VIII. Wissenschaften der Einzelmenschen als der Elemente dieser Wirklichkeit

[28] Die Analysis findet in den Lebenseinheiten, den psychophysischen Individuis die Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen, und das Studium dieser Lebenseinheiten bildet die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes. Den Naturwissenschaften ist der Sinnenschein von Körpern verschiedener Größe, die sich im Räume bewegen, sich ausdehnen und erweitern, zusammenziehen und verringern, in welchen Veränderungen der Beschaffenheiten vorgehen, als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gegeben. Sie haben sich nur langsam richtigeren Ansichten über die Konstitution der Materie genähert. In diesem Punkte besteht ein viel günstigeres Verhältnis zwischen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz. Dieser ist in ihr selber die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Gesellschaft ist, während dasselbe in den Naturwissenschaften erschlossen werden muß. Die Subjekte, in welche das Denken die[28] Prädizierungen, durch die alles Erkennen stattfindet, nach seinem unweigerlichen Gesetz heftet, sind in den Naturwissenschaften Elemente, welche durch eine Zerteilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen, Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen sind; in den Geisteswissenschaften sind es reale, in der inneren Erfahrung als Tatsachen gegebene Einheiten. Die Naturwissenschaft baut die Materie aus kleinen, keiner selbständigen Existenz mehr fähigen, nur noch als Bestandteile der Moleküle denkbaren Elementarteilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinanderwirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, deren jedes von jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist. Ist doch die Welt nirgend anders als eben in der Vorstellung eines solchen Individuums. Diese Unermeßlichkeit eines psycho-physischen Ganzen, in der schließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten ist, läßt sich an der Analysis der Vorstellungswelt verdeutlichen, als in welcher aus Empfindungen und Vorstellungen eine Einzelanschauung sich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Elementen sie auch bestehe, als ein Element in die bewußte Verknüpfung und Trennung der Vorstellungen eintritt. Und diese Singularität eines jeden solchen einzelnen Individuums, das an irgendeinem Punkte des unermeßlichen geistigen Kosmos wirkt, läßt sich, gemäß dem Satz: Individuum est ineffabile, in seine einzelnen Bestandteile verfolgen, wodurch sie erst in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wird.

Die Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten ist die Anthropologie und Psychologie. Ihr Material bildet die ganze Geschichte und Lebenserfahrung, und gerade die Schlüsse aus dem Studium der psychischen Massenbewegungen werden in ihr eine stets wachsende Bedeutung erlangen. Die Verwertung des ganzen Reichtums der Tatsachen, welche den Stoff der Geisteswissenschaften überhaupt bilden, ist der wahren Psychologie sowohl mit den Theorien, von denen demnächst zu sprechen sein wird, als mit der Geschichte gemeinsam. Alsdann aber ist festzuhalten: außerhalb der psychischen Einheiten, welche den Gegenstand der Psychologie bilden, gibt es überhaupt keine geistige Tatsache für unsere Erfahrung. Da nun die Psychologie keineswegs alle Tatsachen in sich schließt, welche Gegenstand der Geisteswissenschaften sind, oder (was dasselbe ist) welche die Erfahrung uns an psychischen Einheiten auffassen läßt: so ergibt sich hieraus, daß die Psychologie nur einen Teilinhalt dessen, was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenstande hat. Sie kann daher nur durch eine Abstraktion von der Gesamtwissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert und nur in beständiger[29] Beziehung auf sie entwickelt werden. Wohl ist die psycho-physische Einheit dadurch in sich geschlossen, daß für sie nur Zweck sein kann, was in ihrem eigenen Willen gesetzt ist, nur wertvoll, was in ihrem Gefühl so gegeben ist, nur wirklich und wahr, was als gewiß, als evident vor ihrem Bewußtsein sich bewährt. Aber dieses so geschlossene, im Selbstbewußtsein seiner Einheit gewisse Ganze ist andererseits nur in dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten; seine Organisation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend und nach außen zurückwirkend; seine ganze Inhaltlichkeit ist nur eine inmitten der umfassenden Inhaltlichkeit des Geistes in der Geschichte und Gesellschaft vorübergehend auftretende einzelne Gestalt; ja der höchste Zug seines Wesens ist es, vermöge dessen es in etwas lebt, das nicht es selber ist. Der Gegenstand der Psychologie ist also jederzeit nur das Individuum, welches aus dem lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert ist, und sie ist darauf angewiesen, die allgemeinen Eigenschaften, welche psychische Einzelwesen in diesem Zusammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abstraktion festzustellen. Den Menschen, wie er, abgesehen von der Wechselwirkung in der Gesellschaft, gleichsam vor ihr ist, findet sie weder in der Erfahrung, noch vermag sie ihn zu erschließen: wäre das der Fall, so würde der Aufbau der Geisteswissenschaften sich ungleich einfacher gestaltet haben. Selbst der ganz enge Umkreis unbestimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt sind, dem Menschen an und für sich zuzuschreiben, unterliegt dem ungeschlichteten Streit hart aneinanderstoßender Hypothesen.

Hier kann also sofort ein Verfahren abgewiesen werden, welches den Aufbau der Geisteswissenschaften unsicher macht, indem es in die Grundmauern Hypothesen einfügt. Das Verhältnis der Individualeinheiten zur Gesellschaft ist von zwei entgegengesetzten Hypothesen aus konstruktiv behandelt worden. Seitdem dem Naturrecht der Sophisten Platos Auffassung des Staats als des Menschen im großen gegenübertrat, befehden sich diese beiden Theorien, ähnlich wie die atomistische und die dynamische, in bezug auf die Konstruktion der Gesellschaft. Wohl nähern sie sich einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflösung des Gegensatzes ist erst möglich, wenn die konstruktive Methode, die ihn hervorbrachte, verlassen wird, wenn die einzelnen Wissenschaften der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Teile eines umfassenden analytischen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Aussagen über Teilinhalte dieser Wirklichkeit aufgefaßt werden. In diesem analytischen Gang der Untersuchung kann die Psychologie nicht, wie durch die erste dieser Hypothesen geschieht, als Darstellung[30] der anfänglichen Ausstattung eines von dem geschichtlichen Stamme der Gesellschaft losgelösten Individuums entwickelt werden. Haben doch z.B. die Grundverhältnisse des Willens wohl den Schauplatz des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund. Eine solche Isolierung und dann eine mechanische Zusammensetzung von Individuen, als Methode der Konstruktion der Gesellschaft, war der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einseitigkeit dieser Richtung ist immer wieder bekämpft worden durch eine entgegengesetzte Einseitigkeit. Diese hat, gegenüber einer mechanischen Zusammensetzung der Gesellschaft, Formeln entworfen, welche die Einheit des gesellschaftlichen Körpers ausdrücken und so der anderen Hälfte des Tatbestandes genugtun sollten. Eine solche Formel ist die Unterordnung des Verhältnisses des einzelnen zum Staat unter das Verhältnis des Teils zum Ganzen, welches vor dem Teil ist, in der Staatslehre des Aristoteles; ist die Durchführung der Vorstellung vom Staat als einem wohlgeordneten tierischen Organismus bei den Publizisten des Mittelalters, welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftstellern verteidigt und näher ausgebildet wird; ist der Begriff einer Volksseele oder eines Volksgeistes. Nur durch den geschichtlichen Gegensatz haben diese Versuche, die Einheit der Individuen in der Gesellschaft einem Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der Volksseele fehlt die Einheit des Selbstbewußtseins und Wirkens, welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des Organismus substituiert für ein gegebenes Problem ein anderes, und zwar wird vielleicht, wie schon J. St. Mill bemerkt hat, die Auflösung des Problems der Gesellschaft früher und vollständiger gelingen als die des Problems des tierischen Organismus; schon jetzt aber kann die außerordentliche Verschiedenheit dieser beiden Arten von Systemen, in denen zu einer Gesamtleistung einander gegenseitig bedingende Funktionen zusammengreifen, gezeigt werden. Das Verhältnis der psychischen Einheiten zur Gesellschaft darf sonach überhaupt keiner Konstruktion unterworfen werden. Kategorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Teil, sind für eine Konstruktion nicht benutzbar: selbst wo die Darstellung ihrer nicht entbehren kann, darf nie vergessen werden, daß sie in der Erfahrung des Individuums von sich selber ihren lebendigen Ursprung gehabt haben, daß sonach durch keine Rückanwendung mehr an dem Erlebnis, welches das Individuum sich selber in der Gesellschaft ist, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für sich zu sagen imstande ist.

Der Mensch als eine der Geschichte und Gesellschaft voraufgehende Tatsache ist eine Fiktion der genetischen Erklärung; derjenige Mensch, den gesunde analytische Wissenschaft zum Objekt[31] hat, ist das Individuum als ein Bestandteil der Gesellschaft. Das schwierige Problem, welches Psychologie aufzulösen hat, ist: analytische Erkenntnis der allgemeinen Eigenschaften dieses Menschen.

So aufgefaßt, ist Anthropologie und Psychologie die Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Gesellschaft. Sie ist nicht nur Vertiefung des Menschen in die Betrachtung seiner selbst. Ein Typus der Menschennatur steht immer zwischen dem Geschichtschreiber und seinen Quellen, aus denen er Gestalten zu pulsierendem Leben erwecken will; er steht nicht minder zwischen dem politischen Denker und der Wirklichkeit der Gesellschaft, welcher dieser Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wissenschaft will nur diesem subjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subjekt diese Individualeinheit ist, deren Prädikate alle Aussagen über sie sind, welche für das Verständnis der Gesellschaft und der Geschichte fruchtbar werden können. Diese Aufgabe der Psychologie und Anthropologie schließt aber in sich eine Erweiterung ihres Umfangs. Über die bisherige Erforschung der Gleichförmigkeiten des geistigen Lebens hinaus muß sie typische Unterschiede desselben erkennen, die Einbildungskraft des Künstlers, das Naturell des handelnden Menschen der Beschreibung und Analysis unterwerfen und das Studium der Formen des geistigen Lebens durch die Deskription der Realität seines Verlaufs sowie seines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Systemen der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zwischen der Psychologie einerseits, der Ästhetik, Ethik, den Wissenschaften der politischen Körper sowie der Geschichtswissenschaft andererseits existiert: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generalisationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darstellungen der Weltmänner von Charakteren und Schicksalen, unbestimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geschichtschreiber in seine Erzählung verwebt, eingenommen war.

Die Aufgaben einer solchen grundlegenden Wissenschaft kann die Psychologie nur lösen, indem sie sich in den Grenzen einer deskriptiven Wissenschaft hält, welche Tatsachen und Gleichförmigkeiten an Tatsachen feststellt, dagegen die erklärende Psychologie, welche den ganzen Zusammenhang des geistigen Lebens durch gewisse Annahmen ableitbar machen will, von sich reinlich unterscheidet. Nur durch dieses Verfahren kann für die letztere ein genaues, unbefangen festgestelltes Material gewonnen werden, welches eine Verifikation der psychologischen Hypothesen gestattet. Vor allem aber: nur so können endlich die Einzelwissenschaften des Geistes eine Grundlegung[32] erhalten, die selber fest ist, während jetzt auch die besten Darstellungen der Psychologie Hypothesen auf Hypothesen bauen.

Wir ziehen das Ergebnis für den Zusammenhang dieser Darlegung. Der einfachste Befund, welchen die Analysis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt in der Psychologie vor; sie ist demnach die erste und elementarste unter den Einzelwissenschaften des Geistes; dementsprechend bilden ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre Wahrheiten enthalten nur einen aus dieser Wirklichkeit ausgelösten Teilinhalt und haben daher die Beziehung auf diese zur Voraussetzung. Demnach kann nur vermittels einer erkenntnis-theoretischen Grundlegung die Beziehung der psychologischen Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften des Geistes und zu der Wirklichkeit selber, deren Teilinhalte sie sind, aufgeklärt werden. Für die Psychologie selber aber ergibt sich aus ihrer Stellung im Zusammenhang der Geisteswissenschaften, daß sie als deskriptive Wissenschaft (ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) sich unterscheiden muß von der erklärenden Wissenschaft, welche, ihrer Natur nach hypothetisch, einfachen Annahmen die Tatsachen des geistigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.

Die Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit ist die Biographie. Das Gedächtnis der Menschheit hat sehr viele Individualexistenzen des Interesses und der Aufbewahrung würdig befunden. Carlyle sagt einmal von der Geschichte: »Weises Erinnern und weises Vergessen, darin liegt alles.« Das Singulare des Menschendaseins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das Individuum die Anschauung und die Liebe anderer Individuen zu sich hinreißt, stärker als irgendein anderes Objekt oder irgendeine Generalisation. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein Höchstes von Geschichtschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet. Der Wille eines Menschen, in seinem Verlauf und seinem Schicksal, wird hier in seiner Würde als Selbstzweck erfaßt, und der Biograph soll den Menschen sub specie aeterni erblicken, wie er selbst sich in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm und der Gottheit alles Hülle, Gewand und Mittel ist und er sich dem Sternenhimmel[33] so nahe fühlt, als irgendeinem Teil der Erde. Die Biographie stellt so die fundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auffassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden überhaupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden.

Ist die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere Entwicklung einer wahren Realpsychologie, so hat sie andererseits in dem dermaligen Zustande dieser Wissenschaft ihre Grundlage. Man kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der Wissenschaft der Anthropologie und Psychologie auf das Problem, eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schicksal lebendig und verständlich zu machen, bezeichnen.

Regeln persönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten einen weiteren Zweig der Literatur gebildet; einige der schönsten und tiefsten Schriften aller Literatur sind diesem Gegenstande gewidmet. Sollen sie aber den Charakter der Wissenschaft erlangen: so führt eine solche Bestrebung zurück in die Selbstbesinnung über den Zusammenhang zwischen unserer Erkenntnis von der Wirklichkeit der Lebenseinheit und unserem Bewußtsein von den Beziehungen der Werte zueinander, welche unser Wille und unser Gefühl im Leben finden.

An der Grenze der Naturwissenschaften und der Psychologie hat sich ein Gebiet von Untersuchungen ausgesondert, welches von seinem ersten genialen Bearbeiter als Psychophysik bezeichnet worden ist und welches sich durch das Zusammenwirken hervorragender Forscher zu dem Entwurf einer physiologischen Psychologie erweitert hat. Diese Wissenschaft ging davon aus, ohne Rücksicht auf den metaphysischen Streit über Körper und Seele die tatsächlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Erscheinungsgebieten möglichst genau feststellen zu wollen. Der neutrale, in der äußersten hier denkbaren Abstraktion verbleibende Begriff der Funktion in seiner mathematischen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zugrunde gelegt und Feststellung der bestehenden so in zwei Richtungen darstellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieser Wissenschaft festgehalten. Den Mittelpunkt seiner Untersuchungen bildete das Funktionsverhältnis zwischen Reiz und Empfindung. Will jedoch diese Wissenschaft die Lücke, welche zwischen Physiologie und Psychologie besteht, vollständig ausfüllen, will[34] sie alle Berührungspunkte des körperlichen und psychischen Lebens umfassen und zwischen Physiologie und Psychologie, die Verbindung so vollständig und wirksam als möglich herstellen: dann findet sie sich genötigt, diese Beziehung in die. umfassende Vorstellung des ursächlichen Zusammenhangs der gesamten Wirklichkeit einzuordnen. Und zwar bildet die einseitige Dependenz psychischer Tatsachen und Veränderungen von physiologischen den Hauptgegenstand einer solchen physiologischen Psychologie. Sie entwickelt die Abhängigkeit des geistigen Lebens von seiner körperlichen Unterlage; untersucht die Grenzen, innerhalb deren eine solche Abhängigkeit nachweisbar ist; stellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche von den geistigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So verfolgt sie das geistige Leben, von den Beziehungen, welche zwischen der physiologischen Leistung der Sinnesorgane und dem psychischen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung obwalten, zu denen zwischen dem Auftreten, Verschwinden, der Verkettung der Vorstellungen einerseits, der Struktur und den Funktionen des Gehirns andererseits, bis zu denen, welche zwischen dem Reflexmechanismus und motorischen System und entsprechend der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung bestehen.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 28-35.
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