X. Das wissenschaftliche Studium der natürlichen Gliederung der Menschheit sowie der einzelnen Völker

[40] Diese deskriptive Darstellung, die man als Geschichts- und Gesellschaftskunde im weitesten Verstande bezeichnen kann, umfaßt die komplexen Tatsachen der geistigen Welt in ihrem Zusammenhang, wie derselbe in der Kunst der Geschichtschreibung und in der Statistik der Gegenwart erfaßt wird. Wir sahen früher (S. 24), wie die bloße Sammlung und Sichtung des Materials in einer bunten Mannigfaltigkeit von Arbeiten allmählich, in kontinuierlicher Steigerung der denkenden Bearbeitung, in Wissenschaft übergeht. Die Stellung der Geschichtschreibung in diesem Zusammenhang, zwischen der Sammlung der Tatsachen und der Ausscheidung des Gleichartigen aus ihnen in einer einzelnen Theorie, ward in ihrer selbständigen Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben. Sie war uns eine Kunst, weil in ihr, wie in der Phantasie des Künstlers selber, das Allgemeine in dem Besonderen angeschaut, noch nicht durch Abstraktion von ihm gesondert und für sich dargestellt wird, was erst in der Theorie geschieht. Das Besondere ist hier nur von der Idee im Geiste des Geschichtschreibers gesättigt und gestaltet, und wo eine Generalisation auftritt, beleuchtet sie nur blitzartig die Tatsachen und entbindet auf einen Moment das abstrakte Denken. So dient ja auch dem Dichter die Generalisation, indem sie aus dem Ungestüm, den Leiden und Affekten, welche er darstellt, einen Augenblick die Seele seines Zuhörers in die freie Region der Gedanken erhebt.

Aus diesem genialen Überblick des Geschichtschreibers, der sich über das mannigfaltige Leben der Menschheit verbreitet, löst sich nun aber eine erste deskriptive Zusammenordnung von Gleichartigem aus. Sie schließt sich naturgemäß an die Anthropologie des Einzelmenschen. Entwickelte diese den allgemeinen menschlichen Typus, die allgemeinen Gesetze des Lebens der psychologischen Einheiten, die in diesen Gesetzen angelegten Differenzen von Einzeltypen: so geht die Ethnologie oder vergleichende Anthropologie von hier aus weiter; ihren Gegenstand bilden Gleichartigkeiten engeren Umfangs, durch welche Gruppen innerhalb der Gesamtheit sich abgrenzen und als Einzelglieder der Menschheit sich darstellen: die natürliche Gliederung des Menschengeschlechts und die durch sie unter den Bedingungen des Erdganzen entstehende Verteilung des geistigen Lebens und seiner Unterschiede auf der Oberfläche der Erde. Diese[40] Völkerkunde erforscht also, wie auf der Grundlage des Familienverbandes und der Verwandtschaft, in durch den Grad der Abstammung gebildeten konzentrischen Kreisen, das Menschengeschlecht natürlich gegliedert ist, d.h. wie in jedem engeren Kreise zusammenhängend mit näherer Verwandtschaft neue gemeinsame Merkmale auftreten. Von der Frage nach der Einheit der Abstammung und Art, nach dem ältesten Wohnsitze, dem Alter und den gemeinsamen Merkmalen des Menschengeschlechts wendet diese Wissenschaft sich zur Abgrenzung der einzelnen Rassen und der Bestimmung ihrer Merkmale, zu den Gruppen, welche jede dieser Rassen in sich faßt; auf der Grundlage der Geographie entwickelt sie die Verteilung des geistigen Lebens und seiner Unterschiede auf der Oberfläche der Erde: man sieht den Strom der Bevölkerung sich verbreiten, der Richtung der leichtesten Befriedigung folgend, wie das Wassernetz sich den Bedingungen des Bodens anschmiegt.

Mit dieser genealogischen Gliederung verweben sich geschichtliche Tat und geschichtliches Schicksal, und so bilden sich die Völker, lebendige und relativ selbständige Zentren der Kultur in dem gesellschaftlichen Zusammenhang einer Zeit, Träger der geschichtlichen Bewegung. Wohl hat das Volk in dem genealogischen Naturzusammenhang seine Grundlage, die sich auch leiblich zu erkennen gibt; aber während verwandte Völker eine Verwandtschaft des körperlichen Typus zeigen, der sich mit wunderbarer Festigkeit erhält, gestaltet sich ihre geschichtliche geistige Physiognomie zu immer feiner verzweigten Unterschieden auf allen verschiedenen Gebieten des Volkslebens.

Diese individuelle Lebenseinheit in einem Volke, die sich in der Verwandtschaft aller seiner Lebensäußerungen, wie seines Rechts, seiner Sprache, seines religiösen Inneren, untereinander kundgibt, wird mystisch durch Begriffe wie Volksseele, Nation, Volksgeist, Organismus ausgedrückt. Diese Begriffe sind so unbrauchbar für die Geschichte, als der von Lebenskraft für die Physiologie. Was der Ausdruck: Volk bedeute, kann nur analytisch aufgeklärt werden (innerhalb gewisser Grenzen), mit Hilfe von Untersuchungen, welche in dem methodologischen Zusammenhang der Geisteswissenschaften als Theorien zweiter Ordnung bezeichnet werden können. Diese haben die Wahrheiten der Anthropologie zu ihrer Voraussetzung, sie wenden diese Wahrheiten auf die Wechselwirkung von Individuen unter den Bedingungen des Naturzusammenhangs an, und so entstehen die Wissenschaften der Systeme der Kultur und ihrer Gestaltungen, der äußeren Organisation der Gesellschaft und der einzelnen Verbände innerhalb derselben. An sich findet die Wissenschaft zwischen dem Individuum und dem verwickelten Verlauf der Geschichte drei große Klassen[41] von Objekten, die dem Studium zu unterwerfen sind: die äußere Organisation der Gesellschaft, die Systeme der Kultur in ihr und die Einzelvölker: dauernde Tatbestände, unter denen der von Volksganzen der am meisten komplexe und schwierige ist. Wie sie alle drei nur Teilinhalte des wirklichen Lebens sind, so kann keiner ohne die Beziehung auf das wissenschaftliche Studium des anderen historisch aufgefaßt oder theoretisch behandelt werden. Jedoch ist, dem Verhältnis der Verwicklung entsprechend, die Tatsache des Einzelvolkes nur mit Hilfe der Analysis der beiden anderen Tatsachen bearbeitet worden. Was durch den Ausdruck Volksseele, Volksgeist, Nation und nationale Kultur bezeichnet werde, das kann nur dadurch anschaulich vorgestellt und analysiert werden, daß man zunächst die verschiedenen Seiten des Volkslebens, z.B. Sprache, Religion, Kunst, in ihrer Wechselwirkung auffaßt. Dies nötigt zu dem nächsten Schritt in der Analysis der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 40-42.
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
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