IV. Weltschematik

[38] »Das allumfassende Sein ist einzig. In seiner Selbstgenügsamkeit hat es nichts neben oder über sich. Ihm ein zweites Sein zugesellen, hieße es zu dem machen, was es nicht ist, nämlich zu dem Teil oder Bestandstück eines umfangreicheren Ganzen. Indem wir unsern einheitlichen Gedanken gleichsam als Rahmen ausspannen, kann nichts, was in diese Gedankeneinheit eingehn muß, eine Doppelheit an sich behalten. Es kann sich aber dieser Gedankeneinheit auch nichts entziehn... Das Wesen alles Denkens besteht in der Vereinigung von Bewußtseinselementen zu einer Einheit... Es ist der Einheitspunkt der Zusammenfassung, wodurch der unteilbare Weltbegriff entstanden und das Universum, wie es schon das Wort besagt, als etwas erkannt wird, worin alles zu einer Einheit vereinigt ist.«

Soweit Herr Dühring. Die mathematische Methode:

»Jede Frage ist an einfachen Grundgestalten axiomatisch zu entscheiden, als wenn es sich um einfache... Grundsätze der Mathematik handelte« –

diese Methode wird hier zuerst angewandt.[38]

»Das allumfassende Sein ist einzig.« Wenn Tautologie einfache Wiederholung, im Prädikat, dessen, was im Subjekte schon ausgesprochen worden – wenn das ein Axiom ausmacht, so haben wir hier eins vom reinsten Wasser. Im Subjekt sagt uns Herr Dühring, daß das Sein alles umfaßt, und im Prädikat behauptet er unerschrocken, daß alsdann nichts außer ihm ist. Welch kolossal »systemschaffender Gedanke«!

Systemschaffend in der Tat. Ehe wir sechs Zeilen weiter sind, hat Herr Dühring die Einzigkeit des Seins vermittelst unsres einheitlichen Gedankens in seine Einheit verwandelt. Da das Wesen alles Denkens in der Zusammenfassung zu einer Einheit besteht, so ist das Sein, sobald es gedacht wird, als einheitliches gedacht, der Weltbegriff ein unteilbarer, und weil das gedachte Sein, der Weltbegriff einheitlich ist, so ist das wirkliche Sein, die wirkliche Welt, ebenfalls eine unteilbare Einheit. Und somit

»haben die Jenseitigkeiten keinen Raum mehr, sobald der Geist einmal gelernt hat, das Sem in seiner gleichartigen Universalität zu erfassen«.

Das ist ein Feldzug, gegen den Austerlitz und Jena, Königgrätz und Sedan vollständig verschwinden. In ein paar Sätzen, kaum eine Seite, nachdem wir das erste Axiom mobil gemacht haben, haben wir bereits alle Jenseitigkeiten, Gott, die himmlischen Heerscharen, Himmel, Hölle und Fegefeuer samt der Unsterblichkeit der Seele abgeschafft, beseitigt, vernichtet.

Wie kommen wir von der Einzigkeit des Seins zu seiner Einheit? Indem wir es uns überhaupt vorstellen. Sowie wir unsern einheitlichen Gedanken als Rahmen um es ausspannen, wird das einzige Sein in Gedanken ein einheitliches, eine Gedankeneinheit; denn das Wesen alles Denkens besteht in der Vereinigung von Bewußtseinselementen zu einer Einheit.

Dieser letzte Satz ist einfach falsch. Erstens besteht das Denken ebensosehr in der Zerlegung von Bewußtseinsgegenständen in ihre Elemente, wie in der Vereinigung zusammengehöriger Elemente zu einer Einheit. Ohne Analyse keine Synthese. Zweitens kann das Denken, ohne Böcke zu schießen, nur diejenigen Bewußtseinselemente zu einer Einheit zusammenfassen, in denen oder in deren realen Urbildern diese Einheit schon vorher bestanden. Wenn ich eine Schuhbürste unter die Einheit Säugetier zusammenfasse, so bekommt sie damit noch lange keine Milchdrüsen. Die Einheit des Seins, beziehentlich die Berechtigung seiner Gedankenauffassung als einer Einheit, ist also grade das, was zu beweisen war, und wenn Herr Dühring uns versichert, er denke sich das Sein einheitlich und nicht etwa als Doppelheit, so sagt er uns damit weiter nichts, als seine unmaßgebliche Meinung.[39]

Wenn wir seinen Gedankengang rein darstellen wollen, so ist er folgender: ich fange an mit dem Sein. Also denke ich mir das Sein. Der Gedanke des Seins ist einheitlich. Denken und Sein müssen aber zusammenstimmen, sie entsprechen einander, sie »decken sich«. Also ist das Sein auch in der Wirklichkeit einheitlich. Also gibt's keine »Jenseitigkeiten«. Hätte Herr Dühring aber so unverhüllt gesprochen, statt uns obige Orakelstelle zum besten zu geben, so lag die Ideologie klar zutage. Aus der Identität von Denken und Sein die Realität irgendeines Denkergebnisses beweisen zu wollen, das war ja grade eine der tollsten Fieberphantasien – eines Hegel.

Den Spiritualisten hätte Herr Dühring, selbst wenn seine ganze Beweisführung richtig wäre, noch keinen Zollbreit Gebiet abgewonnen. Die Spiritualisten antworten ihm kurz: die Welt ist auch für uns einfach; die Spaltung in Diesseits und Jenseits existiert nur für unsern spezifisch irdischen, erbsündlichen Standpunkt; an und für sich, d.h. in Gott, ist das gesamte Sein ein einiges. Und sie werden Herrn Dühring auf seine beliebten andern Weltkörper begleiten und ihm einen oder mehrere zeigen, wo kein Sündenfall stattgefunden, wo also auch kein Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits besteht und die Einheitlichkeit der Welt Forderung des Glaubens ist.

Das komischste bei der Sache ist, daß Herr Dühring, um die Nichtexistenz Gottes aus dem Begriff des Seins zu beweisen, den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes anwendet. Dieser lautet: Wenn wir uns Gott denken, so denken wir ihn uns als den Inbegriff aller Vollkommenheiten. Zum Inbegriff aller Vollkommenheiten gehört aber vor allem das Dasein, denn ein nicht daseiendes Wesen ist notwendig unvollkommen. Also müssen wir zu den Vollkommenheiten Gottes auch das Dasein rechnen. Also muß Gott existieren. – Genauso räsoniert Herr Dühring: Wenn wir uns das Sein denken, so denken wir es uns als einen Begriff. Was in Einem Begriff zusammengefaßt, das ist einheitlich. Das Sein entspräche also seinem Begriff nicht, wäre es nicht einheitlich. Folglich muß es einheitlich sein. Folglich gibt es keinen Gott usw.

Wenn wir vom Sein sprechen, und bloß vom Sein, so kann die Einheit nur darin bestehn, daß alle die Gegenstände, um die es sich handelt – sind, existieren. In der Einheit dieses Seins, und in keiner andern, sind sie zusammengefaßt und der gemeinsame Ausspruch, daß sie alle sind, kann ihnen nicht nur keine weiteren, gemeinsamen oder nicht gemeinsamen, Eigenschaften geben, sondern schließt alle solche von der Betrachtung vorläufig aus. Denn sowie wir uns von der einfachen Grundtatsache, daß allen diesen Dingen das Sein gemeinsam zukommt, auch nur einen Millimeter breit entfernen, so fangen die Unterschiede dieser Dinge an, vor unsern[40] Blick zu treten – und ob diese Unterschiede darin bestehn, daß die einen weiß, die andern schwarz, die einen belebt, die andern unbelebt, die einen etwa diesseitig, die andern etwa jenseitig sind, das können wir nicht daraus entscheiden, daß ihnen allen gleichmäßig die bloße Existenz zugeschrieben wird.

Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sein, obwohl ihr Sein eine Voraussetzung ihrer Einheit ist, da sie doch zuerst sein muß, ehe sie eins sein kann. Das Sein ist ja überhaupt eine offene Frage von der Grenze an, wo unser Gesichtskreis aufhört. Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielerphrasen, sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft.

Weiter im Text. Das Sein, wovon Herr Dühring uns unterhält, ist

»nicht jenes reine Sein, welches sich selbst gleich, aller besondern Bestimmungen ermangeln soll, und in der Tat nur ein Gegenbild des Gedankennichts oder der Gedankenabwesenheit vertritt«.

Nun werden wir aber sehr bald sehn, daß Herrn Dührings Welt allerdings mit einem Sein anhebt, welches aller innern Unterscheidung, aller Bewegung und Veränderung ermangelt und also in der Tat nur ein Gegenbild des Gedankennichts, also ein wirkliches Nichts ist. Erst aus diesem Sein-Nichts entwickelt sich der gegenwärtige differenzierte, wechselvolle, eine Entwicklung, ein Werden darstellende Weltzustand; und erst nachdem wir dies begriffen, kommen wir dahin, auch unter dieser ewigen Wandlung

»den Begriff des universellen Seins sich selbst gleich festzuhalten«.

Wir haben also jetzt den Begriff des Seins auf einer höhern Stufe, wo er sowohl Beharrung wie Veränderung, Sein wie Werden in sich begreift. Hier angekommen, finden wir, daß

»Gattung und Art, überhaupt Allgemeines und Besonderes die einfachsten Unterscheidungsmittel sind, ohne welche die Verfassung der Dinge nicht begriffen werden kann«.

Es sind dies aber Unterscheidungsmittel der Qualität; und nachdem diese verhandelt, gehn wir weiter:

»den Gattungen gegenüber steht der Begriff der Große, als desjenigen Gleichartigen, in welchem keine Artdifferenzen mehr stattfinden«;

d.h. von der Qualität gehn wir über zur Quantität, und diese ist stets »meßbar«.[41]

Vergleichen wir nun diese »scharfe Sonderung der allgemeinen Wirkungsschemata« und ihren »wirklich kritischen Standpunkt« mit den Kruditäten, Wüstheiten und Fieberphantasien eines Hegel. Wir finden, daß Hegels Logik anfängt, vom Sein – wie Herr Dühring; daß das Sein sich herausstellt als das Nichts, wie bei Herrn Dühring; daß aus diesem Sein-Nichts übergegangen wird zum Werden, dessen Resultat das Dasein ist, d.h. eine höhere, erfülltere Form des Seins – ganz wie bei Herrn Dühring. Das Dasein führt zur Qualität, die Qualität zur Quantität – ganz wie bei Herrn Dühring. Und damit kein wesentliches Stück fehle, erzählt uns Herr Dühring bei einer andern Gelegenheit:

»Aus dem Reich der Empfindungslosigkeit tritt man in das der Empfindung, trotz aller quantitativen Allmählichkeit, nur mit einem qualitativen Sprung ein, von dem wir... behaupten können, daß er sich unendlich von der bloßen Gradation einer und derselben Eigenschaft unterscheide.«

Dies ist ganz die Hegelsche Knotenlinie von Maßverhältnissen, wo bloß quantitative Steigerung oder Abnahme an gewissen bestimmten Knotenpunkten einen qualitativen Sprung verursacht, z.B. bei erwärmtem oder abgekühltem Wasser, wo der Siedepunkt und der Gefrierpunkt die Knoten sind, an denen der Sprung in einen neuen Aggregatzustand – unter Normaldruck – sich vollzieht, wo also Quantität in Qualität umschlägt.

Unsre Untersuchung hat ebenfalls versucht, bis an die Wurzeln zu reichen, und als die Wurzel der wurzelhaften Dühringschen Grundschemata findet sie – die »Fieberphantasien« eines Hegel, die Kategorien der Hegelschen »Logik«, erster Teil, Lehre vom Sein, in streng althegelscher »Abfolge« und mit kaum versuchter Verschleierung des Plagiats!

Und nicht zufrieden damit, seinem bestverleumdeten Vorgänger dessen ganze Schematik vom Sein zu entwenden, hat Herr Dühring, nachdem er selbst obiges Beispiel von sprungweisem Umschlagen der Quantität in die Qualität gegeben, die Gelassenheit, von Marx zu sagen:

»Wie komisch nimmt sich nicht z.B. die Berufung« (Marx') »auf die Hegelsche konfuse Nebelvorstellung aus, daß die Quantität in die Qualität umschlage

Konfuse Nebelvorstellung! Wer schlägt hier um, und wer nimmt sich hier komisch aus, Herr Dühring?

Alle diese schönen Sächelchen sind also nicht nur nicht vorschriftsmäßig »axiomatisch entschieden«, sondern einfach von außen, d.h. aus Hegels »Logik« hineingetragen. Und zwar so, daß in dem ganzen Kapitel auch nicht einmal der Schein eines innern Zusammenhangs figuriert, soweit er nicht auch aus Hegel entlehnt ist, und daß das Ganze schließlich in ein[42] inhaltloses Spintisieren über Raum und Zeit, Beharrung und Veränderung ausläuft.

Vom Sein kommt Hegel zum Wesen, zur Dialektik. Hier handelt er von den Reflexionsbestimmungen, deren innern Gegensätzen und Widersprüchen, wie z.B. positiv und negativ, kommt dann zur Kausalität oder dem Verhältnis von Ursache und Wirkung, und schließt mit der Notwendigkeit. Nicht anders Herr Dühring. Was Hegel Lehre vom Wesen nennt, übersetzt Herr Dühring in: logische Eigenschaften des Seins. Diese bestehn aber vor allem im »Antagonismus von Kräften«, in Gegensätzen. Den Widerspruch leugnet Herr Dühring dagegen radikal; wir werden später auf dies Thema zurückkommen. Dann geht er über auf die Kausalität und von dieser auf die Notwendigkeit. Wenn Herr Dühring also von sich sagt:

»Wir, die wir nicht aus dem Käfig philosophieren«,

so meint er wohl, er philosophiere im Käfig, nämlich dem Käfig des Hegelschen Kategorienschematismus.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 38-43.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Inferno

Inferno

Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.

146 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon