine nach Eicheln nur,

Nicht begehren nach Brot sie mehr!

Nichts an ihnen ist unversehrt:

Körper, Stimme verwandelt sich.

Nur die menschliche Seele blieb,

Die dies Jammergeschick beklagt!

O wie wenig vermag die Hand,

O wie wenig das Zauberkraut,

Das die Glieder verwandeln kann,

Aber nimmer des Herzens Art!

Lebenskräfte das Herz allein

Tief in heimlicher Burg verwahrt!

Wahrlich, stärkere Gifte sind's,

Die den Menschen entmenschlichen,

Die den Körper verschonen zwar,

Aber tief in den Geist hinein

Bohren eiternde Wunden!


»Ich gebe alles zu,« nahm ich nun das Wort, »und sehe ein, daß man von den Lasterhaften, wenn sie auch die äußere Form des menschlichen Körpers noch bewahrt haben, dennoch mit Recht behaupten kann, daß sie in ihrer Seele zu den Tieren herabgesunken sind. Leidenschaftlich betreibt ihr böser und wilder Sinn das Verderben der Guten. Aber daß ihnen dies verstattet ist, das gerade ist es, was mich schmerzt!« – »Es ist ihnen aber gar nicht verstattet,« entgegnete die Philosophie, »wie ich am geeigneten Orte zeigen[109] werde. Zunächst höre folgendes: Wenn den Bösen das, was ihnen nach deiner und vieler anderer Meinung verstattet ist, genommen und unmöglich gemacht würde, so würden damit die verbrecherischen Menschen von einem großen Teil ihrer Strafe befreit werden. Denn so unglaublich es für die meisten wohl auch klingen mag: die Bösen werden notwendigerweise dann, wenn sie ihre Wünsche verwirklichen können, unglücklicher sein, als wenn sie ihre bösen Pläne nicht zu verwirklichen imstande wären! Denn wenn es schon schlimm ist, das Böse nur gewollt zu haben, so ist doch noch viel schlimmer die Macht, es auch auszuführen, die Macht, ohne welche der böse Wille nicht zur Bethätigung kommen könnte. Da also ein jedes für sich schon unheilvoll ist, so müssen diejenigen notwendig ein dreifaches Unglück empfinden, die du das Böse wollen, können und auch ausführen siehst!« – »Dem Stimme ich vollkommen bei,« fiel ich ein, »hege aber den sehnlichsten Wunsch, daß die Bösen recht bald von diesem Unglück befreit werden möchten, d.h. daß ihnen die Möglichkeit, das Ruchlose zu vollführen, entzogen werde!«

»Sie werden schneller von ihrem Unglück befreit,« entgegnete meine Gefährtin, »als du es vielleicht wünschst und als sie selber es glauben! Denn in dieser kurzen Spanne des Lebens geschieht nichts so spät, daß die Zeit bis zu seinem Eintritt der harrenden Erwartung als eine gar zu lange erscheinen könnte, am wenigsten einem unsterblichen Geist! Denn die weitausschauende Hoffnung der Bösen und das hochragende Gebäude ihrer Missethaten wird oft durch ein plötzliches und unvermutetes Ende zerstört, das dann allerdings auch ihrem Elend und Unglück ein Ziel setzt. Wenn die Nichtswürdigkeit an sich unglücklich macht, so wird notwendig derjenige der Unglücklichere sein, der längere Zeit ein Nichtswürdiger ist, und ich würde die Bösen mit dem denkbar größten, unendlichsten Unglück belastet glauben, wenn nicht am Ende wenigstens der Tod ihrer Bosheit ein Ziel[110] setzte. Wenn wir also über das Unglück, das die Schlechtigkeit mit sich bringt, zu einem richtigen Schlusse gekommen sind, so muß dasjenige Elend das größte und schrecklichste sein, das ewige Dauer besitzt.«

»Dieser Satz,« erwiderte ich, »scheint höchst wunderbar und ich kann mich nur schwer entschließen, ihm zuzustimmen. Andererseits muß ich aber anerkennen, daß er mit den vorhin gewonnenen Resultaten in vollkommenem Einklang steht.«

»Da hast du recht!« sagte sie. »Aber wem es Überwindung kostet, einer Schlußfolgerung beizutreten, der muß doch billigerweise entweder einen Fehler in den Prämissen nachweisen, oder aber darthun, daß sich der Schlußsatz nicht notwendig aus den Vordersätzen ergebe. Kann er dies nicht, so hat er auch absolut keinen Grund, bei Anerkennung der Vordersätze Einwendungen gegen den Schlußsatz zu erheben! – Auch das Folgende scheint nun aber nicht weniger wunderbar zu sein, und doch ergiebt es sich ebenfalls mit Notwendigkeit aus dem bereits Gewonnenen!« – »Nun?« – »Ich behaupte, daß die Bösen glücklicher sind, wenn sie eine Strafe erleiden, als wenn die Gerechtigkeit sie ganz ungestraft gewähren läßt! Ich will hiermit nicht sagen, woran man vielleicht denken könnte, daß schlechte Sitten durch die Ahndung gebessert und böse Menschen durch die Furcht vor der Strafe wieder auf den rechten Weg zurückgeführt werden, nein, auch ganz abgesehen von etwaiger Besserung und von der abschreckenden Wirkung des schlimmen Beispiels, glaube ich, daß noch in anderer Weise die nicht bestraften Bösewichter die unglücklicheren sind!«

»Auf welche andere Weise sollte das denn noch möglich sein?« fragte ich.

Sie entgegnete: »Sind wir nicht dahin übereingekommen, daß die Guten glücklich, die Bösen aber elend seien?« – »Allerdings!« – »Wenn nun also dem Elend irgend eines Menschen etwas Gutes hinzugefügt wird, ist ein solcher Mensch dann nicht glücklicher als derjenige, dessen Elend[111] rein und unvermischt und ohne jede Beimengung von etwas Gutem erhalten bleibt?« – »Es scheint allerdings so!« – »Wenn aber diesem Elenden, der des Guten völlig entbehrt, zu demjenigen, was ihn ursprünglich elend macht, noch obendrein ein anderes, besonderes Übel hinzugefügt wird: ist dieser Mensch dann nicht viel, viel unglücklicher als der, dessen Elend durch eine gewisse Teilnahme am Guten gemildert wird?« – »Wie meinst du das?« – »Ich meine, daß den Bösen, gerade wenn sie gestraft werden, etwas Gutes zu teil wird, die Strafe selbst nämlich, die vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus etwas Gutes ist. Denjenigen aber, die von dem vergeltenden Leiden verschont bleiben, erwächst gerade dadurch noch ein ganz besonderes Übel, die Straflösigkeit nämlich, die du selbst vorhin als ein der Bosheit widerfahrendes Übel anerkannt hast!«

»Das kann ich wirklich nicht leugnen,« sagte ich.

»Mithin,« fuhr jene fort, »sind diejenigen Bösen, denen ungerechte Straflosigkeit zu teil wurde, viel unglücklicher als die von gerechter Vergeltung ereilten. Man kann nun auch einfach folgendermaßen sagen: Werden die Bösen bestraft, so ist dies ohne Frage gerecht. Gehen sie aber straflos aus, so widerspricht dies der Gerechtigkeit. Nicht wahr?« – »Unleugbar!« – »Auch das aber ist unleugbar, daß alles Gerechte, also auch die Bestrafung der Bösen, auch gut, alles Ungerechte, also ihre Straflosigkeit, aber etwas Böses ist!«

»Das folgt allerdings aus den vorhin gewonnenen Schlüssen,« sagte ich. »Aber glaubst du denn auch an sühnende Leiden der Seele nach dem Tode des Leibes?«

»Gewiß!« entgegnete sie. »Sogar an große Leiden glaube ich, die teils vom Standpunkt der strafenden Härte, teils von dem der reinigenden Gnade aus verhängt sind. Doch über diese Frage haben wir jetzt nicht zu reden. Im übrigen sind wir nun in unseren Betrachtungen zu folgenden Ergebnissen gelangt: Du hast eingesehen, daß die Macht der Bösen, die dir so fluchwürdig schien, in Wahrheit keine Macht[112] ist, daß diejenigen, deren Straflosigkeit du beklagtest, niemals der Vergeltung für ihre Bosheit entgehen, daß die Macht der Ruchlosen, deren schnelles Ende du erflehtest, in keinem Fall von langem Bestand ist, daß sie aber außerdem ihre Inhaber um so elender macht, je länger sie dauert, sie also unendlich elend machen würde, wenn sie ewig währte. Endlich haben wir gesehen, daß die Bösen durch ungerechte Straflosigkeit unglücklicher werden, als durch gerechte Vergeltung. Aus diesem letzten Satze folgt aber, daß sie gerate dann die härtesten Strafen erleiden, wenn sie sich selbst für völlig straflos halten!«

Hierauf entgegnete ich: »Wenn ich deine Gründe überblicke, so sehe ich allerdings ein, daß sie die vollkommenste Wahrheit enthalten. Achte ich aber auf das Urteil der Menschen, so möchte ich denjenigen sehen, der deine Worte für glaubwürdig hielte, ja, der deine Ausführungen überhaupt würde anhören mögen!«

»Das ist allerdings richtig,« gab sie zu. »Sie können eben ihre an das Dunkel schon gewöhnten Augen nicht mehr zum Lichte der durchsichtigen Wahrheit erheben und sind wie die Vögel, die in der Nacht sehen, am Tage aber blind sind! Sie urteilen eben nicht nach der wahren Weltordnung, sondern nur nach ihren eigenen Begierden und nur deshalb können sie die Freiheit und Straflosigkeit der Verbrechen für ein Glück erachten! wie aber bestimmt es das ewige Gesetz? Wenn du deine Seele durch das Gute erhebst, so brauchst du keinen belohnenden Richter, sondern du selbst stellst dich in die Reihe der Vortrefflichen! Aber auch dann, wenn du dein Interesse dem Bösen zuwendest, darfst du den Vergelter nicht außer dir suchen, denn du selbst würdigst dich zum Gemeinen herab! Es ist ähnlich, wie wenn du abwechselnd den schmutzigen Erdboden und den Himmel anblicktest: wenn du dabei alles um dich her vergißt, so wirst du je nach der Richtung deines Blickes bald im Kote, bald im Reiche der Sterne zu sein glauben![113]

Die große Menge weiß natürlich nichts von alledem. Wollen wir uns aber denen zugesellen, von denen wir vorhin gezeigt haben, daß sie den Tieren zu vergleichen sind? Wenn jemand, der das Augenlicht gänzlich verloren hat, schließlich gar vergißt, daß er einmal sehend war und deshalb alle äußeren Eigenschaften der Menschen vollständig zu besitzen glaubt: sollen wir einen solchen Menschen deswegen etwa nicht für blind halten?

Die große Menge wird übrigens auch gewiß nicht zugeben, was doch durch nicht weniger sichere Gründe bewiesen wird, daß nämlich diejenigen, die Unrecht thun, unglücklicher sind als die, die Unrecht leiden!«

»Möchtest du nicht auch dies noch einmal näher begründen?« bat ich.


»Gerne!« sagte sie. »Leugnest du etwa, daß jeder Böse Strafe verdiene?« – »Gewiß nicht!« – »Ist es ferner nicht aus vielen Gründen klar, daß die Bösen unglücklich sind?« – »Allerdings!« – »Du zweifelst also nicht daran, daß diejenigen, die Strafe verdienen, unglücklich sind?« – »Nein, daran zweifle ich nicht!« – »Wenn du nun aber als Richter darüber zu entscheiden hättest: wem würde dann nach deiner Meinung die Strafe aufzuerlegen sein, dem, der das Unrecht gethan, oder dem, der es erlitten hat?«

»Ich würde doch immer dem Leidenden Genugthuung verschaffen durch ein dem Thäter auferlegtes Übel!« sagte ich.

»Dabei würde dir aber doch der Übelthäter bemitleidenswerter erscheinen als der, der das Unrecht erlitt?« fragte sie weiter.

»Ohne Zweifel!« antwortete ich. »Und damit hat sich nun, sowohl aus dem zuletzt Gesagten, wie auch aus vielen andern Gründen, die sich alle auf die Thatsache stützen, daß die Schlechtigkeit an sich unglücklich macht, mit Notwendigkeit ergeben, daß das jemand zugefügte Unrecht nicht für den, der es leidet, sondern für den, der es thut, ein Unglück ist!«[114]

»So ist es!« sagte die Philosophie. »Und doch stellen die Anwälte die Sache immer ganz anders dar. Sie suchen nämlich das Mitleid der Richter immer zu Gunsten derjenigen zu erwecken, die etwas Schweres und Herbes erlitten haben, während doch mit viel mehr Recht den Thätern Mitleid entgegengebracht werden müßte. Ja, diese müßten nicht von erzürnten, sondern von wohlwollenden und mitleidigen Anklägern zum Tribunal wie zu einem Arzte geführt werden, damit die Krankheit ihrer Schuld durch die sühnende Strafe geheilt werde! Hierbei würde die Mühewaltung der Verteidiger dann allerdings entweder ganz fortfallen, oder auch sie müßte zur Anklage werden, wenn sie den Menschen wirklich nützen wollte. Ja, die Übelthäter selber, wenn es ihnen vergönnt wäre, gleichsam wie durch eine kleine Spalte die verlorene Tugend zu schauen und zu erkennen, daß sie durch die leiden der Strafe, die ein Ausgleich sind für die wieder zu erlangende Rechtschaffenheit, von allem Schmutz der Laster befreit werden; dann würden sie jene Leiden nicht als ein Übel betrachten, sie würden vielmehr die Bemühungen der Verteidiger zurückweisen und sich rückhaltslos den Anklägern und Richtern überantworten!

Nach alledem kann also im Herzen des Weisen der Haß keine Stätte mehr haben. Denn nur ein Thor kann die Guten hassen und ebensowenig liegt ein Grund vor zum Haß gegen die Bösen. Den körperlich Kranken bringen wir doch nur Mitleid und keinen Haß entgegen, und wenn nun, wie die Schwäche eine Krankheit des Körpers, so die Lasterhaftigkeit eine seelische Krankheit ist: um wie viel mehr geziemt es sich dann, diejenigen nicht zu verfolgen, sondern zu bemitleiden, deren Geist von der Schlechtigkeit, die schlimmer ist als alle Krankheit, umnachtet erscheint?!«


[115] Weshalb suchen in wilder Hast die Menschen

Noch zu beschleunigen stets selbst des Geschickes Verlauf?

Wenn den Tod ihr ersehnt: er naht von selber,

Hemmt den fliegenden Lauf nimmer des schnellen Gespanns!

Selber gegeneinander zückt das Schwert ihr,

Während euch Schlangen und Leu'n, Bären und Tiger bedrohn!

Wollt ihr einer den andern frevelnd morden,

Rechtlos schlagen die Schlacht, führen den grausigen Krieg,

Weil verschieden der Völker Art und Sitte?!

Nimmer beschönt ein Grund solches entsetzliche Thun!

Willst du jedem erweisen, was ihm zukommt:

Liebe dem Guten dann, Mitleid dem Bösen gebührt!


Hieraus ergriff ich meinerseits wieder das Wort. »Ich sehe nun,« sagte ich, »welches Glück verdientermaßen der Rechtschaffenheit und welches Unglück der Verworfenheit an sich eigen ist. Aber ich meine doch, daß auch in den Wechselfällen der irdischen Geschicke in gewissem Maße etwas Gutes oder etwas Böses enthalten sein muß. Denn auch von den Weisen wird doch keiner lieber verbannt, arm und verachtet sein, als reichbegütert, hochgeehrt und mächtig in seinem Vaterlande leben. Es wird doch auch die hohe Aufgabe des Weisen gewiß noch mehr zur Geltung kommen und noch weitere Kreise mit ihrem Lichte erfüllen, wenn sich das Glück weiser Regenten gewissermaßen auch über die angrenzenden Völker ausdehnt, während doch das Gefängnis, das Kriminalgesetz und alle Unannehmlichkeiten der staatlichen Strafen vielmehr den nichtswürdigen, gefährlichen Bürgern gebühren, um deren Willen sie auch eingeführt sind! Daß es sich nun aber gerade umgekehrt Verhält und die Strafe für die Verbrechen auf den Guten lastet, die Bösen aber den Lohn der Tugend an sich reißen: das erregt mein größtes Erstaunen und ich möchte von dir den Grund dieser ungerechten Vertauschung erfahren! Minder[116] groß würde meine Verwunderung sein, wenn ich glauben könnte, daß alles durch regellosen Zufall durcheinander geworfen werde, nun aber wird gerade durch die Anerkennung der göttlichen Weltregierung mein Erstaunen noch erhöht! Denn wenn Gott bald den Guten Angenehmes und den Bösen Widriges zu teil werden läßt, bald aber umgekehrt die Guten hart behandelt, den Bösen aber ihre Wünsche erfüllt, so würde sich dies doch in keiner Weise vom blinden Zufall unterscheiden, wenn sich nicht ein tieferer Grund dafür auffinden ließe!«

»Es ist allerdings erklärlich,« entgegnete die Philosophie, »daß bei Unkenntnis des der Weltordnung zu Grunde liegenden Gesetzes alles für willkürlich und regellos gehalten wird. Da du nun aber zwar den Grund der ganzen Ordnung nicht kennst, dagegen gewiß bist, daß ein guter Lenker die Welt regiert, so darfst du auch nicht daran zweifeln, daß alles, was geschieht, gut und gerecht ist!«


Staunend immer erblickt himmlische Wunder,

Wer nicht weiß, daß stets nahe des Himmels

Höchstem Pol Arktur zieht seine Kreise,

Wie den Wagen lenkt träge Bootes,

Der so spät sein Licht senkt in die Wogen,

Um so schnell hernach wiederzukehren!

Wenn zur Sichelform schwindet der Vollmond,

Dann auch diese deckt nächtliches Dunkel;

Wenn verhüllt bisher unter der Phöbe

Hellem Antlitz nun leuchten die Sterne:

Dann verständnislos staunen die Völker,

Dann erschüttert die Luft lautes Getöse!

Wer aber staunt, wenn wild gegen das Ufer

Treibt des Nordwinds Kraft rasende Wogen;

Wenn des Phöbus Glut löste die Fesseln,

Die so hart der Frost schmiedet im Winter?!

Hier sind klar zu schaun treibende Kräfte,

Die verborgen dort Staunen erregen![117]

Was nicht oft sich zeigt sterblichen Augen,

Was so plötzlich naht, schreckt die Gemüter!

Wird des Wahnes Nacht endlich entschwinden,

Dann wird niemand mehr Wunder erblicken!


»Das ist allerdings richtig!« sagte ich. »Da es aber deines Amtes ist, die verborgenen Ursachen der Dinge zu ergründen und die wie von Nebelschleiern verhüllten Gesetze zu enträtseln, so bitte ich dich, mir das, was du in dieser Sache erkannt hast, auseinanderzusetzen. Sind es doch gerade diese anscheinend so wunderbaren Verhältnisse, die mich am meisten beunruhigen!«

Mit leichtem Lächeln entgegnete die Philosophie: »Du bringst mich da auf die schwierigste aller Fragen, die wohl kaum einer jemals völlig ergründet hat. Der Gegenstand ist nämlich derart, daß auch nach Beseitigung eines einzelnen Zweifels sofort unzählige andere wie die Häupter der Hydra sich erheben, und nur mit dem lebendigsten Feuer des Geistes lassen sie sich bezwingen. Wir müssen hier nämlich über die Einheit der Vorsehung, die Verkettung der Geschicke und die unvorherzusehenden Zufälle, über die göttliche Einsicht und Vorherbestimmung Untersuchungen anstellen, und du kannst selbst ermessen, wie schwierig schon jede einzelne dieser Fragen zu entscheiden ist. Da aber auch die Erkenntnis dieser Dinge zu deiner Heilung gehört, so wollen wir trotz der beschränkten Zeit doch wenigstens etwas über diese Probleme festzustellen suchen. Wenn du dich aber am liebsten an der gebundenen Rede der Lieder ergötzest, so müßt du auf dies Vergnügen schon ein Weilchen verzichten, da ich dir jetzt die verschiedenen Argumente in logischer Folge ganz schlicht und einfach darstellen will!« »Wie es dir beliebt!« sagte ich.

Da begann sie denn, indem sie ihren Ausgangspunkt änderte, folgendermaßen: »Die Entstehung aller Dinge, aller Fortschritt natürlicher Entwickelung und auch alle sonstige Bewegung empfängt ihre Ursachen, ihre Ordnung und ihre[118] Form aus der Stabilität des göttlichen Geistes. Dieser hat in der geschlossenen Einheit seines Wesens das mannigfaltige, vielseitige Gesetz für die Weltregierung festgestellt, und dies Gesetz nennen wir, wenn wir nur an die Reinheit der göttlichen Einsicht, die es aufstellte, denken, die Vorsehung; mit Rücksicht aber auf das von ihm Bewegte und Geregelte wurde es von den Alten Schicksal genannt. Daß dies aber eigentlich ganz verschiedene Dinge sind, wird sofort klar werden, wenn wir die Bedeutung eines jeden einmal näher betrachten. Die Vorsehung ist nämlich die göttliche Vernunft selbst, die im höchsten Weltherrscher wohnt und alles lenkt und regiert. Das Schicksal aber ist die den beweglichen Dingen innewohnende Ordnung, durch welche die Vorsehung jedem einzelnen Ding seinen Platz und seine Aufgabe zugewiesen hat. Die Vorsehung umfaßt alles Bestehende, so verschieden und so zahlreich es auch sein möge; das Schicksal aber regelt die Bewegung der den einzelnen Orten, Formen und Zeiten zugeteilten Dinge, so daß also diese zeitliche Ordnung und Verteilung, in der göttlichen Anschauung zusammengefaßt, die Vorsehung ist, in eben dieser Verteilung aber und in der Art, wie sie in den einzelnen Zeitperioden zur Geltung kommt, als Schicksal bezeichnet wird. Das sind zwar verschiedene Dinge, aber eins ist im andern begründet: aus der Einheit der Vorsehung geht die Schicksalsordnung hervor. Ebenso nämlich, wie ein Künstler die Idee des zu schaffenden Kunstwerks zuerst im Geiste erfaßt und dann erst greifbar verwirklicht, indem er das, was er einheitlich und gegenwärtig schaute, erst im Verlaufe der Zeit seiner Gestaltung entgegenführt: ebenso hat auch die Gottheit in der Vorsehung alles, was geschehen soll, einheitlich und unwandelbar bestimmt, im Schicksal aber bewegt sie nun das so Bestimmte in mannigfacher, nach den verschiedenen Zeitperioden geordneter Weise.

Ob nun aber auch das Schicksal als das Wirken gewisser der Vorsehung dienender göttlicher Geister an zusehen[119] sei, oder ob durch das Geistesleben oder die Funktionen der gesamten Natur, durch die himmlischen Bewegungen der Gestirne, die sittliche Macht der Engel, die vielfache Bethätigung von Dämonen oder durch mehrere dieser Mächte oder auch durch alle zusammen die Fügungen des Geschickes verknüpft werden: sicher ist jedenfalls das eine, daß in der Vorsehung die einheitliche und unwandelbare Form für alles Geschehen liegt und daß das Schicksal die wechselnde Verknüpfung und zeitliche Ordnung der durch die göttliche Einheit im ganzen geregelten Dinge bedeutet. Demzufolge ist alles, was dem Schicksal untersteht, auch der Vorsehung unterworfen, die eben auch das Schicksal beherrscht.

Es giebt aber andererseits auch Dinge, die zwar der Vorsehung unterstellt sind, die sich aber über das Schicksal hinaus erheben, diejenigen nämlich, die der höchsten Gottheit selber nahe stehen und in ihrer festen Begründung unberührt bleiben von der wechselnden Ordnung der Geschicke. Es ist ähnlich wie mit mehreren konzentrischen, sich um denselben Punkt drehenden Kreisen: der innerste Kreis nähert sich am meisten der Einheit des Mittelpunktes und bildet für die übrigen gleichsam wieder ein Centrum, um das sie sich herumbewegen. Der äußerste Kreis aber mit seinem weiteren Umlauf umschließt um so größere Räume, je mehr er sich von der Einheit des Mittelpunktes entfernt. Dasjenige dagegen, was sich der Mitte nähert und anschließt, wird auch selbst enger zur Einheit zusammengefaßt und hört auf, sich zu erweitern und auszudehnen.

In ganz derselben Weise ist nun auch dasjenige, was sich dem höchsten Geiste mehr als ein anderes entfremdet hat, auch mehr als dieses der Macht des Schicksals unterworfen, und um so weniger vermag das Geschick über irgend ein Ding, je mehr sich dies jenem Kern- und Ausgangspunkt alles Bestehenden nähert. Denn was der einigen[120] Festigkeit des göttlichen Geistes teilhaftig geworden ist, das trotzt unwandelbar selbst der zwingenden Gewalt des Schicksals. Wie sich alle Beweisführung zur Vernunft an sich, wie sich das Werdende zum Seienden, die Zeit zur Ewigkeit und der Kreis zu seinem Mittelpunkt verhält, so verhält sich auch die veränderliche, dem Zeitablauf unterworfene Bethätigung des Geschickes zu der unwandelbaren Einheit der Vorsehung. Das Schicksal bewegt den gestirnten Himmel, regelt das Verhältnis der Elemente zu einander und bewirkt deren Umgestaltung durch gegenseitiges Einwirken des einen auf das andere, es erneuert auch alles, was entsteht und vergeht, durch Befruchtung und Gebären in endloser Fortentwickelung. Es verknüpft auch die Handlungen und Geschicke der Menschen in der unlösbaren Verkettung von Ursache und Wirkung, die, da sie auf die unwandelbare Vorsehung zurückgeht, notwendigerweise auch selbst wieder unabänderlich sein muß. Denn am besten werden die Dinge eben regiert, wenn in dieser Weise die beharrende Einheit des göttlichen Geistes ihre unwandelbare, in Ursache und Wirkung zusammenhängende Ordnung hervorbringt, diese Ordnung selbst aber wieder die wechselnden und ohne sie ziellos durcheinanderfließenden Dinge und Handlungen durch ihre eigene Unabänderlichkeit zusammenhält.

Wenn wir also auch nicht imstande sind, diese Ordnung zu begreifen und alles für willkürlich und regellos halten möchten, so hat doch jedes Ding sein festes Gesetz, das es beherrscht und es zum Guten hinführt. Selbst die schlechten Menschen thun nichts ausdrücklich um des Bösen willen, sondern sie werden, wie wir genugsam gezeigt haben, im Streben nach dem Guten durch einen verderblichen Irrtum vom rechten Wege abgelenkt. Dabei ist es aber natürlich nicht die vom höchsten Gut selbst ausgehende Ordnung, die den einzelnen seinem Ursprung entfremdet.

Nun wirst du allerdings fragen: Kann es denn eine[121] unheilvollere Verwirrung geben, als die auf Erden herrschende, die sowohl den Guten bald Widriges, bald Günstiges, als auch den Bösen bald Erwünschtes, bald Verhaßtes zu teil werden läßt?

Aber ist denn der Menschengeist so vollkommen, daß diejenigen, die er für rechtschaffen oder verworfen hält, auch wirklich so sein müssen? Weichen doch hierbei auch die Urteile der einzelnen Menschen in der Regel sehr weit voneinander ab, und wer dem einen zufolge Belohnung verdient, sollte nach der Meinung der anderen der Strafe verfallen!

Aber wenn wir auch einmal zugeben wollen, daß jemand erkennen könnte, was gut und was böse sei: kann er darum auch schon die innersten Bedürfnisse der einzelnen Seelen erkennen? Ebenso wie der Leib hat auch die Seele ihre Bedürfnisse. Nun muß es aber doch schon in betreff des Leibes dem Unkundigen wie ein Wunder erscheinen, daß gesunde Körperteils das Süße, teils das Bittere vorziehen und daß von verschiedenen Kranken dem einen durch gelindere, dem andern nur durch scharfe Mittel geholfen werden kann. Der Arzt aber wundert sich nicht darüber, denn er kennt für die Gesundheit wie auch für die Krankheiten die verschiedenen Erscheinungsformen und Bedürfnisse. – Ist nun aber nicht die Redlichkeit die Gesundheit der Seelen und das Laster ihre Krankheit? Wer anders aber kann das Gute erhalten und das Böse vertreiben, als Gott, der Lenker und der Arzt der Seelen?! Er schaut herab von der hohen Warte der Vorsehung, er erkennt, was einem jeden nützt und frommt, und was er als heilsam und dienlich erkannt hat, das läßt er dann auch jedem einzelnen in seiner Fürsorge zu teil werden. Darauf beruht eben das Wunderbare der Schicksalsordnung, und Unwissende staunen über des Wissenden Werk!

Nur weniges laß mich von der Tiefe der göttlichen Einsicht reden, soweit es der menschlichen Vernunft überhaupt[122] darüber zu urteilen verstattet ist. Es kann zunächst vorkommen, daß derjenige, den du für den Gerechtesten und Edeldenkendsten hältst, der göttlichen Allwissenheit in ganz anderem Lichte erscheint. Unser Freund Lucanus sagt an einer Stelle: die siegreiche Sache habe einst den Göttern, die besiegte aber dem Cato gefallen! So ist also oft gerade das, was wider dein Hoffen und Erwarten geschieht, die rechte Ordnung der Dinge, wenn sie sich auch von deinem Standpunkt aus als eine unheilvolle Verwirrung darstellt. Wenn nun aber wirklich einmal ein Mensch so gut geartet ist, daß das göttliche und das menschliche Urteil über ihn übereinstimmen, so kann es doch sein, daß er dabei der Charakterfestigkeit entbehrt. Stößt ihm daher etwas Widriges zu, so hört er vielleicht auf, seine Unschuld und Reinheit zu bewahren, da ja diese, wie er meint, doch nicht imstande gewesen ist, sein Glück ihm treu zu erhalten. Die alles weise verteilende Gottheit wird daher einen solchen Menschen, der durch das Unglück schlechter werden könnte, damit verschonen und ihm kein Leiden aufbürden, dem sie ihn nicht gewachsen weiß.

Ein anderer Mensch ist vielleicht vollkommen in allen Tugenden, makellos und Gott ähnlich. Dann hält die Vorsehung es für eine Verletzung der heiligen Gerechtigkeit, ihm irgend ein Übel zustoßen zu lassen, und selbst die körperlichen Leiden hält sie sorglich von ihm fern. Sagt doch ein weiser Mann, der auch uns noch an Geist überlegen ist:


›Siehe des Heiligen Leib, vom Himmel erbaut und erhalten!‹


Oft kommt es nun vor, daß den Redlichen Herrschaft und Oberleitung zu teil wird, damit das üppige Laster in Schranken gehalten werde. Anderen guten Menschen wird ein gemischtes Geschick beschieden, je nach der Art ihres Charakters. So fügt das Geschick einigen von Zeit zu Zeit[123] ein Leiden zu, um sie nicht durch die lange Dauer des Glückes übermütig werden zu lassen. Andere wieder erfahren harte Schickungen, damit die Tugenden ihres Herzens sich festigen durch Übung und Gewöhnung zur Geduld. Es giebt auch Menschen, die entweder eine übermäßige Furcht haben vor dem, das sie sehr wohl zu ertragen vermöchten, oder die allzu verächtlich aus Dinge herabsehen, denen sie doch in Wirklichkeit durchaus nicht gewachsen sind. Diese führt das Schicksal durch traurige Fügungen zur Erkenntnis ihrer selbst.

Es hat aber, wie du weißt, auch oftmals Menschen gegeben, die sich um den Preis eines ruhmvollen Todes einen großen Namen in ihrem Zeitalter gemacht haben, und es gab und giebt auch solche, die durch unbeugsame Standhaftigkeit in Not und Unglück den übrigen durch die That bewiesen hoben, daß wahre Tugend durch Leiden nicht besiegt wird. Hierbei ist es aber doch zweifellos wahr, daß dies alles recht und weise so geordnet ist und auch den davon Betroffenen nur zu Heil und Segen gereichen kann!

Aber auch die Thatsache, daß den Bösen bald Schlimmes, bald aber Erwünschtes zu teil wird, läßt sich von demselben Gesichtspunkt aus erklären. In betreff des Schlimmen wird hier von vornherein niemand einen Zweifel hegen, da es eben allgemein anerkannt ist, daß die Bösen Schlimmes verdienen, teils damit durch ihre Leiden andere vor gleicher Missethat zurückgeschreckt, teils damit sie selbst dadurch geläutert und gebessert werden. Nun aber andererseits die günstigen Geschicke, die so oft den Bösen zuteil werden! Diese weisen einerseits die Guten durch praktisches Beispiel darauf hin, was sie von einem derartigen Glück zu halten haben, das sie so oft auch den Bösen beschert sehen. Dann aber ist hierbei, wie ich glaube, auch noch das zu erwägen, daß einige vielleicht von Charakter so haltlos und ungestüm sind, daß sie z.B. durch Geldnot nur noch leichter zum Verbrechen getrieben werden würden.[124] Diese seelische Krankheit mildert dann die Vorsehung durch Gewährung bedeutender Mittel.

Ein anderer kommt vielleicht durch den Besitz großer Güter dazu, daß er Einkehr hält in sein schuldbeladenes Gewissen und daß er dann, durch die Vergleichung seiner selbst mit seinem Glück, vor dem traurigen Verlust desjenigen zu zittern beginnt, dessen Besitz ihm jetzt so angenehm und teuer ist. Er wird sich dann vielleicht bessern und aus Furcht vor dem Verlust des Glückes seine Schlechtigkeit ablegen.

Oft übrigens bringt das Glück den Bösen überhaupt keine Vorteile, wird vielmehr gerade durch den üblen Gebrauch, den sie davonmachen, die Ursache zu ihrem Sturz und Untergang. Ferner kann z.B. einigen von ihnen die Macht und damit die Strafgewalt verliehen sein, damit die durch deren Handhabung den Guten Gelegenheit zu sittlicher Übung und Festigung geben, den Bösen aber wirkliche Strafe zu teil werden lassen. Denn wie die Rechtschaffenen mit den Lasterhaften nichts gemein haben, so stehen sich auch die letzteren untereinander allzeit feindlich gegenüber. Da kann es dann wohl geschehen, wenn das Laster mit dem Laster in Konflikt gerät, daß dann der einzelne sich in seinem Gewissen davon abwendet und nach vollbrachter That selber erkennt, daß er nicht so hätte handeln sollen!

So bewirkt die Vorsehung oft das eigenartige Wunder, daß die Bösen von den Bösen selbst zum Guten bekehrt werden! Wenn sie sehen, daß ihnen gerade von den Bösen soviel seid zugefügt wird, so fassen manche einen brennenden Haß gegen sie und kehren gebessert zur Tugend zurück, da sie denen, die sie jetzt verabscheuen, möglichst unähnlich zu werden wünschen.

Es ist eben die göttliche Kraft allein, der auch das Böse zum Guten dient, indem sie durch zweckmäßige, weise Verwendung desselben schließlich doch eine heilsame Wirkung[125] hervorbringt. Alle Dinge umfaßt eine bestimmte Ordnung und was den ihm angewiesenen Platz verläßt, das tritt damit zwar in den Bereich einer andern Ordnung ein, aber niemals fällt es völlig aus aller Ordnung heraus, denn Willkür und Zufall sind unbekannt im Reiche der Vorsehung!

Doch nun sage ich mit den Worten Homers:


›Aber zu schwer ist mir's, wie ein Gott das alles zu melden!‹


Es ist eben den Menschen nicht vergönnt, das ganze kunstvolle Getriebe der göttlichen Thätigkeit mit dem Geiste zu durchschauen und mit Worten zu schildern. Es genügt aber, das eine klar erkannt zu haben, daß Gott, der Vater der ganzen Natur, alles ordnet und alles zum Guten leitet, daß er alles, was er entstehen ließ, sich selbst ähnlich erhalten will und darum alles Böse durch den von der Notwendigkeit beherrschten Verlauf des Geschickes aus den Grenzen seines reiches verbannt. Du wirst daher finden, wenn du die weltregierende göttliche Vorsehung in Betracht ziehst, daß das Böse, das auf Erden in so erdrückender Fülle vorhanden zu sein, in Wahrheit nirgends seine Stätte hat!

Doch ich bemerke schon seit einiger Zeit, daß die schwerwiegende Bedeutung dieser Fragen dich bedrückt, daß die Weitläufigkeit dieser Beweisführung dich ermüdet und daß du schon wieder Sehnsucht empfindest nach dem süßen Wohllaut eines Liedes. Ich reiche dir deshalb jetzt einen frischen Trunk, der dich für die noch folgenden Betrachtungen stärken wird!


Wer klaren Sinns möchte begreifen

des Donnergotts hehre Gesetze,

der blicke frei droben zum Himmel!

Denn dort so treu göttlicher Ordnung

in Frieden ziehn alle Gestirne.[126]

Es hemmt die rotglühende Sonne

dort nie des Monds eisigen Wagen.

Es wünscht auch nie droben die Bärin,

die hoch am Pol zieht ihre Kreise,

so oft sie schaut andere Sterne

ins Meer hinabsinken im Westen,

auch selbst ihr Licht drunten zu löschen.

Zur rechten Zeit kündet des Abends

Gestirn das Nahn nächtlicher Schatten;

es bringt den Tag Lucifer wieder!

So hält im Gang ewigen Kreislauf

der Liebe Band, läßt in der Sterne

Bereich den Krieg nimmer entbrennen.

Sie hält vereint immer die Teile

des Weltenstoffs, daß sich im Wechsel

zum Trocknen fügt immer das Feuchte,

zum Himmel schlägt flüchtiges Feuer,

nach unten sinkt lastendes Erdreich.

Es haucht, getreu gleichen Gesetzen,

der Frühling stets liebliche Düfte,

es reist das Korn glühender Sommer,

der Herbst erscheint, früchtebeladen,

und Regen bringt immer der Winter.

So nährt des Jahrs heilsamer Wechsel

und treibt und hegt jegliches Leben.

Er giebt und nimmt ununterbrochen,

und läßt vergehn alles Entstandne.

Doch hoch und hehr thronet der Schöpfer,

regiert des Alls ewige Zügel.

Der Herr und Fürst, Anfang und Ursprung,

des Rechtes Quell, weisester Richter!


Er selbst erregt jede Bewegung

und hemmt sie selbst, Schweifendes bindend.

Wenn nicht zurück immer die Gottheit

zur rechten Bahn führte Verirrte:

vom Ursprung fern würde verfallen,

was nun umschließt sichere Schranke![127]

Zur Gottheit strebt jegliche Liebe,

zum Vater zurück sehnt sich der Gute!

Nur dann ihm blüht ewiges Leben,

wenn ihn zurück wieder die Liebe

zum Ursprung führt, dem er entsprossen!


Erkennst du jetzt aber auch,« fuhr die Philosophie nun fort, »was aus all dem Gesagten folgt?« – »Nun?« – »Es folgt daraus, daß jedes Geschick ein gutes ist!«

»Wie ist das aber möglich?!« warf ich ein.

»Gieb acht!« sagte sie. »Da jedes Geschick, das freundliche und das harte, entweder zur Belohnung oder Prüfung der Guten oder zur Bestrafung oder Besserung der Bösen verhängt ist, da also mit anderen Worten jedes Geschick entweder geredet oder heilsam ist, so muß es notwendig auch immer gut sein!«

»Das ist allerdings sehr wahr,« gab ich zu, »und wenn ich auf das vorhin von dir über die Vorsehung und das Schicksal Gelehrte zurückblicke, so muß ich auch anerkennen, daß deine Behauptung sich auf sehr feste Gründe stützt. Aber wenn es dir recht ist, so wollen wir sie doch jedenfalls zu den paradox klingenden Aussprüchen zählen, wie du solche vorhin schon mehrfach angeführt hast.«

»Warum denn?« fragte sie.

»Weil der gewöhnliche Sprachgebrauch der Menschen sehr oft ein Geschick als unglücklich bezeichnet!«

»Gut,« sagte sie, »dann wollen wir uns also ein Weilchen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch anschließen, damit wir uns nicht allzuweit von menschlicher Art und Weise zu entfernen scheinen!« – »Wie es dir beliebt!« – »Nun gut. Hältst du nun etwa nicht, auch vom Standpunkt der gewöhnlichen menschlichen Auffassung, das, was uns nützt, auch für gut?« – »Gewiß!« – »Nützlich ist uns aber doch auch das, was uns prüft und bessert, nicht wahr?« – »Allerdings.« – »Also ist auch dies etwas Gutes!« – »Natürlich.« – »Dies aber ist das Schicksal derjenigen,[128] die entweder treu in der Tugend verharrend gegen Widerwärtigkeiten ankämpfen, oder die sich vom Laster abwenden und auf den Weg der Tugend zurückkehren.«

»Dagegen kann ich nichts einwenden,« sagte ich.

»Wird nun aber etwa das Angenehme,« fragte sie weiter, »das den Guten als Belohnung zu teil wird, gewöhnlich für etwas Schlimmes gehalten?«

»Nein, im Gegenteil,« antwortete ich, »man hält es, wie es ja auch richtig ist, für ein großes Glück.«

»Hält aber etwa die Menge das harte Geschick, das die Strafe der Bösen ist, für etwas Gutes?«

»Im Gegenteil,« erwiderte ich, »sie hält es für das denkbar größte Unglück.«

»Nun gieb aber acht,« sagte meine Gefährtin darauf, »ob wir nicht auch vom Standpunkt dieser gewöhnlichen menschlichen Auffassung aus zu einem ganz überraschenden Schlusse gelangen!« – »Nun?« – »Aus dem bis jetzt Festgestellten ergiebt sich nämlich, daß das Geschick derjenigen, die im Besitz der Tugend sind, oder sich in ihr vervollkommnen oder doch nach ihr streben, immer ein gutes, das Geschick der in ihrer Schlechtigkeit Verharrenden immer ein sehr böses ist!«

»Das ist allerdings wahr,« entgegnete ich, »wenn es auch wohl niemand ohne weiteres zugeben würde!«

»Deshalb aber,« fuhr sie fort, »darf sich auch der Weise nicht beklagen, wenn er zum Kampf mit dem Geschick berufen wird, ebenso wie auch ein tapferer Mann nicht unwillig werden darf, wenn Streit und Krieg sich erhebt. Bietet doch beiden gerade die Bedrängnis Gelegenheit, dem einen, seinen Ruhm auszubreiten, dem andern, seine Weisheit zu befestigen. Daher hat ja auch die Tugend ihren Namen, weil sie wohl dazu taugt, mit eigener Kraft alle Fährlichkeit zu besiegen.

So sollt nun auch ihr, die ihr auf der Bahn der Tugend schon so weit vorwärts geschritten seid, nicht in[129] Vergnügungen euch zerstreuen und in Lüsten dahinwelken, sondern ihr sollt den Kampf, den oft so harten Kampf mit jeglichem Geschick aufnehmen und euch nicht vom Unglück unterdrücken und vom Glück verderben lassen. Haltet euch mit frischen Kräften in der rechten Mitte, denn alles, was dahinter zurückbleibt oder darüber hinausgeht, das verzichtet auf die Glückseligkeit und empfängt keinen Sohn für seine Mühen. Wie ihr euer Geschick gestalten wollt, das ist in eure eigene Hand gegeben. Denn alles, was euch hart erscheint, das ist eine Strafe, wenn ihr es euch nicht zur Prüfung oder zur Besserung dienen laßt!«


Lange Jahre kämpfte der Sohn des Atreus,

bis des Bruders schnöde geschändet Lager

ihm gesühnt des phrygischen Reichs Vernichtung.

Als mit Blut er günstigen Wind erkaufte,

weil der Griechen Flotte der Abfahrt harrte:

nicht mehr Vater, ein Priester nur, durchbohrt' er

trauernd, ach! den Hals der geliebten Tochter!

Tief beklagt der Freunde Geschick Odysseus,

welche wild verschlang Polyphem, der Unhold,

hausend tief in riesiger Felsengrotte.

Doch zum Troste diente dem feuchten Auge

doch des schlau geblendeten Riesen Anblick!

Wer nicht kennt des Herkules Heldenthaten?

Er bezwang der Hippokentauren Kühnheit,

raubt' das Fell des nimmer besiegten Löwen,

traf mit sichern Pfeilen die Stymphaliden,

nahm, zum Trotz dem Drachen, die goldnen Äpfel,

er, des Linke wuchtiger noch als Gold war!

Dreifach band er Cerberus' Höllenstärke,

Siegreich warf er dann Diomedes' Leiche

vor, ein grauses Futter, den eignen Rossen!

Hydra starb, im Feuer das Gift verlierend;

Tief ins Wasser taucht Achelous nieder,

scheu die schnöd' geschändete Stirn verbergend.[130]

Dort in Libyens Wüsten erlag Antäus,

Cacus büßt im Tode den Zorn Euanders.

Auf die Schulter, Trägerin bald des Weltalls,

floß herab der Schaum des erlegten Ebers.

Dann zuletzt mit nimmer gebeugtem Nacken

stützt er stark den Himmel, und ging dann selber

ein zum Himmel, belohnt für alle Mühsal!

Folgt nun kühn der glänzenden Bahn des Vorbilds!

Wendet niemals fliehend den Rücken feige!

Denn wer kühn die Erde besiegt, empfängt zum

Lohne den Himmel![131]

Quelle:
Boetius: Die Tröstungen der Philosophie. Leipzig [o.J.], S. 98-132.
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