Der logische Weltzusammenhang als Ideal der Metaphysik

[386] In der Einheit des menschlichen Bewußtseins ist es gegründet, daß die Erfahrungen, welche dieses enthält, durch den Zusammenhang bedingt sind, in dem sie auftreten. Hieraus ergibt sich das allgemeine Gesetz der Relativität, unter welchem unsere Erfahrungen über die äußere Wirklichkeit stehen. Eine Geschmacksempfindung ist augenscheinlich durch diejenige bedingt, welche ihr voraufging, das Bild eines räumlichen Objektes ist von der Stellung des Sehenden im Raum abhängig. Daher entspringt die Aufgabe, diese relativen Data durch einen Zusammenhang zu bestimmen, der in sich gegründet und fest ist. Für die anhebende Wissenschaft war diese Aufgabe gleichsam eingehüllt in die Orientierung in Raum und Zeit sowie von Aufsuchung einer ersten Ursache und verwoben mit den ethischreligiösen Antrieben. So befaßte der Ausdruck Prinzip (archê) die erste Ursache und den Erklärungsgrund der Erscheinungen ungeschieden in sich. Geht man von dem Gegebenen zu seinen Ursachen, so kann ein solcher Rückgang seine Sicherheit nur aus der Denknotwendigkeit des Schlußverfahrens empfangen, daher war mit der wissenschaftlichen Aufsuchung von Ursachen irgendein Grad von logischem Bewußtsein des Grundes immer verbunden. Erst der Zweifel der Sophisten hatte ein logisches Bewußtsein der Methode, Ursachen oder Substanzen zu finden, zur Folge, und diese Methode wurde nun als Rückgang von dem Gegebenen zu den denknotwendigen Bedingungen desselben bestimmt. Da sonach die Erkenntnis von Ursachen an den[386] Schluß und die in ihm liegende Denknotwendigkeit gebunden ist, so setzt diese Erkenntnis voraus, daß im Naturzusammenhang eine logische Notwendigkeit obwalte, ohne welche das Erkennen keinen Angriffspunkt hätte. Demnach entspricht dem unbefangenen Glauben an die Erkenntnis der Ursachen, welcher aller Metaphysik zugrunde liegt, ein Theorem von dem logischen Zusammenhang in der Natur. Die Entwicklung dieses Theorems kann, solange die logische Form zwar in einzelne Formbestandteile als ihre Komponenten aufgelöst wird, aber nicht durch eine wahrhaft analytische Untersuchung hinter diese zurückverfolgt wird, nur in der Darstellung einer äußeren Beziehung zwischen der Form des logischen Denkens und der des Naturzusammenhangs bestehen.

So wurde in der monotheistischen Metaphysik der Alten und des Mittelalters der Logismus in der Natur als ein Gegebenes, und die menschliche Logik als ein zweites Gegebenes betrachtet, das dritte Datum bildete die Korrespondenz dieser beiden. Für diesen Gesamttatbestand war dann eine Bedingung in einem sie verknüpfenden Zusammenhang aufzufinden. Dies leistete die schon von Aristoteles in ihren Grundzügen entworfene Ansicht, nach welcher die göttliche Vernunft den Zusammenhang zwischen dem in ihr gegründeten Logismus der Natur und der ihr entsprungenen menschlichen Logik hervorbringt.

Als die Lage des Naturwissens die zwingende Kraft der theistischen Begründung immer mehr auflöste, entstand die einfachere Formel Spinozas, welche die göttliche Vernunft als Mittelglied eliminierte. Die Grundlage der Metaphysik Spinozas ist die reine Selbstgewißheit des logischen Geistes, welcher sich mit methodischem Bewußtsein die Wirklichkeit erkennend unterwirft, wie sie in Descartes das erste Stadium einer neuen Stellung des Subjektes zur Wirklichkeit bezeichnet. Inhaltlich angesehen, trat hier die Konzeption des Descartes vom mechanischen Zusammenhang des Naturganzen in eine pantheistische Weltansicht, und so wandelte sich eine allgemeine Beseelung der Natur in die Identität der räumlichen Bewegungen mit den psychischen Vorgängen. Erkenntnistheoretisch betrachtet, wurde hier das Wissen aus der Identität des mechanischen Naturzusammenhangs mit der logischen Gedankenverbindung erklärt. Daher enthält diese Identitätslehre weiter die Erklärung der psychischen Vorgänge nach einem mechanischen, sonach logischen Zusammenhang in sich: die objektive und universelle metaphysische Bedeutung des Logismus. In dieser Rücksicht drückt die Attributenlehre die unmittelbare Identität des Kausalzusammenhangs in der Natur mit der logischen Verknüpfung der Wahrheiten im menschlichen Geiste aus. Das Mittelglied dieser Verbindung, welches vordem ein von der[387] Welt unterschiedener Gott gebildet hatte, ist ausgestoßen: ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.425 In scharfer Anspannung dieser Identität wird sogar die Richtung der Abfolge in beiden Reihen als korrespondierend aufgefaßt: effectus cognitio a cognitione causae dependet et eandem involvit.426 Ein Zusammenhang von Axiomen und Definitionen wird entworfen, aus welchem der Weltzusammenhang konstruiert werden kann. Dies geschieht durch auffällige Trugschlüsse; denn eine Vielheit selbständiger Wesenheiten kann aus den Voraussetzungen Spinozas ebensogut gefolgert werden, als die Einheit in der göttlichen Substanz. Sind doch die Einheit des Weltzusammenhangs und die Vielheit fester ihm zugrunde gelegter Ding-Atome nur die beiden Seiten desselben mechanischen d.h. logischen Weltzusammenhangs. Spinoza mußte seinen Pantheismus also mitbringen, um ihn folgern zu können. Gleichviel, in diesem Zusammenhange tritt die Konsequenz des metaphysischen Satzes vom Grunde in einer Vollständigkeit heraus, die bei den Alten sich noch nicht fand. Hatten diese den menschlichen Willen als ein Imperium in imperio gelten lassen, so hebt die Formel des Panlogismus nun diese Souveränität des geistigen Lebens auf. In rerum natura nullum datur contingens; sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum et operandum.427

Die Metaphysik hat durch Leibniz in dem Satz vom Grunde eine Formel entworfen, welche den notwendigen Zusammenhang in der Natur als Prinzip des Denkens ausspricht. In der Aufstellung dieses Prinzips hat die Metaphysik ihren formalen Abschluß erreicht. Denn der Satz ist nicht ein logisches, sondern ein metaphysisches Prinzip d.h. er drückt nicht ein bloßes Gesetz des Denkens, sondern zugleich ein Gesetz des Zusammenhangs der Wirklichkeit und damit auch die Regel der Beziehung zwischen Denken und Sein aus. Ist doch seine letzte und vollkommenste Formel diejenige, welche in dem Briefwechsel mit Clarke vorkam, nicht lange vor dem Tode von Leibniz. ›Ce principe est celui du besoin d'une raison suffisante, pour qu'une chose existe, qu'un événement arrive, qu'une vérité ait lieu.‹428 Dies Prinzip tritt bei Leibniz stets neben dem des Widerspruchs auf, und zwar begründet der Satz des Widerspruchs die notwendigen Wahrheiten, dagegen der des Grundes die Tatsachen und tatsächlichen Wahrheiten. Eben hier aber zeigt sich die metaphysische Bedeutung dieses Satzes. Obwohl die tatsächlichen Wahrheiten auf den Willen Gottes zurückgehen,[388] so ist dieser Wille selber doch nach Leibniz schließlich von dem Intellekt geleitet. Und so tritt hinter dem Willen wiederum das Antlitz eines logischen Weltgrundes hervor. Dies drückt Leibniz ganz deutlich so aus: 'Il est vrai, dit on, qu'il n'y a rien sans une raison suffisante pourquoi il est, et pourquoi il est ainsi plutôt qu'autrement. Mais on ajoute, que cette raison suffisante est souvent la simple volonté de Dieu; comme lorsqu'on demande pourquoi la matière n'a pas été placée autrement dans l'espace, les mêmes situations entre les corps demeurant gardées. Mais c'est justement soutenir que Dieu veut quelque chose, sans qu'il y ait aucune raison suffisante de sa volonté, contre l'axiome ou la règle générale de tout ce qui arrive.'429 Hiernach bedeutet der Satz des zureichenden Grundes die Behauptung von einem lückenlosen, logischen Zusammenhang, der jede Tatsache und entsprechend jeden Satz in sich faßt: er ist die Formel für das von Aristoteles in engerem Umfang aufgestellte Prinzip der Metaphysik430, welches nunmehr nicht nur den Zusammenhang des Kosmos in Begriffen d.h. ewigen Formen, sondern den Grund jeder Veränderung und zwar auch in der geistigen Welt in sich faßt.

Christian Wolff hat diesen Satz darauf zurückgeführt, daß nicht aus Nichts ein Etwas entstehen könne. Sonach auf das Prinzip des Erkennens, aus dem wir seit Parmenides die Metaphysik ihre Sätze ableiten sahen. »Wenn ein Ding A etwas in sich enthält, daraus man verstehen kann, warum B ist, B mag entweder etwas in A oder außer A sein, so nennet man dasjenige, was in A anzutreffen ist, den Grund von B; A selbst heißet die Ursache, und von B saget man, es sei in A gegründet. Nemlich der Grund ist dasjenige, wodurch man verstehen kann, warum etwas' ist, und die Ursache ist ein Ding, welches den Grund von einem anderen in sich enthält.« – »Wo etwas vorhanden ist, woraus man begreifen kann, warum es ist, das hat einen zureichenden Grund. Derowegen wo keiner vorhanden ist, da ist nichts, woraus man[389] begreifen kann, warum etwas ist, nemlich warum es wirklich werden kann, und also muß es aus Nichts entstehen. Was demnach nicht aus Nichts entstehen kann, muß einen zureichenden Grund haben, warum es ist, als es muß an sich möglich sein und eine Ursache haben, die es zur Wirklichkeit bringen kann, wenn wir von Dingen reden, die nicht nothwendig sind. Da nun unmöglich ist, daß aus Nichts etwas werden kann, so muß auch Alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben warum es ist.« So erkennen wir nun rückwärts im Satze vom Grunde den Ausdruck des Prinzips, welches das metaphysische Erkennen von seinem Beginn geleitet hat.431

Und blicken wir von Leibniz und Wolff vorwärts, so ist die im Satze vom Gründe enthaltene Voraussetzung über den logischen Weltzusammenhang schließlich in dem System von Hegel mit Verachtung jeder Furcht vor der Paradoxie als Realprinzip der ganzen Wirklichkeit entwickelt worden. Es hat nicht an Personen gefehlt, welche diese Voraussetzung in Frage stellen, dagegen eine Metaphysik beibehalten wollen; so tat dies Schopenhauer in seiner Lehre vom Willen als dem Weltgrunde. Aber jede Metaphysik dieser Art ist von vornherein durch einen inneren Widerspruch in ihrer Grundlage gerichtet. Das über unsere Erfahrung Hinausliegende kann nicht einmal durch Analogie einleuchtend gemacht, geschweige denn bewiesen werden, wenn dem Mittel der Begründung und des Beweises, dem logischen Zusammenhang, die ontologische Gültigkeit und Tragweite genommen wird.

425

Spinoza, Eth. II, prop. 7.

426

Ebda. I, axiom. 4.

427

Ebda. I, prop. 29.

428

Im fünften Briefe von Leibniz an Clarke § 125. Unvollständigere Fassungen finden sich Théodicée § 44 und Monadologie § 31 ff.

429

Dritter Brief an Clarke § 7. Und zwar verwirft Leibniz ausdrücklich die Annahme, daß in dem bloßen Willen Gottes die Ursache eines Tatbestandes in der Welt gefunden werde. »On m'objecte qu'en n'admettant point cette simple volonté, ce seroit ôter à Dieu le pouvoir de choisir et tomber dans la fatalité. Mais c'est tout le contraire: on soutient en Dieu le pouvoir de choisir, puisqu'on le fonde sur la raison du choix conforme à sa sagesse. Et ce n'est pas cette fatalité (qui n'est autre chose que l'ordre le plus sage de la Providence), mais une fatalité ou nécessite brute, qu'il faut éviter, on il n'y a ni sagesse, ni choix« (§ 8). Berief sich Clarke ihm gegenüber darauf, daß der Wille selber ja als zureichender Grund angesehen werden könne, so antwortet Leibniz peremptorisch: »une simple volonté sans aucun motif (a mere will), est une fiction non-seulement contraire à la perfection de Dieu, mais encore chimérique, contradictoire, incompatible avec la définition de la volonté et assez réfutée dans la Théodicée.« (Vierter Brief an Clarke § 2). Es ist klar, Leibniz kommt so zu einer Exekutivgewalt, welche den Gedanken ausführt, nicht zu einem wirklichen Willen.

430

S. 192 ff.

431

Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott usw. § 29 u. 30.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 386-390.
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