VI. Von der Lust, dem Schmerze, den Bedürfnissen und den Begehrungen in einem auf den Tastsinn beschränkten Menschen.

[98] 1. Wir wollen unserer Statue den Gebrauch aller ihrer Glieder geben und, ehe wir nach den Kenntnissen fragen, die sie erwerben wird, sehen, was sie für Bedürfnisse hat.

Deren Quelle werden die verschiedenen Arten der Lust und des Schmerzes sein; denn wir müssen in Betreff des Tastsinnes dieselben Schlussfolgerungen ziehen, wie bei den andern Sinnen.

Anfangs erschien ihr, wie ihr Dasein, so auch ihr Lustgefühl auf einen Punkt konzentrirt. Aber später[98] breitete es sich allmählich, dem Fortschritt des Grundgefühls entsprechend, weiter aus; denn es ist für sie mit Lustgefühl verbunden, auf dieses Gefühl zu achten, wenn es sich in ihren Körpertheilen herausbildet, vorausgesetzt, dass es von keiner schmerzhaften Empfindung begleitet ist.

2. Das grösste Glück für die Kinder scheint darin zu bestehen, dass sie sich bewegen; selbst wiederholtes Fallen verleidet es ihnen nicht. Eine Binde über die Augen würde ihnen minder lästig sein, als ein Band, das ihnen den Gebrauch der Füsse und Hände nimmt. Wirklich verdanken sie das lebhafteste Bewusstsein, das sie von ihrem Dasein haben, der Bewegung. Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch scheinen es auf ein Organ zu beschränken, aber die Bewegung verbreitet es in alle Theile und lässt den Körper in seiner ganzen Ausdehnung geniessen.

Wenn die Thätigkeit für dieselben dasjenige Vergnügen ist, welches den meisten Reiz hat, so wird sie für unsere Statue einen noch grösseren haben; denn sie kennt nicht nur nichts, was sie davon abziehen könnte, sondern sie wird auch an sich erfahren, dass allein die Bewegung ihr alle Freuden, deren sie fähig ist, verschaffen kann.

3. Vor Allem wird sie die Körper lieben, welche sie nicht verletzen; sie wird für das Geschliffene und Glatte ihrer Oberfläche sehr empfänglich sein und nach Bedürfniss Kühlung oder Wärme mit Vorliebe bei ihnen suchen.

Bald werden ihr auch die Gegenstände um so mehr Vergnügen machen, je leichter sie dieselben handhabt; solche sind diejenigen, die vermöge ihrer Grosse und Gestalt sich der Ausdehnung und Form ihrer Hand besser anpassen. Ein ander Mal werden sie ihr gefallen wegen des Erstaunens, in das sie ihr Umfang versetzt, und wegen der Schwierigkeit sie zu handhaben. Die Ueberraschung z.B., die ihr der Raum, den sie um sich entdeckt, bereitet, wird dazu beitragen, ihr die Fortbewegung ihres Körpers von einem Orte zum andern angenehmen zu machen.

Festigkeit und Flüssigkeit, Härte und Weichheit, Bewegung und. Ruhe werden für sie angenehme Gefühle sein; denn je grösser ihr Kontrast ist, desto mehr ziehen sie ihre Aufmerksamkeit auf sich und machen sich bemerklich.[99]

4. Aber vor allen Dingen wird die Fertigkeit, die sie im Vergleichen und Urtheilen erlangt, für sie eine Quelle der Lust sein. Sie wird alsdann die Gegenstände nicht blos wegen des Vergnügens sie in der Hand zu haben berühren, sondern ihre gegenseitigen Verhältnisse kennen lernen wollen und eben so viele Lustgefühle durchkosten, als sie sich neue Vorstellungen bildet. Kurz die Lustgefühle werden unter ihrer Hand, unter ihren Schritten entstehen. Sie werden zunehmen, sich vervielfältigen, bis ihre Kräfte überschritten sind. Alsdann werden sie anfangen, sich mit Ermüdung zu mischen, werden sich allmählich abschwächen, es wird ihr endlich nur noch Müdigkeit bleiben und Ruhe ihre grösste Lust werden.

5. Was den Schmerz betrifft, so wird sie diesem mit dem Tastsinn häufiger ausgesetzt sein, als mit den andern Sinnen; ja seine Lebhaftigkeit wird ihr oft weit stärker vorkommen, als die der ihr bekannten Lustgefühle. Aber den Vortheil geniesst sie, dass sie die Lust willkürlich erregen kann und der Schmerz sich nur zuweilen fühlbar macht.

6. Bei den andern Sinnen bestand ihr Begehren hauptsächlich in der Anstrengung der Seelenvermögen ihr eine angenehme Vorstellung möglichst lebhaft aufzufrischen. Diese Vorstellung war der einzige Genuss, den sie sich von selbst verschaffen konnte, weil es nicht in ihrer Macht stand, sich Empfindungen zu verschaffen. Die Art des Begehrens jedoch, deren sie mit dem Tastsinn fähig ist, schliesst die Anstrengung aller Körpertheile ein, die sich zu bewegen streben, und die so zu sagen darauf ausgehen, bei allen tastbaren Objekten Empfindungen zu suchen. Auch wir fühlen, wenn wir lebhaft begehren, dass unsere Begehrungen dieses doppelte Streben der Seelen- und Körperkräfte in sich fassen. Jetzt beschränkt sich der Genuss nicht mehr auf die Vorstellungen, welche die Einbildungskraft vergegenwärtigt; er erstreckt sich nach aussen auf alle erreichbaren Gegenstände, und die Begehrungen ziehen unsere Statue fortwährend nach aussen, anstatt sie, wie es bei den andern Sinnen geschah, in ihre Daseinsweisen einzukreisen.

7. Folglich haben ihre Liebe, ihr Hass, ihr Wille, ihre Hoffnung, ihre Furcht nicht mehr blos ihre eigenen[100] Daseinsweisen zum Gegenstand; sie liebt, hasst, hofft, fürchtet, will die tastbaren Dinge.

Sie ist also nicht darauf beschränkt, mir sich zu lieben; aber ihre Liebe zu den Körpern ist eine Wirkung von der zu sich selbst. Sie liebt sie aus keinem andern Grunde, als um Lust zu suchen oder um dem Schmerze zu entgehen, und dies wird sie lehren, sich in dem Raume, den sie zu entdecken beginnt, zurecht zu finden.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 98-101.
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