1. Abschluß der Metaphysik der substantialen Formen

[301] Indem jetzt mit der Theologie der monotheistischen Religionen die Wissenschaft vom Kosmos verknüpft wurde, entsprangen zwar weitere unlösbare Schwierigkeiten, welche die Zersetzung der mittelalterlichen Metaphysik herbeigeführt haben, jedoch solange sie verdeckt werden konnten und das Gute des Willens mit dem Vernünftigen des Denkens, das Christliche mit der griechischen Vernunftwissenschaft in eins gesetzt wurden, ergab sich hieraus die Geltung einer glänzenden Formel, welche die bisherige Metaphysik zu systematischer Einheit abschloß.

Zunächst substituierte man den analytischen Ergebnissen des Plato und Aristoteles, welche letzte Voraussetzungen des Kosmos enthalten, den konstruktiven philonisch-neuplatonischen Gedanken. Nach demselben haben die Ideen in Gott ihren Ort, und von dieser intelligiblen Welt strahlen die das All durchwirkenden Kräfte aus. Diesem Gedanken hatte Augustinus, wie es andere Kirchenväter getan, in die Philosophie des Christentums aufgenommen316 und mit der Schöpfungslehre in Verbindung gesetzt. Die Dinge sind nach ihm von der Gottheit als Ausdruck der in ihr bestehenden intelligiblen Welt unveränderlicher Ideen geschaffen; so empfängt die Metaphysik als Vernunftwissenschaft nun eine einfachere und mehr systematische Fassung ihres Zusammenhangs: die intelligible Welt in Gott ist der Schöpfung eingebildet, und die diesem objektiven Zusammenhang entsprechenden[301] Prinzipien sind in den von Gott geschaffenen Einzelgeist hineingelegt.317

So bildete sich auf der Höhe dieser Entwicklung folgende Theorie, die Thomas von Aquino feinsinnig entwickelt hat. Plato nahm nach ihm irrtümlich an, das Objekt der Erkenntnis müsse in sich so existieren, wie in unserem Wissen, sonach immateriell und unbeweglich. In Wirklichkeit vermag die Abstraktion das, was in dem Objekt ungesondert ist, zu sondern und einen Bestandteil in ihm, absehend von den anderen, für sich zu betrachten. Der Bestandteil, welchen unser Denken im Allgemeinbegriff am Gegenstände heraushebt, ist sonach real, aber er ist nur ein Teil der Realität desselben. Daher ist eine den Allgemeinbegriffen entsprechende Realität nur in den Einzeldingen gegeben; »die Universalia sind nicht für sich bestehende Dinge, sondern haben ihr Sein allein in dem einzelnen«. Jedoch wird andererseits in den Universalien etwas Wesenhaftes ausgesondert von dem menschlichen Intellekt, denn sie sind in dem göttlichen Intellekt enthalten und von ihm den Objekten eingebildet. So kann Thomas sich einer den Streit über die Universalien scheinbar beendenden Formel bedienen. Die Universalien sind vor den einzelnen Dingen, in ihnen und nach ihnen. Sie sind vor denselben im göttlichen, vorbildlichen Verstande; sie sind in den Dingen als Teilinhalte derselben, welche ihre allgemeine Wesenheit ausmachen; und sie sind nach denselben als Begriffe, welche durch den abstrahierenden Verstand hervorgebracht sind. Diese Formel kann alsdann leicht im Sinne der modernen Wissenschaft erweitert werden, und eine solche Erweiterung hat stattgefunden; sie ist schon im Mittelalter vorbereitet: in Gott sind nicht nur die allgemeinen Begriffe, sondern die allgemeinen Wahrheiten, die Gesetze der Veränderungen des Weltlaufs.318

Metaphysik als Vernunftwissenschaft empfing in diesen Sätzen die vollkommenste Form, welche ihr während des Mittelalters gegeben worden ist. Diese Vernunftwissenschaft will das Gedankenmäßige des Weltalls deutlich und begreiflich machen; ihr Problem ist die Natur dieser Gedankenmäßigkeit, der Ursprung derselben in der Welt und der des Wissens von ihr im Bewußtsein. Die Lösung des Problems wird auch in dieser Formel in ein Transzendentes hineingeschoben; denn sie enthält eine Relation zwischen drei Gliedern, in deren jedem dasselbe x, die unaufgelöste, allgemeine Form der Einzeldinge, wiederkehrt. Die Intelligenz, der Weltzusammenhang und Gott sind diese[302] Glieder. Und zwar ist Gott nicht nur bewegende und Zweckursache der Welt, sondern auch vorbildliche Ursache derselben. Oder wie Scotus Gott als die letzte Bedingung eines inneren und notwendigen Weltzusammenhangs aufzeigt: der Weltzusammenhang enthält eine Verkettung der Ursachen, eine Ordnung der Zwecke, eine Stufenreihe der Vollkommenheit; alle drei Reihen führen auf einen Anfangspunkt, der nicht durch ein weiter zurückliegendes Glied derselben Reihe bedingt ist, und zwar in derselben Wesenheit: denn, ebenso wie später Spinoza folgert, das necesse esse ex se kann nur einer Wesenheit zukommen. So ist Gott in diesem metaphysischen Zusammenhang die notwendige Ursache.319

Die Zahl der Wahrheiten, welche diese Vernunftwissenschaft feststellen zu können glaubte, verringerte sich ihr beständig während ihrer Arbeit; bis in dem Zeitalter Occams die Formel selber, nach welcher in Gott die Welt in Allgemeinbegriffen angelegt ist, aufgelöst wurde und die Erfahrung des Singularen ihr Recht geltend machte, nicht nur in Rücksicht auf die Außenwelt, sondern sowohl bei Roger Bacon als bei Occam auch in bezug auf die innere.

316

Augustinus, Retractat. I, c. 3. Nec Plato quidem in hoc erravit, quia esse mundum intelligibilem dixit, si non vocabulum, quod ecclesiasticae consuetudini in re illa non usitatum est, sed ipsam rem velimus attendere. mundum quippe ille intelligibilem nuncupavit ipsam rationem sempiternam atque incommutabilem, qua fecit Deus mundum. quam qui esse negat, sequitur ut dicat, irrationabiliter Deum fecisse quod fecit, aut cum faceret, vel antequam faceret, nescisse quid faceret, si apud eum ratio faciendi non erat. si vero erat, sicut erat, ipsam videtur Plato vocasse intelligibilem mundum. Vgl. weiter die S. 331 zitierte Stelle. Dazu vgl. Leibniz' Monadologie § 43. 44 : die »ewigen Wahrheiten oder die Ideen, von denen sie abhängen«, müssen in einem Reellen, Existierenden ihre Grundlage haben.

317

Vgl. S. 193 ff.

318

Über die Entstehung dieser Formel nach ihrer logischen Seite ausführlich Prantl, Geschichte der Logik II, 305 f. 347 ff. III, 94 ff. – Über die Einfügung der rationes in diese Formel, z.B. des Denkgesetzes des Widerspruchs, vgl. S. 331.

319

Duns Scotus in sentent. I, dist. 2 quaest. 2 und 3.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 301-303.
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Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
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