Zweites Kapitel
Der Begriff der Metaphysik. Das Problem ihres Verhältnisses zu den nächstverwandten Erscheinungen

[127] Die Betrachtung der geschichtlichen Welt gab uns eine schwere Frage auf. Die Wechselwirkung der Individualeinheiten, ihrer Freiheit, ja ihrer Willkür (diese Worte in dem Verstande von Namen für das Erlebnis, nicht für eine Theorie genommen), die Verschiedenheit der nationalen Charaktere und der Individualitäten, endlich die aus dem Naturzusammenhang, in welchem dies alles auftritt, stammenden Schicksale: dieser ganze Pragmatismus der Geschichte bewirkt einen zusammengesetzten weltgeschichtlichen Zweckzusammenhang, vermittels der Gleichartigkeit der Menschennatur sowie vermittels anderer Züge in ihr, welche eine Mitarbeit des einzelnen an einem über ihn selber Hinausreichenden ermöglichen, in den großen Formen der auf freies Ineinandergreifen der Kräfte gegründeten Systeme sowie der äußeren Organisation der Menschheit: in Staat und Recht, wirtschaftlichem Leben, Sprache und Religion, Kunst und Wissenschaft. So entstehen Einheit, Notwendigkeit und Gesetz in der Geschichte unseres Geschlechts. Mag der pragmatische Geschichtschreiber im Spiel der einzelnen Kräfte, in den Wirkungen der Natur und des Geschicks oder auch einer höheren Hand schwelgen, mag der Metaphysiker seine abstrakten Formeln diesen wirkenden Kräften substituieren, als ob sie gleich den Gestirngeistern der ebenfalls durch metaphysische Vorstellungen genährten Astrologie dem Menschengeschlecht seine Bahn vorschrieben: beide reichen nicht einmal an diese Frage selber heran. Das Geheimnis der Geschichte und der Menschheit ist tiefsinniger als die einen und die anderen. Sein Schleier lüftet sich, wo man den mit sich selber beschäftigten Willen des Menschen, gegen seine Absicht, an einem über ihn hinausreichenden Zweckzusammenhang wirken oder wo man seine eingeschränkte Intelligenz an diesem Zusammenhang etwas vollbringen sieht, dessen dieser bedarf, das aber von der einzelnen Intelligenz weder beabsichtigt noch vorausgesehen war. Der blinde Faust in der letzten täuschenden Arbeit seines Lebens ist das Symbol aller Helden der Geschichte, so gut als Faust, der mit Auge und Hand des Herrschers Natur und Gesellschaft gestaltet.

Innerhalb dieses lebendigen Zusammenhangs, welcher in der Totalität der Menschennatur gegründet ist, hat sich allmählich die intellektuelle Entwicklung des Menschengeschlechts in der Wissenschaft abgesondert. – Sie bildet einen vernünftigen Zusammenhang,[127] der über das Individuum Zwecktätigkeit der einzelnen Menschen, die Schleiermacher als »Wissenwollen«, andere als »Wissenstrieb« bezeichnen (Namen für eine Tatsache des. Bewußtseins, nicht aber Erklärung dieser Tatsache), muß auf die entsprechende Zwecktätigkeit anderer Menschen rechnen, dieselbe aufnehmen und in sie hinübergreifen. Und zwar sind gerade Vorstellungen, Begriffe, Sätze einfach übertragbar. Darum findet in diesem Zusammenhang oder System eine so stetige Fortentwicklung statt, als auf keinem anderen Felde menschlichen Tuns. Obwohl dieser Zweckzusammenhang der wissenschaftlichen Arbeit nicht durch einen Gesamtwillen geleitet wird, sondern er vollzieht sich in der freien Tätigkeit der einzelnen Individuen. – Die allgemeine Theorie dieses Systems ist Erkenntnistheorie und Logik. Sie hat das Verhältnis der Elemente in diesem vernünftigen Zusammenhang des im Menschengeschlecht sich vollziehenden Erkenntnisprozesses zueinander, sofern es einer allgemeinen Fassung fähig ist, zu ihrem Gegenstande.63 Somit sucht sie in dem über das Individuum hinausreichenden Zusammenhang dieses Erkenntnisvorgangs Notwendigkeit, Gleichförmigkeit und Gesetz. Ihr Material ist die Geschichte der menschlichen Erkenntnis als Tatsache, und ihren Schlußpunkt bildet das zusammengesetzte Bildungsgesetz in dieser Geschichte der Erkenntnis. – Denn obgleich die Geschichte der Wissenschaft teilweise durch sehr mächtige, zum Teil höchst eigenwillige Individuen gemacht wird, obgleich die verschiedenen Anlagen der Nationen auf diese Geschichte einwirken, das Milieu der Gesellschaft, in welchem dieser Erkenntnisvorgang sich vollzieht, überall ihn mitbestimmt: dennoch zeigt die Geschichte des wissenschaftlichen Geistes eine über solchen Pragmatismus hinausreichende folgerichtige Einheit. Pascal betrachtet das Menschengeschlecht als ein einziges Individuum, welches immerfort lernt. Goethe vergleicht die Geschichte der Wissenschaften mit einer großen Fuge, in welcher die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.

In diesem Zweckzusammenhang der Geschichte der Wissenschaften tritt an einem bestimmten Punkte, im 5. Jahrhundert v. Chr., bei den europäischen Völkern die Metaphysik hervor, beherrscht in zwei großen Zeiträumen den wissenschaftlichen Geist Europas und ist alsdann seit mehreren Jahrhunderten in einen allmählichen Auflösungsprozeß eingetreten.

Der Ausdruck Metaphysik wird in so verschiedenem Verstande gebraucht, daß der Inbegriff von Tatsachen, welcher hier mit diesem Namen bezeichnet wird, zunächst historisch einigermaßen abgegrenzt werden muß.[128]

Es ist bekannt, daß der Ausdruck ursprünglich nur die Stellung der »ersten Philosophie« des Aristoteles hinter seinen naturwissenschaftlichen Schriften bezeichnete, daß derselbe aber alsdann, der Zeitrichtung entsprechend, auf eine Wissenschaft dessen, was über die Natur hinausgeht, gedeutet wurde.64

Was Aristoteles unter erster Philosophie verstand, wird darum der Bestimmung dieses Begriffs am zweckmäßigsten zugrunde gelegt, weil diese Wissenschaft durch Aristoteles ihre selbständige, von den Einzelwissenschaften klar unterschiedene Gestalt empfangen hat, und weil der Begriff der Metaphysik, wie derselbe im Zusammenhang hiermit von Aristoteles geprägt wurde, in dem folgerichtigen Verlauf des Erkenntnisvorgangs angelegt war. Das, was historisch hier auftrat, kann zugleich als das, was in dem Zweckzusammenhang der Geschichte der Wissenschaften bedingt war, erwiesen werden. – Von der Erfahrung unterscheidet sich nach Aristoteles die Wissenschaft dadurch, daß sie den Grund erkennt, welcher in der wirkenden Ursache gelegen ist. Von der Einzelwissenschaft unterscheidet sich die Weisheit, in welcher der Wissenstrieb seine in ihm selber gelegene Befriedigung findet (das Wort Weisheit hier in seinem engsten, höchsten Verstande genommen, sonach die erste Weisheit), dadurch, daß sie die ersten Gründe, welche ganz allgemein die ganze Wirklichkeit begründen, erkennt. Sie enthält die Gründe für die besonderen Erfahrungskreise, und sie beherrscht vermittels dieser Gründe das gesamte Handeln. Diese erste vollkommene Weisheit ist eben die erste Philosophie. Während die Einzelwissenschaften, z.B. die Mathematik, einzelne Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenstand haben, hat diese erste Philosophie das ganze Seiende oder das Seiende als Seiendes, d.h. die gemeinsamen Bestimmungen des Seienden zu ihrem Gegenstand. Und während jede Einzelwissenschaft, entsprechend dieser Aufgabe, ein bestimmtes Gebiet des Seienden zu erkennen, in der Feststellung der Gründe nur bis zu einem gewissen Punkte zurückgeht, welcher selber im Zusammenhang der Erkenntnis rückwärts bedingt ist, hat die erste Philosophie die nicht weiter im Erkenntnisvorgang bedingten Gründe alles Seienden zu ihrem Gegenstand.65[129]

Diese Begriffsbestimmung der ersten Philosophie oder Metaphysik, welche Aristoteles entwarf, wird von den am meisten hervorragenden Metaphysikern des Mittelalters festgehalten.66 In der neueren Philosophie überwiegt immer mehr die am meisten abstrakte unter den Formeln des Aristoteles, welche die Metaphysik als Wissenschaft der nicht weiter im Erkenntnisvorgang bedingten Gründe bestimmt. So definiert Baumgarten die Metaphysik als die Wissenschaft der ersten Erkenntnisgründe. Und auch Kant bestimmt ganz übereinstimmend mit Aristoteles den Begriff derjenigen Wissenschaft, welche er als die dogmatische Metaphysik bezeichnet und deren Auflösung zu vollbringen er unternahm. Er knüpfte in seiner Kritik der Vernunft genau an den Aristotelischen Begriff von Gründen, welche selber nicht mehr bedingt sind, an. Jeder allgemeine Satz (sagt Kant), insofern er als Obersatz in einem Vernunftschluß dienen kann, ist ein Prinzip, nach welchem dasjenige erkannt wird, was unter die Bedingung desselben subsumiert wird. Diese allgemeinen Sätze als solche sind nur komparative Prinzipien. Die Vernunft unterwirft nun aber alle Verstandesregeln ihrer Einheit; zu den bedingten Erkenntnissen des Verstandes sucht sie das Unbedingte. Hierbei wird sie von ihrem synthetischen Prinzip geleitet: ist das Bedingte gegeben, so ist auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selber unbedingt ist, gegeben. Dies Prinzip ist nach Kant das der dogmatischen Metaphysik, und dieselbe ist ihm ein notwendiges Stadium in der Entwicklung der menschlichen Intelligenz.67 – Alsdann stimmen mit der Begriffsbestimmung des Aristoteles die meisten philosophischen Schriftsteller der letzten Generation überein.68 In diesem Verstande ist der Materialismus oder der naturwissenschaftliche Monismus so gut Metaphysik als die Ideenlehre Platos; denn auch in jenen handelt es sich um die allgemeinen notwendigen Bestimmungen des Seienden.

Aus der Aristotelischen Begriffsbestimmung der Metaphysik ergibt sich vermittels der sicheren Einsichten der kritischen Philosophie ein Merkmal der Metaphysik, welches ebenfalls einem Streit nicht unterliegen kann. Kant hat dies Merkmal richtig herausgehoben. Alle Metaphysik überschreitet die Erfahrung. Sie ergänzt das in der Erfahrung Gegebene durch einen objektiven und allgemeinen[130] inneren Zusammenhang, welcher nur in der Bearbeitung der Erfahrung unter den Bedingungen des Bewußtseins entsteht. Herbart hat diesen wahren Charakter aller Metaphysik, wie er sich aus der Betrachtung ihrer Geschichte unter dem Gesichtspunkt eines kritischen Denkens ergibt, meisterhaft dargelegt. Jede Atomenlehre, welche das Atom nicht bloß als einen methodischen Hilfsbegriff betrachtet, ergänzt die Erfahrung durch Begriffe, welche in der Bearbeitung dieser Erfahrung unter den Bedingungen des Bewußtseins entsprungen sind. Der naturwissenschaftliche Monismus fügt eine in keiner Erfahrung liegende, diese vielmehr ebenfalls ergänzende Beziehung zwischen materiellen und psychischen Vorgängen zu dem Erfahrenen hinzu, welcher gemäß in den Bestandteilen der Materie entweder überall psychisches Leben verbreitet ist oder in den allgemeinen Eigenschaften dieser Bestandteile die Gründe des Auftretens von psychischem Leben liegen.

Einige Schriftsteller gebrauchen den Ausdruck Metaphysik in einem von diesem herrschenden Sprachgebrauch abweichenden Sinne, weil sie einzelne Beziehungen verfolgen, in welche naturgemäß die so geschichtlich aufgefaßte Tatsache der Metaphysik tritt.

Kants Begriff von der dogmatischen Metaphysik schien in seinen elementaren Bestimmungen nur den des Aristoteles aufzunehmen und weiterzudenken. Dies ist darin gegründet: das Erkennen, auf seinem natürlichen Standpunkte, bewegt sich seinem Wesen gemäß in der Richtung von den gefundenen bedingten Wahrheiten auf ihren letzten, unbedingten Zusammenhang; aus dieser Richtung des Erkennens entsprang die Metaphysik des Aristoteles als geschichtliche Tatsache, sowie der Begriff von rückwärts nicht weiter bedingten Gründen, durch den sozusagen die Sprungfeder im Zweckzusammenhang des Denkens bloßgelegt wird, welcher diese metaphysische Geistesrichtung in Bewegung setzt; und dieselbe Notwendigkeit im Grunde der Bedingungen des Bewußtseins erfaßte auch der tiefe Blick Kants. Er, auf seinem kritischen Standpunkt, so sahen wir weiter, durchschaute auch die erkenntnistheoretische Voraussetzung, welche in dieser dogmatischen Metaphysik enthalten war. – Aber hier beginnt seine Abweichung von Aristoteles. Seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt gemäß will er den Begriff der Metaphysik aus ihrem Ursprung im Erkennen entwerfen. Nun denkt er aber unter der unbeweisbaren Voraussetzung, allgemeine und notwendige Wahrheiten hätten eine Erkenntnisart a priori zu ihrer Bedingung. Daher erhält für ihn Metaphysik als die Wissenschaft, welche die höchste uns mögliche Vernunfteinheit in unsere Erkenntnis zu bringen strebt69, folgerecht das Merkmal, System[131] der reinen Vernunft zu sein, d.h. »philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft in systematischem Zusammenhang«70 Und so ist ihm Metaphysik durch ihren Ursprung in der reinen Vernunft bestimmt, welcher allein philosophisches, apodiktisches Wissen ermöglicht. Von der dogmatischen unterscheidet er sein eigenes System als kritische Metaphysik; biegt er doch die Ausdrücke der alten Schule auch sonst in das Erkenntnistheoretische um. Seine Fassung des Begriffs Metaphysik ging auf seine Schule über.71 Aber diese Abweichung von dem historischen Sprachgebrauch verwickelt Kant in Widersprüche, da selbst die Metaphysik des Aristoteles eine solche reine Vernunftwissenschaft nicht ist, und sie bringt in seine Terminologie eine auch von seinen Verehrern bemerkte Dunkelheit.

Ein anderer Sprachgebrauch hebt eine Beziehung an der Metaphysik hervor, welche für die allgemeine Vorstellung der Gebildeten am meisten in den Vordergrund tritt, und dieser Sprachgebrauch ist daher im Leben sehr verbreitet. Wohl sind auch die monistischen Systeme der Naturphilosophie Metaphysik. Aber der Schwerpunkt der großen geschichtlichen Masse von Metaphysik liegt den gewaltigen Spekulationen näher, welche nicht nur die Erfahrung überschreiten, sondern ein von allem Sinnfälligen unterschiedenes Reich von geistigen Wesenheiten annehmen. Diese Spekulationen blicken also in ein hinter der Sinnenwelt Verborgenes, Wesenhaftes: eine zweite Welt. Die Vorstellung findet sich daher bei dem Namen Metaphysik am stärksten zu der Gedankenwelt eines Plato oder Aristoteles, Thomas von Aquino oder Leibniz hingezogen. Und diese Idee von Metaphysik wird durch den Namen selber unterstützt, den auch Kant auf ein Objekt bezog, welches trans physicam gelegen sei.72 Auch hier wird eine einzelne Beziehung der Metaphysik einseitig herausgehoben; in die Welt des Glaubens reichen einige der tiefsten Wurzeln der bezeichneten Klasse metaphysischer Systeme, und aus diesen sogen dieselben einen Teil ihrer Kraft, das Gemüt ganzer Zeitalter zu beherrschen.

Endlich bezeichnen Schriftsteller jeden Zustand von Überzeugung über den allgemeinen objektiven Zusammenhang der Wirklichkeit oder enger über das die Wirklichkeit Überschreitende als Metaphysik, und so sprechen sie von einer naturwüchsigen, einer Volksmetaphysik. Sie drücken richtig eine Verwandtschaft aus, welche zwischen diesen Überzeugungen und der Metaphysik als Wissenschaft besteht, aber das Bewußtsein dieser Verwandtschaft wird angemessener durch eine Anwendung der bezeichneten Ausdrücke in einem übertragenen[132] Sinn bezeichnet, als durch eine solche Erweiterung des Wortsinns von Metaphysik, welche die geschichtliche Einschränkung desselben auf Wissenschaft aufhebt.


Wir gebrauchen also den Ausdruck Metaphysik in dem entwickelten, von Aristoteles geprägten Verstande. Während nun Wissenschaft überhaupt nur mit der Menschheit selber wieder untergehen kann, ist innerhalb ihres Systems diese Metaphysik eine geschichtlich begrenzte Erscheinung. Andere Tatsachen des geistigen Lebens gehen ihr innerhalb des Zweckzusammenhangs unserer intellektuellen Entwicklung voraus, sie ist von anderen begleitet und wird von ihnen in der Herrschaft abgelöst. Der geschichtliche Verlauf zeigt als solche andere Tatsachen: die Religion, den Mythos, die Theologie, die Einzelwissenschaften der Natur und der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, endlich die Selbstbesinnung und die in ihr entspringende Erkenntnistheorie. So empfängt das Problem, das uns beschäftigt, auch die Gestalt: welche sind die Beziehungen der Metaphysik zu dem Zweckzusammenhang der intellektuellen Entwicklung und den diesen ausmachenden, anderen großen Tatsachen des geistigen Lebens?

Comte hat versucht, diese Beziehungen in einem einfachen Gesetz auszudrücken, welchem gemäß in der intellektuellen Entwicklung des Menschengeschlechts ein Stadium der Theologie abgelöst worden sei von einem der Metaphysik und dieses von einem der positiven Wissenschaften. Metaphysik ist also auch für ihn und seine weitverbreitete Schule ein vorübergehendes Phänomen in der Geschichte des fortschreitenden wissenschaftlichen Geistes, wie sie es für Kant und seine Schule in Deutschland und für John Stuart Mill in England ist.

Auch Kant hat sich schließlich mit der Metaphysik auseinandergesetzt, und dieser tiefsinnigste Geist, den die neueren europäischen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der Geschichte der Intelligenz ein notwendiger, in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens selber begründeter Zusammenhang bestehe. Der menschliche Geist durchlief drei Stadien; »das erste war das Stadium des Dogmatism« (in den gewöhnlichen Sprachgebrauch übertragen: der Metaphysik), »das zweite das des Skepticism, das dritte das des Kriticism der reinen Vernunft; diese Zeitordnung ist in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens gegründet«.73 Der Knoten in diesem Drama des Erkenntnisvorgangs liegt nach Kant in der oben74 entwickelten Natur der Vernunft, aus ihr entspringt eine natürliche und unvermeidliche Illusion, und so wird der menschliche Geist[133] in den dialektischen Widerstreit zwischen Dogmatism (Metaphysik) und Skepticism verwickelt, die Auflösung dieses Widerstreits durch Erkenntnistheorie ist aber der Kriticism.75

Sowohl diese Theorie von Kant als die von Comte enthalten eine einseitige Auffassung des Tatbestandes. Comte hat die historischen Beziehungen der Metaphysik zu demjenigen wichtigen Teil der intellektuellen Bewegung, welchen Skeptizismus, Selbstbesinnung und Erkenntnistheorie bilden, gar nicht untersucht; er hat die Beziehungen der Metaphysik zu Religion, Mythos und Theologie ohne die hier notwendige Zerlegung des zusammengesetzten Tatbestandes behandelt, und seine Theorie tritt daher in Widerspruch mit den Tatsachen der Geschichte und der Gesellschaft. Ja seine Auffassung der Metaphysik selber entbehrt der geschichtlichen Einsicht in die wahren Grundlagen der Macht derselben. Kant seinerseits gibt eine Konstruktion, nicht eine geschichtliche Darlegung, und diese Konstruktion ist von seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt, innerhalb desselben von seiner Ableitung alles apodiktischen Wissens aus den Bedingungen des Bewußtseins, einseitig bestimmt. Die nachfolgende Darlegung analysiert nur den geschichtlichen Tatbestand; an späterer Stelle kann ihm das Ergebnis aus der Analysis des Bewußtseins zur Bestätigung dienen.

63

Vgl. S. 44.

64

Bonitz, Aristotelis Metaphysica II, p. 3 sq. erörtert erschöpfend, daß Aristoteles diese Wissenschaft als prôtê philosophia bezeichnete, daß der Ausdruck meta ta physika für diesen Teil der Schriften des Aristoteles im Zeitalter des Augustus zuerst auftritt (wahrscheinlich auf Andronikus zurückzuführen) und zunächst den Schrifteninbegriff bedeutet, welcher auf den naturwissenschaftlichen in der Sammlung und in dem von Aristoteles hinreichend angedeuteten systematischen Zusammenhang folgte, alsdann aber, der Zeitrichtung entsprechend, auf eine Wissenschaft des Transzendenten gedeutet wurde.

65

Diese Begriffsbestimmung der prôtê philosophia des Aristoteles ist vermittels der Verbindung von insbesondere Metaph. I, 1. 2. III, 1 ff. VI, 1 abgeleitet. In betreff des Verhältnisses der Begriffe von sophia, prôtê sophia, holôs solos zu prôtê philosophia verweise ich auf Schweglers Kommentar zur Metaphysik S. 14 und den Index von Bonitz s. v. sophia

66

Thomae Aquinatis summa de veritate 1. I, c. 1.

67

Kants Werke (Rosenkr.) 2, 63 ff., 341 ff. – 1, 486 ff.

68

Trendelenburg, Log. Untersuchungen (3. Aufl.) 1, 6 ff. Überweg, Logik (3. Aufl.) S. 9 ff. Schelling, der in seinen letzten Arbeiten ebenfalls auf Aristoteles zurückgeht, Philosophie der Offenbarung, W. W. II., 3, 38. Lotze, Metaphysik S. 6 ff.

69

Kant 2, 350.

70

Kant 2, 648. – 1, 490.

71

Apelt, Metaphysik S. 21 ff.

72

Kant 1, 558.

73

Kant 1, 493.

74

S. 131 f.

75

Kant 2, 241 ff.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 127-134.
Lizenz:
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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