Drittes Kapitel
Das religiöse Leben als Unterlage der Metaphysik. Der Zeitraum des mythischen Vorstellens

[134] Niemand kann bezweifeln, daß der Entstehung der Wissenschaften in Europa eine Zeit vorausgegangen ist, in welcher die intellektuelle Entwicklung sich in der Sprache, Dichtung und im mythischen Vorstellen sowie im Fortschritt der Erfahrungen des praktischen Lebens vollzog, dagegen eine Metaphysik oder Wissenschaft noch nicht bestand.76 – Wir treffen die europäische Menschheit, ungesondert von den kleinasiatischen Griechen, in intimer Wechselwirkung mit den[134] umgebenden Kulturländern, sechs Jahrhunderte v. Chr. im Übergang zu dem Stadium der Wissenschaft vom Kosmos sowie der Metaphysik an. Dieselben entstanden also in Europa in einer feststellbaren, ja in ihrem Charakter der Forschung zugänglichen Zeit, nachdem das mythische Vorstellen eine unabsehbare Zeit hindurch, welche sich in gänzliches Dunkel verliert, geherrscht hatte. Diese lange und dunkle Epoche empfängt nur in ihrem letzten Stadium ein direktes leicht durch erhaltene dichterische Werke und durch Überlieferungen, welche eine teilweise Rekonstruktion der verlorenen gestatten. Was in ihr diesen Denkmälern vorausliegt, ist einer vergleichenden Kulturgeschichte allein zugänglich. Und zwar kann diese wohl für die indogermanischen Völker an der Hand der Sprache Etappen ihrer äußeren Lage, der steigenden äußeren Zivilisation, ja vielleicht der Entwicklung der Vorstellungen erschließen; sie kann an der Hand der vergleichenden Mythologie die Metamorphosen von indogermanischen Grundmythen aufzeigen, Grundzüge der äußeren Organisation und des Rechtes erraten. Aber das Innere der Menschen selber in jenem Zeitraum, welchen man im Unterschied von dem prähistorischen den präliterarischen nennen könnte, d.h. einem Zeitraum, in welchem dichterische Werke hinter uns zurückbleiben, entzieht sich einer historischen Wiederherstellung. Wenn Lubbock zu erschließen versucht, daß alle Völker ein Stadium des Atheismus, d.h. der vollständigen Abwesenheit jeder Art von religiöser Vorstellung durchlaufen haben77, oder Herbert Spencer, daß aus Ideen von den Toten alle Religion erwachsen sei78: so sind dies die Orgien eines die Grenzen des Erkennens mißachtenden Empirismus. An den Grenzpunkten der Geschichte kann man eben auch nur dichten, wie an jedem anderen Grenzpunkt der Erfahrung. Wir schränken uns also zunächst auf den Zeitraum ein, innerhalb dessen literarische Denkmale das Innere des Menschen erblicken lassen.

Indem wir diese Grenzen des historischen Erkennens einhalten, ist uns innerhalb ihrer zunächst durch das Verhältnis von Nebeneinanderbestehen und Aufeinanderfolge der großen Tatsachen des geistigen Lebens eine Unterscheidung von Mythos und Religion gegeben. Der Mangel derselben ist der erste Grund der Fehlerhaftigkeit des Comteschen Gesetzes. Das religiöse Erlebnis steht zu dem Mythos und der Theologie, der Metaphysik und der Selbstbesinnung in einem viel verwickelteren Verhältnis, als Comte angenommen hat. Hiervon überzeugt uns die Betrachtung des gegenwärtigen geistigen Zustandes; mußte doch Comte an seinem eigenen System im 19. Jahrhundert die Erfahrung machen, daß dasselbe über die zweite Stufe[135] der Metaphysik in den Geisteswissenschaften nicht hinauskam, schließlich aber durch eine Art von wissenschaftlichem Atavismus auf die erste, die theologische Stufe zurücksank. Deutlicher noch spricht die Geschichte gegen Comte. Der Zeitraum der Alleinherrschaft mythischen Vorstellens ging bei den griechischen Stämmen vorüber; aber das religiöse Leben blieb und fuhr fort, wirksam zu sein. Die Wissenschaft erwachte langsam; das mythische Vorstellen bestand neben ihr fort, und wo das religiöse Leben den herrschenden Mittelpunkt der Interessen bildete, bediente es sich mancher von der Wissenschaft entwickelter Sätze. Ja jetzt geschah es, daß das religiöse Leben in tief von ihm bewegten Naturen, wie Xenophanes, Heraklit, Parmenides waren, an dem metaphysischen Denken eine neue Sprache fand. Es überlebte aber auch diese Art seines Ausdrucks. Denn auch die Metaphysik ist vergänglich, und die Selbstbesinnung, welche die Metaphysik auflöst, findet in ihrer Tiefe abermals – das religiöse Erlebnis.

So zeigt das empirische Verhältnis von Zusammenbestehen und Aufeinanderfolge der großen Tatsachen, die in der Geschichte der Intelligenz verwebt sind: das religiöse Leben ist ein Tatbestand, welcher gleicherweise mit dem mythischen Vorstellen wie mit der Metaphysik und mit der Selbstbesinnung verbunden ist. Dasselbe muß, wie eng auch die Art seiner Verbindung mit diesen letzteren Erscheinungen sein mag, von denselben als ein Tatbestand viel umfassenderer Verbreitung abgesondert werden. Und zwar findet sich nicht nur in demselben Zeitalter, sondern in demselben Kopf, ohne Widerspruch, religiöses Leben, mythisches Vorstellen und metaphysisches Denken vereinigt; dies war bei vielen griechischen Denkern der Fall; mit grandiosem Ernst ringen ein Heraklit, Parmenides und Plato. die Mythensprache ihrer Gedankenwelt gemäß zu gestalten. Es findet sich in demselben Kopf mit der Metaphysik auch Theologie und religiöses Erleben verbunden, dies war bei vielen mittelalterlichen Denkern der Fall. Nur kann nicht dieselbe Tatsache zugleich mythisch vorgestellt und gedankenmäßig erklärt werden. Diese Verhältnisse sondern noch deutlicher religiöses Leben von mythischem Vorstellen.

Für den vorliegenden Zweck einer erfahrungsmäßigen Darlegung würde eine Bestimmung des Begriffs von religiösem Leben uns leicht dem Verdacht einer Konstruktion aussetzen: es genügt, den vorhandenen Tatbestand desselben zu umschreiben und zu bezeichnen. Das Vorhandensein von Erlebnis, von innerer Erfahrung überhaupt, kann nicht geleugnet werden. Denn dieses unmittelbare Wissen ist der Erfahrungsinhalt, desses Analysis alsdann Kenntnis und Wissenschaft der geistigen Welt ist. Diese Wissenschaft bestünde nicht, wenn inneres Erlebnis, innere Erfahrung nicht vorhanden[136] wären. Nun sind Erfahrungen solcher Art die Freiheit des Menschen, Gewissen und Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende Gegensatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergänglichen und Ewigen sowie die Sehnsucht des Menschen nach dem letzteren. Und zwar sind diese inneren Erfahrungen Bestandteile des religiösen Lebens. Dasselbe umfaßt aber zugleich das Bewußtsein einer unbedingten Abhängigkeit des Subjekts. Schleiermacher hat den Ursprung dieses Bewußtseins im Erlebnis aufgezeigt. Neuerdings hat Max Müller dieser Theorie eine festere empirische Grundlage zu geben versucht. »Wenn es uns zu kühn klingt, zu sagen, daß der Mensch wirklich das Unsichtbare sieht, so sagen wir, daß er den Druck des Unsichtbaren merkt, und dieses Unsichtbare ist eben nur ein besonderer Name für das Unendliche, mit dem der Naturmensch so seine erste Fühlung gewinnt.«79 Und so führt die Betrachtung religiöser Gemütszustände überall auf die Verwebung der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von der Natur unabhängigen Lebens zurück.

Das Merkmal des religiösen Lebens ist, daß es sich kraft einer anderen Art von Überzeugung behauptet, als die wissenschaftliche Evidenz ist. Der religiöse Glaube verweist allen Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das Gemüt noch gegenwärtig in sich erleben kann, und das, was ihm geschichtlich widerfahren ist. Er ist weder vom Räsonnement getragen, noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entspringt in der Totalität aller Gemütskräfte, und auch nachdem der Differenzierungsprozeß des geistigen Lebens die Poesie, die Metaphysik wie die Wissenschaften zu relativ selbständigen Formen dieses: geistigen Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöse Erlebnis in der Tiefe des Gemüts fortbestehen und wirkt auf diese Formen. Denn nie wird das Erkennen, welches in den Wissenschaften tätig ist, des ursprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wissen dem Gemüt gegenwärtig ist. Das Erkennen arbeitet an diesem Erlebnis sozusagen von außen nach innen. Aber mag es auch immer neue Tatsachen dem Gedanken und der Notwendigkeit unterwerfen – und das ist seine Funktion – : mit zäher Kraft des Widerstandes erhalten sich ihm gegenüber im Bewußtsein freier Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: sie bleiben stehen, ob sie gleich dem notwendigen Zusammenhang in dem Erkennen widersprechend sind. Wohl muß das Erkennen dem in ihm liegenden Gesetz gemäß seinen Gegenstand der Notwendigkeit unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum alles Gegenstand werden, muß oder kann alles von ihm erkannt werden?[137]

Diese Einsicht, daß das religiöse Leben der dauernde Untergrund der intellektuellen Entwicklung ist, nicht eine vorübergehende Phase im Sinnen der Menschheit, wird später durch die psychologische Zergliederung vervollständigt werden. Historisch ist dieses Verhältnis für die bereits abgelaufene Entwicklung nur innerhalb eines begrenzten Zeitraums nachweisbar. Es kann nicht historisch dargetan werden, daß das religiöse Leben, wie wir es solchergestalt als den Untergrund des geschichtlichen Lebens in Europa feststellen können, zu jeder Zeit einen Bestandteil der menschlichen Natur gebildet habe. Nur so viel ergibt sich aus dem bisher Entwickelten: wenn die Tatsachen uns zwängen, an irgendeinem Punkte der sich rückwärts erstreckenden Linie des geschichtlichen Verlaufs einen religionslosen Zustand (Religion in dem Sinne des ursprünglichen religiösen Erlebnisses genommen, in welchem sie das Bewußtsein von gut und böse und die Beziehung hiervon auf einen Zusammenhang, von dem der Mensch abhängig ist, bereits enthält) anzunehmen – was jedoch nicht der Fall ist - , alsdann würde dieser Punkt zugleich ein Grenzpunkt des historischen Verstehens sein. Wir könnten über eine solche Zeit wohl historische Notizen haben, aber dieselbe läge jenseits der Grenzen unseres historischen Verständnisses. Denn wir verstehen nur vermittels der Übertragung unserer inneren Erfahrung auf eine an sich tote äußere Tatsächlichkeit. Wo nun unableitbare Bestandteile der inneren Erfahrung, durch welche der Zusammenhang dieser Erfahrung in unserem Bewußtsein erst möglich ist, in einem historischen Zustande als abwesend aufgefaßt werden sollen, da sind wir eben an der Grenze des historischen Auffassens selber angelangt. Hiermit ist nicht ausgeschlossen, daß ein solcher Zustand bestanden habe. Es wäre möglich, daß Bestandteile der inneren Erfahrung, ob sie gleich für uns nicht ableitbar sind, dennoch nicht primär wären, und die Erkenntnistheorie hat eine solche Möglichkeit zu prüfen. Aber das ist ausgeschlossen, daß wir ihn verstehen und von ihm aus einen Zustand, in welchem dieser unableitbare Bestandteil alsdann auftritt, verständlich machen könnten; ausgeschlossen also ist das historische Verständnis eines religionslosen Zustandes und der Entstehung des religiösen Zustandes aus ihm. Hervorragende neuere empiristische Schriften über die Anfänge der Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgenden Widerspruch. Sie finden unableitbare Tatsachen der inneren Erfahrung in dem primären Zustande der Menschheit noch nicht vorhanden, aber sie wollen weder darauf verzichten, diesen Zustand historisch zu verstehen, noch darauf, den folgenden aus ihm abzuleiten.

Soweit also überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu gesellschaftlicher[138] Erfahrung reicht, gab es keine Zeit, in welcher nicht das Individuum, wie es sich fand, sich nur als fortbestehend, rückwärts bestimmt, sonach unbedingt abhängig gefunden hätte, alsdann den Horizont der Welt selber nach allen Seiten, sinnlich gesehen, ursächlich aufgefaßt, als in die Unendlichkeit zerfließend.80 Es gab keine Zeit, in welcher nicht die freie Spontaneität des Menschen mit dem anderen, dessen Druck ihn umgab, gerungen hätte, und auch die mythischen Vorstellungen haben in dem Willen ihre starken Wurzeln. Keine Zeit bestand, in welcher der Mensch nicht im Gegensatz zu seinem armen Leben Bilder von etwas Reinerem und Vollkommenerem besaß. Und alles, was der Mensch wirkend fand, zeigte dem Gemüt, das Lust und Wehe empfindet, hofft und fürchtet, dem Willen, der liebt und haßt, ein doppeltes Angesicht. Dies alles ist Leben, nicht schließendes Erkennen. Sobald diese unableitbaren Bestandteile meines eigenen Lebens, meiner inneren Erfahrung sich mit den historischen Tatsachen, und zwar den durch sichere Schlüsse verbürgten Tatsachen, nicht mehr zu geschichtlichem Verständnis zusammenschließen, bin ich an der Grenze des geschichtlichen Verfahrens angelangt. An diesem Punkte beginnt das Reich des geschichtlich Transzendenten. Denn auch das geschichtliche Verfahren hat eine innere, im Bewußtseinsvorgang selber liegende und darum unverrückbare Grenze, so gut, als die naturwissenschaftliche Erkenntnis eine solche hat. Da es in dem gegenwärtigen Bewußtsein vermittels der geschichtlichen Fakten die Schatten der Vergangenheit erscheinen läßt, so vermag es nur aus dem Leben und der Realität dieses Bewußtseins ihnen ihre Wirklichkeit mitzuteilen.


So weit konnte hier, vor der psychologischen Analysis, der wichtige Satz festgestellt werden, welchem gemäß das religiöse Leben der[139] beständige Untergrund der uns geschichtlich bekannten intellektuellen Entwicklung ist. Wir finden nun das religiöse Leben mit dem mythischen Vorstellen in dem Zeiträume von der uns erhaltenen epischen Dichtung der Griechen ab bis zu dem Auftreten der Wissenschaft in einer bestimmten Weise verbunden. Aus dem, was über die Art dieser Verbindung noch festgestellt werden kann, entnehmen wir wenige und ganz allgemeine Züge, welche für die Anschauung des Zweckzusammenhangs der intellektuellen Geschichte notwendig sind.

Das mythische Vorstellen gestaltet einen realen und lebendigen Zusammenhang der den Menschen jener Tage besonders bedeutsamen Phänomene. Hiermit leistet es etwas, was das Wahrnehmen, Vorstellen, Wirken, welche mit den Objekten in täglichem Verkehr stehen, sowie die Sprache nicht leisten. Wohl verknüpfen Wahrnehmen und Vorstellen überall die Eindrücke zu Dingen, welchen Eigenschaften, Zustände, Tätigkeiten zukommen; zwischen diesen setzen sie Verhältnisse, insbesondere das von Ursache und Wirkung. So nachdrücklich als möglich muß man sich gegen Auffassungen verwahren, welche diese aus dem täglichen Kleinverkehr mit den Objekten entspringenden Züge unserer Vorstellungsweise in der Zeit der Mythenbildung in eine allgemeine Lebendigkeit des Weltzusammenhangs aufgelöst vorstellen. Wohl ist ferner das frühe Bewußtsein der so entstehenden Beziehungen in der Sprache ausgedrückt worden. Das Wurzelverhältnis, die Sonderung der Wortarten, der Kasus, Tempora usw., die syntaktische Gliederung, die Unterordnung von Tatsachen unter Namen von Allgemeinvorstellungen: dies alles bildet Beziehungen ab, welche an der Wirklichkeit aufgefaßt und unterschieden worden sind. Das spätere philosophische Denken knüpft in vielen Punkten an die Sprache an; das mythische Vorstellen ist mit ihr in tiefen Bezügen verwebt. Dennoch ist, was hier geleistet wird, gänzlich verschieden von der Herstellung des realen und allgemeinen Zusammenhangs zwischen den für die Menschen jener Tage bedeutsamen Phänomenen, welche im mythischen Vorstellen vollbracht wird. Die Funktion des mythischen Vorstellens ist daher in dieser Zeit der analog, welche die Metaphysik für einen späteren Zeitraum hat. Nicht die Religion, nicht das in ihr gesetzte Bewußtsein Gottes bezeichnet ein solches erstes Stadium, daher auch nicht die Vorstellung des Supranaturalen: sie bilden vielmehr die beständige Bedingung des geistigen Lebens der Menschheit. Comtes Theorem von dem ersten Stadium der geistigen Entwicklung, das er als das theologische bezeichnet, ist daher unhaltbar, weil es die Funktion des mythischen Vorstellens im Zusammenhang der geistigen Entwicklung nicht von der Stellung der[140] Religion in diesem Zusammenhang sondert. Und die Annahme von dem beständig in der Geschichte abnehmenden und allmählich vor der Wissenschaft verschwindenden Einfluß religiöser Vorstellungen auf die europäische Gesellschaft ist von dem Verlauf der Geschichte nicht bestätigt worden.

Und zwar zeigt das mythische Vorstellen eine relative Selbständigkeit dem religiösen Leben gegenüber. Zwar ruht der reale Zusammenhang von Phänomenen, welchen es gestaltet, auf dem religiösen Leben: dieses ist in ihm die alles Sichtbare überschreitende Lebensmacht. Aber dieser Zusammenhang ist nicht in der religiösen Erfahrung allein gegründet. Er ist ebenso bedingt durch die Art, wie den Menschen jener Tage die Wirklichkeit gegeben ist. Diese ist für sie als Leben da, bleibt ihnen Leben, wird nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verstandes. Daher ist sie an allen Punkten Wille, Faktizität, Geschichte, d.h. lebendige ursprüngliche Realität. Da sie für den ganzen lebendigen Menschen da ist und noch keiner verstandesmäßigen Analysis und Abstraktion, sonach Verdünnung unterworfen wird: so ist sie entsprechend selber Leben. Und wie solchergestalt der Zusammenhang, welchen das mythische Vorstellen bildet, nicht allein aus dem religiösen Leben entspringt, so kann auch der Inhalt des letzteren nie ganz in der Vorstellungsform der Mythen sich erschöpfen. Leben geht nie in Vorstellung auf. Das religiöse Erlebnis bleibt vielmehr das ewig Innere; in keinem Mythos und keiner Vorstellung eines Gottes findet es daher einen adäquaten Ausdruck. Wie denn dasselbe Verhältnis auf einer höheren Stufe zwischen der Religion und der Metaphysik stattfindet.

So hat die Mythensprache für die vorwissenschaftliche Zeit z.B. der griechischen Stämme eine über den Ausdruck des religiösen Lebens hinausreichende Bedeutung. Die Grundmythen der indogermanischen Völker, wie sie die vergleichende Mythologie festzustellen bemüht ist, gleichen hierin den Wurzeln ihrer Sprachen, daß sie relativ selbständige Mittel des Ausdrucks sind, welche sich in dem Wechsel der religiösen Zustände als konstante Darstelstellungsmittel erhalten. Sie dauern in immer neuen Metamorphosen (deren Gesetze aus denen der Phantasie fließen), welchen Wechsel auch die Vorstellungen von den Göttern und das ihnen zugrunde liegende religiöse Bewußtsein erfahren. Sie walten so selbständig in der Phantasie dieser Völker, daß sie in derselben nicht erlöschen, auch wenn der Glaube erlischt, der in ihnen sich ausdrückte.

Sie dienen in relativer Selbständigkeit einem über das religiöse Bewußtsein hinausreichenden Bedürfnis, die Phänomene der Natur sowohl als der Gesellschaft in Zusammenhang zu bringen und eine[141] erste Art von Erklärung derselben zu geben. Hier tritt uns die älteste Form des allgemeinen Verhältnisses entgegen, in welchem der religiöse Untergrund der intellektuellen Entwicklung Europas zu der in ihr wirksamen Richtung auf eine zusammenhängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene steht. Die Art der Erklärung ist höchst unvollkommen; der Zusammenhang der Phänomene wird als ein Willenszusammenhang, ein Ineinandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren und angeschaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit hindurch die intellektuelle Entwicklung dieser jugendstarken Stämme in sich zu fassen: alsdann zersprengte die Richtung auf Erklärung die unvollkommene Hülle.

76

Turgot hat zuerst versucht, das Gesetzmäßige in der Entwicklung der Intelligenz zu entwickeln, da Vicos scienza nuova (1725) sich auf die Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus; das mythische Vorstellen bezeichnet ihm dann die erste Stufe des auf die Ursachen gerichteten Forschens. »La pauvreté des langues et la nécessité des métaphores, qui résultoient de cette pauvreté, firent qu'on employa les allégories et les fables pour expliquer les phénomènes physiques. Elles sont les premiers pas de la philosophie.« (Œuvres 2, 272 [Paris 1808] aus den Papieren Turgots, die auf seine Reden über die Geschichte von 1750 sich bezogen.) »Les hommes, frappés des phénomènes sensibles, supposèrent que tous les effets indépendans de leur action étoient produits par des êtres semblables à eux, mais invisibles et plus puissans« (2, p. 63).

77

Lubbock, Entstehung der Zivilisation. Deutsche Ausg. 1875. S. 172, vgl. 170.

78

Spencer, System der Philosophie, Bd. VI, zusammengefaßt S. 504 ff.

79

Max Müller, Ursprung und Entwicklung der Religion. S. 41.

80

Den Ausgangspunkt dieses psychologischen Tatbestandes hat Schleiermacher auf unanfechtbare Weise festgelegt. Dies bildet sein unvergängliches Verdienst; er hat die intellektualistische Begründung der Religion auf Räsonnement des Verstandes, welches an der Hand der Begriffe Ursache, Verstand und Zweck geht, als sekundär aufgezeigt; er hat gezeigt, wie das Selbstbewußtsein Tatsachen enthält, welche den Ansatzpunkt alles religiösen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) »Wir finden uns selbst immer nur im Fortbestehen, unser Dasein ist immer schon im Verlauf begriffen; mithin kann auch unser Selbstbewußtsein, sofern wir, von allem anderen abgesehen, uns nur als endliches Sein setzen, dieses nur in seinem Fortbestehen repräsentieren. In diesem aber auch so vollständig – weil nämlich das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein so allgemeiner Bestandteil unseres Selbstbewußtseins ist - , daß wir sagen können, in welcher Art des Gesamtseins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten gestellt sein, wir würden in jeder vollständigen Besinnung uns immer nur so finden, und daß wir dieses auch immer auf das gesamte endliche Sein übertragen.« Sein Fehler lag darin, daß dieser tiefe Blick ihn nicht bestimmte, nunmehr mit der intellektualistischen Metaphysik zu brechen und der Philosophie eine seinem Ausgangspunkt entsprechende, psychologische Grundlage zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitströmung der Naturphilosophie.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 134-142.
Lizenz:
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