Der Widerspruch der Wirklichkeit gegen dies Ideal und die Unhaltbarkeit der Metaphysik

[390] Das »große Prinzip« vom Grunde (so bezeichnet es wiederholt Leibniz), die letzte Formel der metaphysischen Erkenntnis, ist nun aber kein Denkgesetz, unter welchem unser Intellekt als unter seinem Fatum stünde. Indem die Metaphysik ihre Anforderung einer Erkenntnis von dem Subjekt des Weltlaufs in diesem Satz bis zu ihrer ersten Voraussetzung verfolgt, erweist sie ihre eigene Unmöglichkeit.

Der Satz vom Grunde, in dem Sinne von Leibniz, ist nicht ein Denkgesetz, er kann nicht neben das Denkgesetz des Widerspruchs gestellt werden. Denn das Denkgesetz des Widerspruchs ist an jedem Punkte unseres Wissens in Geltung; wo wir etwas behaupten, muß es mit ihm in Einklang sein, und finden wir eine Behauptung mit ihm in Widerstreit, so ist sie damit für uns aufgehoben. Sonach steht alles[390] Wissen und alle Gewißheit unter der Kontrolle dieses Denkgesetzes. Es handelt sich für uns nie darum, ob wir es anwenden wollen oder nicht, sondern so sicher als wir etwas behaupten, unterwerfen wir ihm diese Behauptung. Es kann geschehen, daß wir an einem Punkte nicht den Widerspruch einer Behauptung mit dem Denkgesetz des Widerspruchs bemerken; jedoch, sobald auch der ganz Ungebildete auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht wird, entzieht er sich nicht der Konsequenz, daß von Behauptungen, welche solchergestalt in Widerspruch miteinander treten, nur eine wahr sein kann, eine falsch sein muß. Der Satz vom Grunde dagegen, im Sinne von Leibniz und Wolff gefaßt, hat augenscheinlich nicht dieselbe Stellung in unsrem Denken, und es war daher nicht richtig, wenn Leibniz beide Sätze als gleichwertige Prinzipien nebeneinanderstellt. Dies hat sich uns aus der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens ergeben. Der Mensch in der Epoche mythischen Vorstellens setzte sich Willensmächte gegenüber, welche mit unberechenbarer Freiheit schalteten. Es wäre unnütz gewesen, wenn ein Logiker zu diesem im mythischen Vorstellen befangenen Menschen getreten wäre und ihm deutlich gemacht hätte: der notwendige Zusammenhang des Weltlaufs ist da aufgehoben, wo deine Götter walten. Eine solche Einsicht hätte jenem niemals die Überzeugungen von seinen Göttern gestört, vielmehr würde sie nur das über den logischen Zusammenhang der Welt Hinausreichende ihm klarer gemacht haben, was in solchem Glauben als gewaltige Kraft mitenthalten war. Der Mensch in der Morgendämmerung der Wissenschaft suchte dann einen inneren Zusammenhang im Kosmos, aber der Glaube an die freie Macht der Götter inmitten desselben verharrte in ihm. Der griechische Mensch in der Blütezeit der Metaphysik betrachtete seinen Willen als frei. Was ihm hier in lebendigem und unmittelbarem Wissen gegeben war, wurde ihm nicht dadurch unsicher, daß das Bewußtsein der Denknotwendigkeit in ihm ebenfalls vorhanden war; vielmehr erschien ihm mit diesem logischen Bewußtsein das Festhalten dessen verträglich, was er in unmittelbarem Wissen als Freiheit besaß. Der mittelalterliche Mensch zeigt eine übertriebene Neigung zu logischen Betrachtungen, doch hat ihn diese nicht bestimmt, die religiös-geschichtliche Welt, in der er lebte und die überall denknotwendigen Zusammenhang vermissen ließ, aufzugeben. – Und die Erfahrungen des täglichen Lebens bestätigen, was die Geschichte zeigte. Der menschliche Geist findet es nicht unerträglich, den logischen Zusammenhang, vermittels dessen er über das unmittelbar Gegebene hinausgeht, da unterbrochen zu sehen, wo er in lebendigem und unmittelbarem Wissen freie Gestaltung und Willensmacht erfährt.

Wenn der Satz vom Grunde, in der Fassung von Leibniz, nicht die[391] unbedingte Gültigkeit eines Denk gesetzes hat: wie vermögen wir seine Stelle im Zusammenhang des intellektuellen Lebens zu bestimmen? Indem wir seinen Ort aufsuchen, wird der Rechtsboden jeder wirklich folgerichtigen Metaphysik geprüft.

Unterscheiden wir den logischen Grund vom Realgrunde, den logischen Zusammenhang vom realen, so kann die Tatsache des logischen Zusammenhangs in unserem Denken, welches im Schließen sich darstellt, durch den Satz ausgedrückt werden: mit dem Grund ist die Folge gesetzt und mit der Folge ist der Grund aufgehoben. Diese Notwendigkeit der Verknüpfung findet sich tatsächlich in jedem Syllogismus. Nun kann gezeigt werden, daß wir die Natur nur auffassen und vorstellen können, indem wir diesen Zusammenhang der Denknotwendigkeit in ihr aufsuchen. Wir können die Außenwelt nicht einmal vorstellen, es sei denn erkennen, ohne einen denknotwendigen Zusammenhang schließend in ihr aufzusuchen. Denn wir können die einzelnen Eindrücke, die einzelnen Bilder, die das Gegebene bilden, nicht für sich als objektive Wirklichkeit anerkennen. Sie sind in dem tatsächlichen Zusammenhang, in dem sie im Bewußtsein kraft seiner Einheit stehen, relativ, und können sonach nur in diesem Zusammenhang benutzt werden, um einen äußeren Tatbestand oder eine Naturursache festzustellen. Jedes Raumbild ist auf die Stellung des Auges wie der fassenden Hand bezogen, für welche es da ist. Jeder zeitliche Eindruck ist auf das Maß der Eindrücke in dem Auffassenden und den Zusammenhang derselben bezogen. Die Qualitäten der Empfindung sind durch die Beziehung bedingt, in welcher die Reize der Außenwelt zu unseren Sinnen stehen. Die Intensitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu beurteilen und in Zahlenwerten auszudrücken, sondern wir bezeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsstärke zu einer anderen. So ist die Herstellung eines Zusammenhangs nicht ein Vorgang, welcher auf die Erfassung der Wirklichkeit folgt, sondern niemand faßt ein Augenblicksbild isoliert als Wirklichkeit, wir besitzen es in einem Zusammenhang, vermittels dessen wir, noch vor aller wissenschaftlichen Beschäftigung, Wirklichkeit festzustellen suchen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung bringt Methode in dieses Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen ich versetzt sie den Mittelpunkt für das System von Bestimmungen, dem die Eindrücke eingeordnet werden, in dies System selber. Sie entwickelt einen objektiven Raum, innerhalb dessen die einzelne Intelligenz sich an einer bestimmten Stelle findet, eine objektive Zeit, in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt einnimmt, sowie einen objektiven Kausalzusammenhang und feste Elementeinhei ten, zwischen[392] denen er stattfindet. Die ganze Richtung der Wissenschaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicksbilder, in welchen Mannigfaches aneinandergeraten ist, vermittels der vom Denken verfolgten Relationen, in denen diese Bilder im Bewußtsein sich befanden, objektive Realität und objektiven Zusammenhang zu setzen. Und jedes Urteil über Existenz und Beschaffenheit eines äußeren Gegenstandes ist schließlich durch den Denkzusammenhang bedingt, in welchem diese Existenz oder Beschaffenheit als notwendig gesetzt ist. Das zufällige Zusammen von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den Ausgangspunkt für die Konstruktion einer allgemeingültigen Wirklichkeit.

Sonach beherrscht der Satz, jedes Gegebene stehe in einem denknotwendigen Zusammenhang, in welchem es bedingt sei und selber bedinge, zunächst die Lösung der Aufgabe, allgemeingültige und feste Urteile über die Außenwelt festzustellen. Die Relativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt, wird von der wissenschaftlichen Analysis in dem Bewußtsein der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung bedingen, zur Darstellung gebracht. So steht schon jede Auffassung der Objekte der Außenwelt unter dem Satze des Grundes.

Dies ist die eine Seite der Sache. Andererseits aber muß die kritische Anwendung des Satzes vom Grunde auf eine metaphysische Erkenntnis verzichten und sich mit der Auffassung äußerer Verhältnisse von Abhängigkeit innerhalb der Außenwelt genügen lassen. Denn die Bestandteile des Gegebenen sind vermöge ihrer verschiedenen Herkunft ungleichartig d.h. unvergleichbar. Sonach können sie nicht aufeinander zurückgeführt werden. Eine Farbe kann mit einem Tone oder mit dem Eindruck von Dichtigkeit nicht in einen direkten inneren Zusammenhang gebracht werden. Daher muß das Studium der Außenwelt das innere Verhältnis des in der Natur Gegebenen unaufgelöst lassen und sich mit der Aufstellung eines auf Raum, Zeit und Bewegung gegründeten Zusammenhangs begnügen, welcher die Erfahrungen zu einem System verbindet. So steht zwar die Auffassung und Erkenntnis der Außenwelt unter dem Gesetz: jedes in sinnlicher Wahrnehmung Gegebene findet sich in einem denknotwendigen Zusammenhang, in welchem es bedingt ist und selber bedingt, und nur in diesem dient es der Auffassung des Existierenden. Aber die Verwertung dieses Gesetzes ist durch die Bedingungen des Bewußtseins auf die bloße Herstellung eines äußeren Zusammenhangs von Beziehungen eingeschränkt worden, durch welche den Tatsachen ihr Platz im System der Erfahrungen bestimmt wird. Eben das Bedürfnis der Wissenschaft, einen solchen denknotwendigen[393] Zusammenhang herzustellen, hat dahin geführt, von dem inneren wesenhaften Zusammenhang der Welt abzusehen. Diesem ist ein Zusammenhang mathematisch-mechanischer Natur substituiert worden, und hierdurch erst wurden die Wissenschaften der Außenwelt positiv. So wurde aus dem inneren Bedürfnis dieser Wissenschaften heraus die Metaphysik als unfruchtbar zurückgeschoben, noch bevor die erkenntnistheoretische Bewegung in Locke, Hume und Kant sich gegen sie wandte.

Und nun ist die Stellung des Erkenntnisgesetzes vom Grunde zu den Geisteswissenschaften eine andere, als die zu den Wissenschaften der Außenwelt: auch dies macht eine Unterordnung der ganzen Wirklichkeit unter einen metaphysischen Zusammenhang unmöglich. Das, dessen ich innewerde, ist als Zustand meiner selbst nicht relativ, wie ein äußerer Gegenstand. Eine Wahrheit des äußeren Gegenstandes als Übereinstimmung des Bildes mit einer Realität besteht nicht, denn diese Realität ist in keinem Bewußtsein gegeben und entzieht sich also der Vergleichung. Wie das Objekt aussieht, wenn niemand es in sein Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht wissen wollen. Dagegen ist das, was ich in mir erlebe, als Tatsache des Bewußtseins darum für mich da, weil ich desselben innewerde: Tatsache des Bewußtseins ist nichts anderes als das, dessen ich innewerde. Unser Hoffen und Trachten, unser Wünschen und Wollen, diese innere Welt ist als solche die Sache selber. Gleichviel welche Ansicht jemand hegen mag über die Bestandteile dieser psychischen Tatsachen – und Kants ganze Theorie des inneren Sinnes kann nur als solche Ansicht logisch gerechtfertigt erscheinen – : daß solche Bewußtseinstatsachen bestehen, wird dadurch nicht berührt.432 Daher ist uns das, dessen wir innewerden, als Zustand unserer selbst nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegenstand. Erst wenn wir dies unmittelbare Wissen uns zu deutlicher Erkenntnis bringen oder anderen mitteilen wollen, entsteht die Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahrnehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urteile, welche wir aussagen, sind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Verknüpfen, Urteilen und Schließen die Tatsachen unter den neuen Bedingungen des Bewußtseins als dieselben erhält. Daher hat der Satz vorn Grunde, nach welchem jedes Gegebene in einem denknotwendigen Zusammenhang steht, in dem es bedingt ist und bedingt, zu dem Umkreis[394] der geistigen Tatsachen nie dieselbe Stellung gehabt, welche er der Außenweltgegenüber in Anspruch nehmen darf. Er ist hier nicht das Gesetz, unter welchem jede Vorstellung von Wirklichkeit steht. Nur sofern die Individuen einen Raum in der Außenwelt einnehmen, an einem Zeitpunkt auftreten und sinnfällige Wirkungen in der Außenwelt hervorbringen, werden sie in das Netz dieses Zusammenhangs mit eingefügt. So setzt zwar die vollständige Vorstellung der geistigen Tatsachen ihre äußere Einordnung in den von der Naturwissenschaft geschaffenen Zusammenhang voraus, aber unabhängig von diesem Zusammenhang sind die geistigen Tatsachen als Wirklichkeit da und haben die volle Realität derselben.

So haben wir in dem Satze vom Grunde die logische Wurzel aller folgerichtigen Metaphysik d.h. der Vernunftwissenschaft und in dem Verhältnis des so entstehenden logischen Ideals zur Wirklichkeit den Ursprung der Schwierigkeiten dieser Vernunftwissenschaft erkannt. Dieses Verhältnis macht uns nunmehr einen großen Teil der bisher dargelegten Phänomene der Metaphysik unter einem allgemeinsten Gesichtspunkt begreiflich. Folgerichtig ist nur die Metaphysik, welche ihrer Form nach Vernunftwissenschaft ist d.h. einen logischen Weltzusammenhang aufzuzeigen sucht. Vernunftwissenschaft war daher gleichsam das Rückgrat der europäischen Metaphysik. Aber das Gefühl des Lebens in dem wahrhaftigen, natürlich starken Menschen und der ihm gegebene Gehalt der Welt ließen sich nicht in dem logischen Zusammenhang einer allgemeingültigen Wissenschaft erschöpfen. Die einzelnen Inhalte der Erfahrung, die in ihrer Herkunft voneinander getrennt sind, ließen sich nicht durch Denken einer in den anderen überführen. Jeder Versuch aber, einen anderen als einen logischen Zusammenhang in der Wirklichkeit aufzuzeigen, hob die Form der Wissenschaft zugunsten des Gehaltes auf.

Die ganze Phänomenologie der Metaphysik hat gezeigt, daß die metaphysischen Begriffe und Sätze nicht aus der reinen Stellung des Erkennens zur Wahrnehmung entsprangen, sondern aus der Arbeit desselben an einem durch die Totalität des Gemütes geschaffenen Zusammenhang. In dieser Totalität ist zugleich mit dem Ich ein Anderes, ein von ihm Unabhängiges gegeben: dem Willen, welchem es widersteht und der die Eindrücke nicht ändern kann, dem Gefühl, das von ihm leidet: unmittelbar also, nicht durch einen Schluß, sondern als Leben. Dieses Subjekt uns gegenüber, diese wirkende Ursache möchte der Wille der Erkenntnis auf dem natürlichen Standpunkte durchdringen und bewältigen. Er ist sich zunächst des Zusammenhangs des Subjektes des Naturlaufs mit dem Selbstbewußtsein nicht bewußt. Selbständig steht ihm dieses in der äußeren Wahrnehmung gegenüber, und[395] erstrebt, es nun mit den ihm gegebenen Mitteln von Begriff, Urteil, Schluß, sonach als denknotwendigen Zusammenhang, zu begreifen. Aber was in der Totalität unseres Wesens gegeben ist, kann nie ganz in Gedanken aufgelöst werden. Entweder wurde der Gehalt der Metaphysik unzureichend für die Anforderungen der lebensvollen Menschennatur, oder die Beweise erwiesen sich als unzureichend, indem sie das, was der Verstand an der Erfahrung festzustellen vermag, zu überschreiten strebten. So wurde die Metaphysik ein Tummelplatz von Trugschlüssen.

Was in dem Gegebenen von selbständiger Provenienz ist, hat einen für die Erkenntnis unauflöslichen Kern, und Inhalte der Erfahrung, die durch die Herkunft voneinander getrennt sind, lassen sich nicht einer in den anderen überführen. Daher ist die Metaphysik von falschen Ableitungen und von Antinomien erfüllt gewesen. So entsprangen zunächst die Antinomien zwischen dem mit endlichen Größen rechnenden Intellekt und der Anschauung, welche der Erkenntnis der äußeren Natur angehören. Ihr Kampfplatz war schon die Metaphysik des Altertums. Das Stetige in Raum, Zeit und Bewegung kann durch die Konstruktion in Begriffen nicht erreicht werden. Die Einheit der Welt und ihr Ausdruck in dem gedankenmäßigen Zusammenhang allgemeiner Formen und Gesetze kann durch eine Analysis, welche in Elemente zerlegt, und eine Synthesis, die aus diesen Elementen zusammensetzt, nicht erklärlich gemacht werden. Das Abgeschlossene des Anschauungsbildes wird durch die Unbegrenztheit des über dasselbe hinausschreitenden Willens der Erkenntnis überall wieder aufgehoben. Dazu treten andere Antinomien, indem das Vorstellen die in den Weltlauf verflochtenen psychischen Lebenseinheiten in seinen Zusammenhang aufnehmen und das Erkennen sie seinem System unterwerfen will. So entstanden zunächst die theologischen und metaphysischen Antinomien des Mittelalters, und als die neuere Zeit das psychische Geschehen selber in seinem Kausalzusammenhang zu erkennen unternahm, traten die Widersprüche zwischen dem rechnenden Denken und der inneren Erfahrung innerhalb der metaphysischen Behandlung der Psychologie hinzu. Diese Antinomien können nicht aufgelöst werden. Für die positive Wissenschaft sind sie nicht da, und für die Erkenntnistheorie ist ihr subjektiver Ursprung durchsichtig. Daher stören sie die Harmonie unseres geistigen Lebens nicht. Aber sie haben die Metaphysik zerrieben.

Will das metaphysische Denken, solchen Widersprüchen trotzend, das Subjekt der Welt wirklich erkennen: so kann dies nichts anderes für es sein als – Logismus. Jede Metaphysik, welche das Subjekt des Weltlaufs erkennen zu wollen beansprucht, in ihm aber etwas anderes als Denknotwendigkeit sucht, gerät in einen augenscheinlichen[396] Widerspruch zwischen ihrem Ziel und ihren Hilfsmitteln. Das Denken kann einen anderen als logischen Zusammenhang in der Wirklichkeit nicht finden. Denn da uns nur der Befund unseres Selbstbewußtseins unmittelbar gegeben ist und wir sonach in das Innere der Natur nicht direkt hineinblicken, so sind wir, wenn wir unabhängig vom Logismus über dieses eine Vorstellung bilden wollen, auf eine Übertragung unseres eigenen Inneren auf die Natur angewiesen. Diese kann aber nur ein poetisches Spiel analogischen Vorstellens sein, welches bald die Abgründe und dunkelen Gewalten unseres Seelenlebens, bald die ruhige Harmonie desselben, den hellen freien Willen, die bildende Phantasie in das Subjekt des Naturlaufs hineinträgt. Die metaphysischen Systeme dieser Richtung haben sonach, ernstlich wissenschaftlich genommen, nur den Wert eines Protestes gegen den denknotwendigen Zusammenhang. So bereiten sie die Einsicht vor, daß in der Welt mehr und anderes als dieser enthalten ist. Darin allein lag die vorübergehende Bedeutung der Metaphysik Schopenhauers und ihm verwandter Schriftsteller. Sie ist im Grunde eine Mystik des neunzehnten Jahrhunderts und ein lebens-, willenskräftiger Protest gegen alle Metaphysik als folgerichtige Wissenschaft. Wann dagegen das Erkennen nach dem Satze vom Grunde sich des Subjektes des Weltlaufs zu bemächtigen entschlossen ist, entdeckt es nur Denknotwendigkeit als den Kern der Welt, daher besteht für dasselbe weder der Gott der Religion noch die Erfahrung der Freiheit.

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Kant, K. d. r. V. I, 1 § 7 »die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anschauung. Sie hat also subjektive Realität in Ansehung der inneren Erfahrung, d.i. ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr«. In diesen Sätzen wird das, was ich oben zunächst behaupte, anerkannt, nur in Verbindung mit einer Theorie über die Komponenten der inneren Wahrnehmung.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 390-397.
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