Die Bänder des metaphysischen Weltzusammenhangs können von dem Verstande nicht eindeutig bestimmt werden

[397] Wir gehen weiter. Die Metaphysik vermag die Verkettung der inneren und äußeren Erfahrungen nur durch Vorstellungen über einen inneren inhaltlichen Zusammenhang herzustellen. Und wenn wir diese Vorstellungen ins Auge fassen, ergibt sich die Unmöglichkeit der Metaphysik. Denn diese Vorstellungen sind einer klaren eindeutigen Bestimmung unzugänglich.

Der Differenzierungsprozeß, in welchem die Wissenschaft sich von den anderen Systemen der Kultur sondert, zeigte sich uns als beständig fortschreitend. Nicht mit einem Male löste sich aus der Gebundenheit aller Gemütskräfte der Zweckzusammenhang der Erkenntnis. Wieviel Ähnlichkeit hatte doch noch die Natur, welche aus einem inneren Zustand in den anderen nach einer inneren Lebendigkeit übergeht, oder das begrenzende Prinzip im Mittelpunkt der Welt, das die Materie an sich zieht und gestaltet, mit den göttlichen Kräften der Hesiodeischen Theogonie! Und wie lange blieb dann die Ansicht herrschend, welche die gedankenmäßige Ordnung des Weltalls auf ein System psychischer[397] Wesenheiten zurückführte ! Mühsam löste sich der Intellekt von diesem inneren Zusammen los. Allmählich gewöhnte er sich, mit immer weniger Leben und Seele in der Natur hauszuhalten und auf immer einfachere Formen der inneren Verbindung den Zusammenhang des Weltlaufs zurückzuführen. Zuletzt wurde auch die Zweckmäßigkeit als Form eines inneren inhaltlichen Zusammenhangs in Frage gestellt. Als die beiden inneren Bänder, welche den Weltlauf in all seinen Teilen zusammenhalten, blieben Substanz und Kausalität zurück.

Indem wir uns das Schicksal der Begriffe Substanz und Kausalität zurückrufen, ergibt sich: Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.

Der denknotwendige Zusammenhang setzt Substanz und Kausalität als feste Größen in die Verkettung aufeinanderfolgender und neben- einander bestehender Eindrücke ein. Nun erfährt die Metaphysik ein Wunderbares. Sie ist in dieser Zeit ihrer von Erkenntnistheorie noch nicht gebrochenen Zuversicht überzeugt, zu wissen, was unter Substanz und unter Kausalität zu denken sei. In Wirklichkeit zeigt ihre Geschichte beständigen Wechsel in der Bestimmung dieser Begriffe und vergebliche Versuche, sie zu widerspruchsloser Klarheit zu entwickeln.

Schon unsere Vorstellung des Dinges kann nicht zur Klarheit gebracht werden. Wie kann die Einheit, welcher mannigfache Eigenschaften, Zustände, Wirken und Leiden inhärieren, von diesen letzteren abgegrenzt werden? Das Beharrliche von den Veränderungen? Oder wie vermag ich festzustellen, wann eine Verwandlung desselben Dinges noch stattfindet und wann es vielmehr aufhört zu sein? Wie vermag ich das in ihm was bleibt von dem abzusondern was wechselt? Wie kann endlich diese beharrliche Einheit als in einem räumlichen Außereinander irgendwo sitzend gedacht werden? Alles Räumliche ist teilbar, enthält also nirgend eine zusammenhaltende unteilbare Einheit, und andererseits schwinden mit dem Raume, wenn ich ihn hinwegdenke alle sinnlichen Qualitäten des Dinges. Dennoch kann diese Einheit nicht aus dem bloßen Zusammengeraten verschiedener Eindrücke (in Wahrnehmung und Assoziation) erklärt werden; denn eben im Gegensatz hierzu drückt sie ein inneres Zusammengehören aus.

Von diesen Schwierigkeiten hervorgetrieben, tritt der Substanzbegriff auf. Wie wir geschichtlich nachwiesen, ist er aus dem Bedürfnis entstanden, das Feste, welches wir in jedem Dinge als beharrliche Einheit annahmen, gedankenmäßig zu erfassen und zur Lösung der Aufgabe zu verwerten, die wechselnden Eindrücke auf ein Bleibendes, in dem sie verbunden sind, zu beziehen. Aber da er nichts als die wissenschaftliche Bearbeitung der Dingvorstellung ist, so entfaltet er die in dieser gelegenen Schwierigkeiten nur deutlicher. Selbst das[398] metaphysische Genie des Aristoteles sahen wir vergebens ringen, diese aufzulösen. Auch ist es umsonst, wenn nun die Substanz in das Atom verlegt wird. Denn mit ihr werden auch ihre Widersprüche in dieses unteilbare Räumliche, dieses Ding im Kleinen verlegt, und die Naturwissenschaft muß sich begnügen, sofern sie den Begriff von etwas bildet, das in unserem Naturlauf nicht weiter zerlegt werden kann, diese Schwierigkeiten nur von sich auszuschließen: auf ihre Lösung verzichtet sie. So wandelt sich der metaphysische Begriff des Atoms in einen bloßen Hilfsbegriff zur Beherrschung der Erfahrungen. Ebensowenig werden die Schwierigkeiten gelöst, wenn die Substanz der Dinge in ihre Form verlegt wird. Vergeblich sahen wir die ganze Metaphysik der substantialen Formen mit den Schwierigkeiten dieses Begriffes ringen, und die Wissenschaft muß sich auch hier schließlich, ihre Grenzen gegen das Unerforschliche wahrend, damit begnügen, diesen Begriff als ein bloßes Symbol für einen Tatbestand zu behandeln, welcher sich dem Erkennen, wenn es den Zusammenhang der Tatsachen aufsucht, als objektive Einheit in denselben darbietet, jedoch in seinem realen Gehalt unauflöslich ist.

Und im Kern des Substanzbegriffs Selber, mag man ihn auf Atome oder auf Naturformen beziehen, bleibt eine nicht zu bewältigende Schwierigkeit. Die Wissenschaft von einem denknotwendigen Zusammenhang der Außenwelt drängt dahin, die Substanz als eine feste Größe zu behandeln und sonach Wechsel, Werden und Veränderung in die Relationen dieser Elemente zu verlegen. Aber sobald dies Verfahren mehr als Hilfskonstruktion der Bedingungen für die Denkbarkeit des Naturzusammenhangs sein, sobald eine Bestimmung über das metaphysische Wesen des Substantialen daraus entnommen werden soll, tritt eine Art von Vexierspiel ein. Die innere Veränderung ist nun in das psychische Geschehen hinübergeschoben, hier blitzt jetzt die Farbe auf, erklingt der Ton. Dann haben wir nur die Wahl, einem starren Mechanismus der Natur die innerliche Lebendigkeit psychischen Geschehens gegenüberzusetzen und so die metaphysische Einheit des Weltzusammenhangs, die wir suchten, aufzugeben oder die unveränderlichen Elemente in ihrem wahren Werte als bloße Hilfsbegriffe aufzufassen.

Es würde ermüden, wollten wir nun zeigen, wie der Begriff der Kausalität ähnlichen Schwierigkeiten unterliegt. Auch hier kann bloße Assoziation die Vorstellung des inneren Bandes nicht erklären, und doch kann der Verstand nicht eine Formel entwerfen, in welcher aus sinnlich oder verstandesmäßig klaren Elementen ein Begriff zusammengesetzt würde, der den Inhalt der Kausalvorstellung darstellte. Und so wird die Kausalität ebenfalls aus einem metaphysischen Begriff zu einem bloßen Hilfsmittel für die Beherrschung der äußeren Erfahrungen.[399] Denn die Naturwissenschaft kann nur dasjenige, was durch Elemente der äußeren Wahrnehmung und Operationen des Denkens mit denselben belegt werden kann, als Bestandteile ihres Erkenntniszusammenhangs anerkennen.

Können so Substanz und Kausalität nicht als objektive Formen des Naturlaufs aufgefaßt werden, so läge der mit abstrakten verstandesmäßig präparierten Elementen arbeitenden Wissenschaft am nächsten, in ihnen wenigstens apriorische Formen der Intelligenz festzuhalten. Die Erkenntnistheorie Kants, welche die Abstraktionen der Metaphysik in erkenntnistheoretischer Absicht benutzte, glaubte hierbei stehenbleiben zu können. Alsdann würden diese Begriffe wenigstens einen festen obzwar subjektiven Zusammenhang der Erscheinungen ermöglichen.

Wären sie solche Formen der Intelligenz selber, dann müßten sie als solche dieser gänzlich durchsichtig sein. Fälle solcher Durchsichtigkeit sind das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, der Begriff von Gleichheit und Unterschied; in ihnen besteht über die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem Begriffe von Gleichheit nur dasselbe als A denken. Die Begriffe von Kausalität und Substanz sind augenscheinlich nicht von solcher Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in sinnliche oder Verstandeselemente auflösbaren Tatsächlichkeit. Sie können nicht wie Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre Analysis doch zu endlosem Streit geführt. Oder wie kann etwa eine bleibende Unterlage, an welcher Eigenschaften und Tätigkeiten wechseln, ohne daß dieses Tätige selber in sich Veränderungen erführe, vorgestellt, wie für den Verstand faßbar gemacht werden?

Wären Substanz und Kausalität solche Formen der Intelligenz a priori sonach mit der Intelligenz selber gegeben, alsdann könnten keine Bestandteile dieser Denkformen aufgegeben und mit anderen vertauscht werden. In Wirklichkeit nahm das mythische Vorstellen, wie wir sahen, in den Ursachen eine freie Lebendigkeit und seelische Kraft an, welche in unserem Begriff einer Ursache im Naturlauf nicht mehr anzutreffen ist. Die Elemente, welche ursprünglich in der Ursache vorgestellt wurden, haben eine beständige Minderung erfahren, und andere sind in einem Vorgang von Anpassung der ursprünglichen Vorstellung an die Außenwelt in ihre Stelle eingetreten. Diese Begriffe haben eine Entwicklungsgeschichte.

Der Grund selber, aus welchem die Vorstellungen von Substanz und Kausalität sich einer eindeutigen klaren Bestimmung nicht fähig erweisen, kann inner halb dieser phänomenologischen Betrachtung der Metaphysik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden, die dann die[400] Erkenntnistheorie zu erweisen hat. In der Totalität unserer Gemütskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbstbewußtsein, welches das Wirken eines anderen erfährt, liegt der lebendige Ursprung dieser beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende Übertragung aus dem Selbstbewußtsein auf die an sich leblose Außenwelt, durch welche diese letztere in mythischem Vorstellen Leben empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere kann im Selbstbewußtsein so ursprünglich wie das Selbst als lebendige wirksame Realität gegeben sein. Was aber in der Totalität der Gemütskräfte gegeben ist, das kann nie von der Intelligenz ganz aufgeklärt werden. Der Differenzierungsprozeß der Erkenntnis in der fortschreitenden Wissenschaft kann daher als Vorgang der Abstraktion von immer mehr Elementen dieses Lebendigen absehen: jedoch der unlösliche Kern bleibt. So erklären sich alle Eigenschaften, welche diese beiden Begriffe von Substanz und Kausalität im Verlauf der Metaphysik gezeigt haben, und es kann eingesehen werden, daß auch künftig jeder Kunstgriff des Verstandes diesen Eigenschaften gegenüber machtlos sein wird. Daher wird echte Naturwissenschaft diese Begriffe als bloße Zeichen für ein x, welches ihre Rechnung bedarf, behandeln. Die Ergänzung dieses Verfahrens liegt dann in der Analysis des Bewußtseins, welche den ursprünglichen Wert dieser Zeichen und die Gründe, aus welchen sie in der naturwissenschaftlichen Rechnung erforderlich sind, aufzeigt.

Ganz anders stehen zu diesen Begriffen die Geisteswissenschaften. Sie behalten von den Begriffen Substanz und Kausalität nur das rechtmäßigerweise, was im Selbstbewußtsein und der inneren Erfahrung gegeben war, und sie geben alles auf, was in ihnen aus der Anpassung an die Außenwelt stammte. Sie dürfen daher von diesen Begriffen keinen direkten Gebrauch zur Bezeichnung ihrer Gegenstände machen. Ein solcher hat ihnen oft geschadet und nie an irgendeinem Punkte genützt. Denn nie haben diese abstrakten Begriffe dem Erforscher der menschlichen Natur über diese mehr sagen können, als in dem Selbstbewußtsein gegeben war, aus welchem sie hervorgegangen sind. Selbst wenn der Begriff von Substanz auf die Seele anwendbar wäre, vermöchte er nicht einmal die Unsterblichkeit in einer religiösen Ordnung der Vorstellungen zu begründen. Führt man die Entstehung der Seele auf Gott zurück, so kann was entstanden ist auch untergehen, oder was sich in einem Vorgang von Emanation ausgesondert hat in die Einheit zurücktreten. Schließt man aber die Annahme einer Schöpfung oder Ausstrahlung von Seelensubstanzen aus Gott aus, so fordert die seelische Substanz eine atheistische Weltordnung: die Seelen sind dann, gleichviel ob allein ohne Gott oder unabhängig neben Gott, ungewordene Götter.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 397-401.
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Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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