Fortschritte bis zur Völkerwanderung

[450] Mit Tacitus und Ptolemäus versiegen die schriftlichen Quellen über Zustände und Vorgänge im innern Deutschlands. Dafür tut sich uns eine Reihe anderer, viel anschaulicherer Quellen auf: die Funde von Altertümern, soweit sie sich auf den vorliegenden Zeitabschnitt zurückführen lassen.

Daß zu Plinius' und Tacitus' Zeit der Handel der Römer mit dem innern Deutschlands fast Null war, haben wir gesehn. Aber wir finden bei Plinius doch die Andeutung eines alten, noch zu seiner Zeit dann und wann benutzten Handelswegs von Carnuntum (gegenüber der Mündung der March in die Donau), die March und Oder entlang nach der Bernsteinküste. Dieser Weg sowie ein zweiter durch Böhmen, die Elbe entlang. Ist wahrscheinlich schon in sehr früher Zeit von den Etruskern benutzt worden, deren Anwesenheit in den nördlichen Alpentälern durch zahlreiche Funde, besonders den Hallstätter Fund, erwiesen ist. Der Einbruch der Gallier nach Oberitalien soll diesem Handel ein Ende gemacht haben (gegen – 400) (Boyd Dawkins). Bestätigt sich diese Ansicht, so müßte dieser etruskische Handelsverkehr, hauptsächlich Einfuhr von Bronzewaren, mit den Völkern stattgefunden haben, die vor den Deutschen das Land an Weichsel und Elbe besetzt hielten, also wohl mit Kelten, und die Einwanderung der Deutschen würde dann wohl ebensoviel mit seiner Unterbrechung zu tun haben wie der Rückstrom der Kelten nach Italien. Erst seit dieser Unterbrechung scheint der östlichere Handelsweg, von den griechischen Städten des Schwarzen Meers den Dnjestr wie den Dnjepr entlang, nach der Gegend an der Weichselmündung aufgekommen zu sein. Dafür sprechen die bei Bromberg, auf der Insel Ösel und andern Orten gefundnen alten griechischen Münzen; es sind darunter Stücke aus dem vierten, vielleicht aus dem fünften Jahrhundert vor unsrer Zeitrechnung, geprägt in Griechenland, Italien, Sizilien, Cyrene usw.

Die unterbrochenen Handelswege längs der Oder und Elbe mußten sich von selbst wiederherstellen, sobald die wandernden Völker zur Ruhe kamen. Zur Zeit des Ptolemäus scheinen nicht nur diese, sondern auch noch andre Verkehrswege durch Deutschland wieder in Aufnahme gekommen zu sein, und wo Ptolemäus' Zeugnis aufhört, da fahren die Funde fort zu sprechen.

C. F. Wiberg3 hat durch sorgfältige Zusammenstellung der Funde hier vieles klargestellt und den Nachweis geliefert, daß im 2. Jahrhundert unsrer Zeitrechnung die Handelswege sowohl durch Schlesien die Oder wie durch[450] Böhmen die Elbe hinab wieder benutzt wurden. In Böhmen erwähnt schon Tacitus

»Beuteaufkäufer und Händler« (lixae ac negotiatores) »aus unsern Provinzen, die Geldgier und Vaterlandsvergessenheit ins feindliche Gebiet und an das Heerlager des Maroboduus geführt hatte«.

Ebenso haben die Hermunduren, die, seit langem mit den Römern befreundet, nach Tacitus in den Dekumatländern und Rhätien bis nach Augsburg ungehindert verkehrten, wohl jedenfalls römische Waren und Münzen vom Obermain zur Saale und Werra weitervertrieben. Auch weiter abwärts am römischen Grenzwall, an der Lahn, zeigen sich Spuren eines Handelswegs ins Innere.

Der bedeutendste Weg scheint der durch Mähren und Schlesien geblieben zu sein. Die Wasserscheide zwischen March resp. BeČva und Oder, die einzige, die zu überschreiten ist, geht durch ein offnes Hügelland und liegt unter 325 Meter Meereshöhe; die Eisenbahn geht noch jetzt hierher. Von Niederschlesien an öffnet sich die norddeutsche Tiefebene und erlaubt Wegen, in allen Richtungen zur Weichsel und Elbe abzuzweigen. In Schlesien und Brandenburg müssen römische Kaufleute im 2. und 3. Jahrhundert ansässig gewesen sein. Wir finden dort nicht nur Glasurnen, Tränenfläschchen und Graburnen mit lateinischer Inschrift (Massel bei Trebnitz in Schlesien und anderwärts), sondern selbst vollständige römische Grabgewölbe mit Urnennischen (Columbarien) (Nacheln bei Glogau). Auch bei Wann in Mecklenburg fand man unzweifelhaft römische Gräber. Ebenso bezeugen Funde von Münzen, römischen Metallwaren, tönernen Lampen etc. den Gang des Handelsverkehrs auf dieser Straße. Überhaupt ist das ganze östliche Deutschland, obwohl nie von römischen Heeren betreten, wie übersät mit römischen Münzen und Fabrikaten; diese letzteren häufig beglaubigt durch dieselben Fabrikstempel, die auch auf den Funden in den Provinzen des Römerreichs vorkommen. In Schlesien gefundene Tonlampen haben denselben Fabrikstempel wie andre in Dalmatien, Wien etc. gefundene. So findet sich der Stempel: Ti. Robilius Sitalcis auf Bronzevasen, von denen eine in Mecklenburg, eine zweite in Böhmen gefunden; dies weist auf den Handelsweg entlang der Elbe.

Dann aber befuhren in den ersten Jahrhunderten nach Augustus auch römische Handelsschiffe die Nordsee. Dies beweist der Fund von Neuhaus an der Oste (Elbmündung), von 344 römischen Silbermünzen von Nero bis Marcus Aurelius und mit Resten eines dort wahrscheinlich gescheiterten Schiffs. Auch längs der Südküste der Ostsee fand ein Schiffsverkehr statt, der bis zu den dänischen Inseln, Schweden und Gotland reichte und mit[451] dem wir uns noch näher beschäftigen werden. Die von Ptolemäus und Marcianus (um das Jahr 400) angegebnen Entfernungen der verschiednen Küstenpunkte voneinander können nur auf den Berichten von Kaufleuten, welche jene Küsten befahren hatten, beruhen. Sie gehn von der mecklenburgischen Küste bis Danzig und von da bis Scandia. Dies beweisen endlich die zahlreichen sonstigen Funde römischer Herkunft in Holstein, Schleswig, Mecklenburg, Vorpommern, den dänischen Inseln und Südschweden, deren Fundorte in geringer Entfernung von der Küste am dichtesten zusammenliegen.

Inwieweit dieser römische Handelsverkehr eine Einfuhr von Waffen nach Deutschland einschloß, wird sich schwerlich entscheiden lassen. Die zahlreichen römischen, in Deutschland gefundenen Waffen können ebensogut Beutestücke sein, und die römischen Behörden an der Grenze boten selbstredend alles auf, den Deutschen die Waffenzufuhr abzuschneiden. Auf dem Seeweg mag indes manches, besonders zu den ferneren Völkern, z.B. auf der cimbrischen Halbinsel, gekommen sein.

Die übrigen römischen Waren, die auf diesen verschiednen Wegen nach Deutschland kamen, bestanden aus Hausrat, Schmucksachen und Toilettegegenständen usw. Der Hausrat weist auf: Schüsseln, Maße, Becher, Gefäße, Kochgeschirre, Siebe, Löffel, Scheren, Kellen etc. von Bronze, einzelne Gefäße von Gold oder Silber, Lampen von Ton, die sehr verbreitet sind; die Schmucksachen von Bronze, Silber oder Gold: Halsbänder, Diademe, Arm- und Fingerringe, Spangen in der Art unsrer Broschen; unter den Toilettegegenständen finden wir Kämme, Pinzetten, Ohrlöffel usw. – von Gegenständen zu schweigen, deren Gebrauch streitig ist. Die meisten dieser Fabrikate sind nach Worsaaes Zugeständnis unter dem Einfluß des im ersten Jahrhundert in Rom herrschenden Geschmacks entstanden.

Der Abstand ist groß von den Deutschen des Cäsar, und selbst noch des Tacitus, zu dem Volk, das sich dieser Geräte bediente, selbst zugegeben, daß dies nur von den Vornehmeren und Reicheren geschah. Die »einfachen Speisen«, womit die Deutschen nach Tacitus »ohne viel Zubereitung (sine apparatu), ohne Würze den Hunger austreiben«, haben einer Küche Platz gemacht, die sich schon eines ziemlich zusammengesetzten Apparats bediente und außer diesem Apparat auch wohl die entsprechenden Würzen von den Römern bezog. An die Stelle der Verachtung der Gold- und Silbersachen ist die Lust getreten, sich damit zu schmücken; an die Stelle der Gleichgültigkeit gegen römisches Geld seine Verbreitung über das ganze germanische Gebiet. Und nun gar die Toilettesachen – welche beginnende Umwälzung in den Sitten verrät nicht ihre bloße Gegenwart bei einem[452] Volk, das zwar, soviel wir wissen, die Seife erfand, aber sie nur zum Gelbfärben des Haares zu brauchen verstand!

Was die Deutschen den römischen Händlern für all dies bare Geld und diese Waren lieferten, darüber sind wir zunächst auf die Nachrichten der Alten angewiesen, und diese lassen uns, wie gesagt, fast ganz im Stich. Plinius erwähnt Gemüse, Gänsefedern, wollene Zeuge und Seife als Artikel, die das Reich aus Deutschland einführte. Aber dieser beginnende Handel an der Grenze kann keinen Maßstab abgeben für die spätere Zeit. Der Hauptartikel, von dem wir wissen, war der Bernstein, der aber nicht hinreicht, um einen so über das ganze Land sich verbreitenden Verkehr zu erklären. Vieh, das den Hauptreichtum der Deutschen ausmachte, wird auch wohl der wichtigste Ausfuhrgegenstand gewesen sein, die an der Grenze aufgestellten Legionen allein bürgen für starken Fleischbedarf. Tierfelle und Pelzwaren, die zu Jornandes' Zeit aus Skandinavien nach der Weichselmündung und von da in römisches Gebiet versandt wurden, haben gewiß auch schon in früherer Zeit aus den ostdeutschen Wäldern ihren Weg dorthin gefunden. Wilde Tiere für den Zirkus, meint Wiberg, seien von den römischen Seefahrern aus dem Norden hereingebracht. Aber außer Bären, Wölfen und etwa Auerochsen war dort nichts zu holen, und da waren Löwen und Leoparden und selbst Bären aus Afrika und Asien näher und leichter zu haben. – Sklaven? fragt Wiberg endlich, fast verschämt, und hier wird er wohl das Richtige getroffen haben. In der Tat waren Sklaven außer Vieh der einzige Artikel, von dem Deutschland hinreichend ausführen konnte, um damit seine Handelsbilanz gegen Rom zu saldieren. Italien allein verbrauchte in den Städten wie auf den Latifundien eine ungeheure, sich nur zum allergeringsten Teil fortpflanzende Sklavenbevölkerung. Die ganze römische Großgrundbesitzwirtschaft hatte zur Voraussetzung jene kolossale Zufuhr von verkauften Kriegsgefangnen, die in den unaufhörlichen Eroberungskriegen der verfallenden Republik und noch des Augustus nach Italien strömte. Das hatte jetzt ein Ende genommen. Das Reich war auf festen Grenzen in die Defensive getreten. Die überwundenen Feinde, aus denen die Masse der Sklaven sich rekrutierte, wurden bei den römischen Heeren immer seltner. Man mußte sie bei den Barbaren kaufen. Und da sollten die Deutschen nicht auch als Verkäufer auf dem Markt erschienen sein? Die Deutschen, die nach Tacitus schon Sklaven verkauften (»Germ[ania]« 24), die fortwährend untereinander im Krieg lagen, die, wie die Friesen, ihre Steuern an die Römer bei Geldmangel mit Übergabe ihrer Weiber und Kinder in Sklaverei bezahlten und die schon im dritten Jahrhundert, wenn nicht schon früher, die Ostsee befuhren und deren Seezüge[453] in der Nordsee von den Sachsenfahrten des dritten bis zu den Normannenfahrten des zehnten Jahrhunderts neben anderm Seeraub vorzugsweise Sklavenjagd zum nächsten Zweck hatten – Sklavenjagd fast ausschließlich für den Handel? – dieselben Deutschen, die wenige Jahrhunderte später, sowohl während der Völkerwanderung wie in ihren Kriegen gegen die Slawen, als die ersten Sklavenräuber und Sklavenhändler ihrer Zeit auftreten? Entweder müssen wir annehmen, daß die Deutschen des zweiten und dritten Jahrhunderts ganz andre Leute waren als alle übrigen Grenznachbarn der Römer und ganz anders als ihre eignen Nachkommen vom dritten, vierten und fünften Jahrhundert an, oder aber wir müssen zugeben, daß sie sich ebenfalls an dem damals für recht anständig und sogar ehrenvoll geltenden Sklavenhandel nach Italien stark beteiligt haben. Und damit fällt denn auch der geheimnisvolle Schleier, der sonst den deutschen Exporthandel jener Zeit verhüllt.

Hier müssen wir auf den Ostseeverkehr jener Zeit zurückkommen. Während die Küste des Kattegats fast gar keine römischen Funde aufzuweisen hat, ist die Südküste der Ostsee bis nach Livland hinein, Schleswig-Holstein, der Südrand und das Innere der dänischen Inseln, die südliche und südöstliche Küste Schwedens, Oeland und Gotland sehr reich daran. Bei weitem die meisten dieser Funde gehören der sogenannten Denarperiode an, auf die wir noch zu sprechen kommen und die bis auf die ersten Regierungsjahre des Septimius Severus, also rund bis 200 reicht. Schon Tacitus nennt die Suionen stark durch ihre Ruderflotten und sagt, daß sie den Reichtum in Ehren halten; sie trieben also wohl sicher schon Seehandel. Die in den Balten, dem Oeres- und Oelandssund sowie in der Küstenfahrt zuerst entwickelte Schiffahrt mußte sich schon auf die hohe See wagen, um Bornholm und Gotland in seinen Kreis zu ziehn; sie mußte schon eine bedeutende Sicherheit in der Handhabung der Fahrzeuge erlangt haben, um den lebhaften Verkehr auszubilden, als dessen Mittelpunkt grade die am weitesten vom Festland abgelegene Insel Gotland sich darstellt. Hier sind in der Tat bis 18734 über 3200 römische Silberdenare gefunden worden gegen etwa 100 auf Oeland, kaum 50 auf dem schwedischen Festland, 200 auf Bornholm, 600 auf Dänemark und Schleswig (wovon 428 in einem einzigen Fund, Slagelse auf Seeland). Die Untersuchung dieser Funde beweist, daß bis zum Jahr 161, wo Marc Aurel Kaiser wurde, nur wenige, von da aber bis zum Ende des Jahrhunderts massenhaft römische[454] Denare nach Gotland kamen. In der letzten Hälfte muß also die Ostseeschiffahrt schon eine bedeutende Entwicklung erreicht haben; daß sie schon früher bestand, beweist die Angabe des Ptolemäus, wonach [es] von den Weichselmündungen bis Scandia 1200 bis 1600 Stadien weit war (30 bis 40 geographische Meilen). Beide Entfernungen sind ungefähr richtig für die Ostspitze von Blekinge wie für die Südspitze von Oeland oder Gotland, je nachdem man von Rixhöft oder von Neufahrwasser resp. Pillau mißt. Sie können nur auf Schiffernachrichten beruhen, ganz wie die andern Entfernungsangaben längs der deutschen Küste bis zu den Weichselmündungen.

Daß diese Schiffahrt auf der Ostsee nicht von den Römern betrieben wurde, dafür spricht erstens die Nebelhaftigkeit aller ihrer Vorstellungen von Skandinavien und zweitens die Abwesenheit aller römischen Münzfunde am Kattegat und in Norwegen. Das cimbrische Vorgebirge (Skagen), das die Römer unter Augustus erreichten und von dem sie das endlose Meer sich ausbreiten sahen, scheint der Grenzpunkt ihres direkten Seeverkehrs geblichen zu sein. Danach haben also die Germanen selbst die Ostsee befahren und den Verkehr unterhalten, römisches Geld und römische Fabrikate nach Skandinavien verführt. Und dies kann auch gar nicht anders sein. Von der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts an treten die sächsischen Seezüge an der gallischen und britannischen Küste urplötzlich auf, und zwar mit einer Kühnheit und Sicherheit, die ihnen nicht über Nacht gekommen sein konnte, die vielmehr eine lange Vertrautheit mit der Fahrt auf hoher See voraussetzt. Und diese Vertrautheit können sich die Sachsen, unter denen wir hier auch alle Völker der cimbrischen Halbinsel verstehn müssen, also auch Friesen, Angeln, Jüten, nur erworben haben auf der Ostsee. Dies große Binnenmeer, ohne Ebbe und Flut, auf dem die atlantischen Südweststürme erst ankommen, nachdem sie sich auf der Nordsee großenteils ausgetobt haben, dies langgestreckte Bassin mit seinen vielen Inseln, Bodden und Sunden, wo man bei der Überfahrt von Ufer zu Ufer höchstens nur auf kurze Zeit kein Land sieht, war wie geschaffen dazu, einer sich neu entwickelnden Schiffahrt als Übungsgewässer zu dienen. Hier weisen schon die schwedischen, der Bronzezeit zugeschriebnen Felsenbilder mit ihren zahlreichen Darstellungen von Ruderbooten auf uralte Schiffahrt hin. Hier bietet uns der Nydamer Moorfund in Schleswig ein 70 Fuß langes, 8 bis 9 Fuß breites, aus Eichenbrettern gezimmertes Boot aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts, ganz geeignet zur Fahrt auf hoher See. Hier bildete sich in der Stille jene Technik des Schiffbaus und jene seemännische Erfahrung, die den Sachsen und Normannen ihre späteren Eroberungszüge[455] auf hoher See möglich machte und auf Grund welcher der germanische Stamm bis heute an der Spitze aller Seevölker der Welt steht.

Die bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts nach Deutschland gekommenen römischen Münzen waren vorwiegend Silberdenare (1 Denar = 1,06 Mark). Und zwar zogen die Deutschen, wie uns Tacitus mitteilt, die alten, langbekannten Münzen vor, mit gezahntem Rande und dem Doppelgespann im Gepräge. Wirklich sind unter den älteren Münzen auch viele dieser serrati bigatique gefunden worden. Diese alten Münzen hatten nur 5 bis 10 Prozent Kupferzusatz. Schon Trajan ließ dem Silber 20 Prozent Kupfer zusetzen; dies scheinen die Deutschen nicht gemerkt zu haben. Aber als Septimius Severus von 198 an den Zusatz auf 50 bis 60 Prozent erhöhte, wurde dies den Deutschen zu arg; die unterwertigen späteren Denare kommen in den Funden nur ganz ausnahmsweise vor, die Einfuhr des römischen Geldes hörte auf. Sie beginnt erst wieder, nachdem Konstantin im Jahre 312 den Goldsolidus (72 aufs römische Pfund Feingold von 327 g, also 1 Solidus = 4,55 g fein = 12,70 Mark) als Münzeinheit festgesetzt hatte, und nun sind es vorzugsweise Goldmünzen, Solidi, die nach Deutschland, noch mehr aber nach Oeland und besonders Gotland kommen. Diese zweite Periode der römischen Geldeinfuhr, die Solidusperiode, geht für weströmische Münzen bis zum Ende des Westreichs, für byzantinische bis Anastasios (starb 518). Die Funde fallen meist auf Schweden, die dänischen Inseln, einige auf die deutsche Ostseeküste; im Innern Deutschlands sind sie sehr sporadisch.

Die Münzfälschung des Septimius Severus und seiner Nachfolger genügt indes nicht, um das plötzliche Abbrechen des Handelsverkehrs zwischen Deutschen und Römern zu erklären. Es müssen andre Ursachen hinzugekommen sein. Die eine liegt offenbar in den politischen Verhältnissen. Seit Anfang des dritten Jahrhunderts beginnt der Angriffskrieg der Deutschen gegen die Römer, und gegen 250 ist er auf der ganzen Linie von der Donaumündung bis zum Rheindelta entbrannt. Dabei konnte natürlich kein geregelter Handel zwischen den Kriegführenden bestehn. Aber diese plötzlichen, allgemeinen, hartnäckigen Angriffskriege wollen selbst erklärt sein. In den inneren römischen Verhältnissen finden sie sich nicht; das Reich leistet im Gegenteil noch überall erfolgreichen Widerstand und produziert zwischen einzelnen Perioden wüster Anarchie immer noch kräftige Kaiser, grade um diese Zeit. Die Angriffe müssen also durch Veränderungen bedingt sein, die bei den Deutschen selbst vorgegangen. Und hier sind es wieder die Funde, die die Erklärung geben.

In den ersten sechziger Jahren unsres Jahrhunderts wurden in zwei[456] Schleswiger Torfmooren Funde von hervorragender Wichtigkeit gemacht, die, von Engelhardt in Kopenhagen sorgsam gehoben, nach verschiednen Irrfahrten jetzt im Kieler Museum niedergelegt sind. Was sie vor andern Funden ähnlicher Art auszeichnet, sind die dazugehörigen Münzen, die ihr Alter mit ziemlicher Sicherheit feststellen. Der eine, aus dem Taschberger (bei den Dänen Thorsbjerger) Moor bei Süderbrarup, enthält 37 Münzen von Nero bis Septimius Severus, der andre, aus dem Nydamer Moor, einer verschlammten und vertorften Seebucht, 34 Münzen von Tiberius bis Macrinus (218). Die Funde gehören also wohl unzweifelhaft in die Zeit von 220 bis 250. Sie enthalten aber nicht nur Gegenstände römischen Ursprungs, sondern auch zahlreiche andre, die im Lande selbst gefertigt sind und die, bei der fast vollständigen Erhaltung durch das eisenhaltige Torfwasser, uns den Zustand der norddeutschen Metallindustrie, Weberei, des Schiffbaus und vermittelst der Runenzeichen auch des Schriftgebrauchs in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts in überraschender Weise klarlegen.

Und hier überrascht uns noch mehr der Stand der Industrie selbst. Die feinen Gewebe, die zierlichen Sandalen und das sauber gearbeitete Riemenzeug zeigen eine weit höhere Kulturstufe an als die der taciteischen Deutschen; was aber besonders in Erstaunen setzt, sind die einheimischen Metallarbeiten.

Daß die Deutschen Kenntnis des Metallgebrauchs aus der asiatischen Heimat mitbrachten, beweist die Sprachvergleichung. Die Kenntnis der Metallgewinnung und -bearbeitung haben sie vielleicht ebenfalls gehabt, hatten sie aber kaum noch, als sie mit den Römern zusammenstießen. Wenigstens findet sich bei den Schriftstellern des ersten Jahrhunderts keine Andeutung davon, daß zwischen Rhein und Elbe Eisen oder Bronze gewonnen und verarbeitet worden sei; sie lassen eher aufs Gegenteil schließen. Von den Gothinen (in Oberschlesien?) sagt Tacitus allerdings, daß sie Eisen grüben, und den benachbarten Quaden schreibt Ptolemäus Eisenwerke zu; beiden kann die Kenntnis des Schmelzens von der Donau her wieder zugekommen sein. Auch die durch Münzen beglaubigten Funde des ersten Jahrhunderts weisen nirgends einheimische Metallprodukte auf, sondern nur römische; wie wären die Massen römischer Metallwaren nach Deutschland gekommen, wenn dort eine eigne Metallverarbeitung bestanden hätte? Allerdings finden sich in Deutschland alte Gußformen, unvollendete Gußstücke und Gußabfälle aus Bronze, aber stets ohne das Alter beglaubigende Münzen; aller Wahrscheinlichkeit nach Spuren aus vorgermanischer Zeit, Reste der Tätigkeit herumziehender etruskischer Bronzegießer.[457] Übrigens ist die Frage zwecklos, ob den einwandernden Deutschen die Metallbereitung gänzlich abhanden gekommen war; alle Tatsachen sprechen dafür, daß sie im ersten Jahrhundert faktisch keine oder so gut wie keine Metallverarbeitung betrieben.

Hier tauchen nun auf einmal die Taschberger Moorfunde auf und enthüllen uns eine unerwartete Höhe der einheimischen Metallindustrie. Schnallen, Metallplatten zu Beschlägen, mit Tier- und Menschenköpfen verziert, ein silberner Helm mit vollständiger Gesichtseinrahmung, nur Augen, Nase und Mund freilassend; Ringpanzer von Drahtgeflecht, die äußerst mühsame Arbeit voraussetzen, da der Draht erst gehämmert werden mußte (das Drahtziehen wurde erst 1306 erfunden), ein goldner Kopfring, andrer Gegenstände nicht: zu erwähnen, deren einheimischer Ursprung in Zweifel gezogen werden könnte. Mit diesen Fundstücken stimmen andre des Nydamer Moors sowie Moorfunde aus Fünen und endlich ein böhmischer Fund (Hořovice), ebenfalls im Anfang der sechziger Jahre aufgedeckt: prachtvolle Bronzescheiben mit Menschenköpfen, Spangenbuckel etc. ganz nach Art der Taschberger, also wohl ebenfalls derselben Zeit angehörig.

Vom dritten Jahrhundert an muß die Metallindustrie sich unter steigender Vervollkommnung über das ganze deutsche Gebiet ausgebreitet haben; bis zur Zeit der Völkerwanderung, sagen wir, bis Ende des fünften Jahrhunderts, erreichte sie einen verhältnismäßig sehr hohen Stand. Nicht nur Eisen und Bronze, auch Gold und Silber wurden regelmäßig verarbeitet, römische Münzen in den Gold-Bracteaten nachgemacht, die unedlen Metalle vergoldet; eingelegte Arbeit, Email, Filigranarbeit kommen vor; bei oft plumper Gestalt des ganzen Werkstücks zeigen sich höchst kunst- und geschmackvolle, nur zum Teil den Römern nachgebildete Verzierungen – letzteres gilt namentlich von den Schnallen und Spangen oder Gewandnadeln, bei denen gewisse charakteristische Formen allgemein vorkommen. Im Britischen Museum liegen Spangen aus Kertsch am Asowschen Meer neben ganz ähnlichen, die in England gefunden sind; sie könnten aus einer Fabrik sein. Der Stil dieser Arbeiten ist im Grundzug derselbe – bei oft scharfen lokalen Besonderheiten – von Schweden bis zur Unterdonau und vom Schwarzen Meer bis Frankreich und England. Diese erste Periode der deutschen Metallindustrie geht unter auf dem Festlande mit dem Schluß der Völkerwanderung und der allgemeinen Annahme des Christentums; in England und Skandinavien erhält sie sich etwas länger.

Wie allgemein verbreitet diese Industrie bei den Deutschen im 6. und 7. Jahrhundert war und wie sehr sie sich schon als besondrer Gewerbszweig[458] abgeschieden hatte, beweisen die Volksrechte. Schmiede, Schwertmacher, Gold- und Silberschmiede werden häufig erwähnt, im alamannischen Gesetz sogar solche, die öffentlich geprüft (publice probati) sind. Das bayrische Gesetz belegt den Diebstahl aus einer Kir che, aus dem herzoglichen Hof, aus einer Schmiede oder Mühle mit höherer Strafe, »weil diese vier Gebäude öffentliche Häuser sind und stets offen stehn«. Der Goldschmied hat im friesischen Gesetz ein um 1/4 höheres Wergeld als andre Leute seines Standes; das salische Gesetz schätzt den einfachen Leibeignen auf 12 Solidi, dagegen den, der Schmied (faber) ist, auf 35.

Vom Schiffbau haben wir schon gesprochen. Die Nydamer Boote sind Ruderboote, das größere, eichene, für vierzehn Paar Ruderer, das kleinere ist aus Föhrenholz. Ruder, Steuer, Schöpfkellen lagen noch darin. Erst nachdem die Deutschen auch die Nordsee zu befahren angefangen, scheinen sie von Römern und Kelten den Gebrauch der Segel angenommen zu haben.

Töpferei war ihnen schon zu Tacitus' Zeit bekannt, wohl nur Handtöpferei. Die Römer hatten an der Grenze, namentlich innerhalb des Grenzwalls in Schwaben und Bayern, große Töpfereien, worin, wie die eingebrannten Namen der Arbeiter beweisen, auch Deutsche beschäftigt wurden. Mit diesen muß die Kenntnis des Glasflusses und der Töpferscheibe sowie höhere technische Fertigkeit nach Deutschland gekommen sein. Auch die Glasbereitung war den über die Donau eingebrochenen Deutschen bekannt geworden; in Bayern und Schwaben sind Glasgefäße, farbige Glasperlen und Glaseinsätze bei Metallwaren, sämtlich deutschen Ursprungs, oft gefunden worden.

Endlich finden wir die Runenschrift nunmehr allgemein verbreitet und angewandt. Der Taschberger Fund hat eine Schwertscheide und einen Schildbuckel, die mit Runen bezeichnet sind. Dieselben Runen treffen wir auf einem in der Walachei gefundnen Goldring, auf Spangen aus Bayern und Burgund, endlich auf den ältesten Runensteinen Skandinaviens. Es ist das vollständigere Runenalphabet, aus dem später die angelsächsischen Runen sich fortgebildet haben; es enthält sieben Schriftzeichen mehr als die später in Skandinavien zur Herrschaft gekommne nordische Runenzeile und zeigt auch auf eine ältere Sprachform hin als die. In der das älteste Nordisch uns erhalten ist. Es war übrigens ein äußerst schwerfälliges Schriftsystem, aus römischen und griechischen Buchstaben so abgeändert, daß es sich bequem auf Stein oder Metall und namentlich auf Holzstäbe einritzen (writen) ließ. Die runden Formen hatten eckigen weichen müssen; nur senkrechte oder schräge Striche waren möglich, keine horizontalen,[459] alles der Holzfaser wegen; aber eben dadurch wurde es äußerst unbehülflich für Schrift auf Pergament oder Papier. Und in der Tat, soweit wir beurteilen können, hat es auch fast nur für Kultuszwecke und Zauberei und für Inschriften, wohl auch für andre kurze Mittellungen gedient; sobald das Bedürfnis einer wirklichen Bücherschrift entstand, wie bei Goten und später bei Angelsachsen, wurde es fortgeworfen und eine neue Anpassung des griechischen oder römischen Alphabets vorgenommen, bei der nur einzelne Runenzeichen bewahrt blieben.

Endlich müssen die Deutschen während des hier behandelten Zeitraums auch in Ackerbau und Viehzucht bedeutende Fortschritte gemacht haben. Die Beschränkung auf feste Wohnsitze zwang dazu; der enorme Zuwachs an Bevölkerung, der in der Völkerwanderung zum Überfluten kommt, wäre ohne sie unmöglich gewesen. Manches Stück Urwald muß gerodet worden sein, und wahrscheinlich gehören die meisten der »Hochäcker« – Waldstücke, die Spuren uralten Ackerbaus aufzeigen – hierher, soweit sie auf damals deutschem Gebiet liegen. Die speziellen Nachweise fehlen hier natürlich. Wenn aber schon Probus gegen Ende des 3. Jahrhunderts deutsche Pferde für seine Reiterei vorzog, und wenn das große weiße Rind, das in den sächsischen Gegenden Britanniens das kleine schwarze keltische verdrängt hat, durch die Angelsachsen dorthin gekommen ist, wie jetzt angenommen wird, so zeigt dies auch in der Viehzucht und damit im Ackerbau der Deutschen eine vollständige Revolution an.


Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist, daß die Deutschen von Cäsar bis Tacitus einen bedeutenden Fortschritt in der Zivilisation gemacht hatten, daß sie aber von Tacitus bis zum Beginn der Völkerwanderung – rund 400 – noch weit rascher fortschritten. Der Handel kam zu ihnen, brachte ihnen römische Industrieprodukte und damit wenigstens teilweise römische Bedürfnisse; er erweckte eine eigne Industrie, die sich zwar an römische Vorbilder anlehnte, aber dabei ganz selbständig sich entwickelte. Die schleswigschen Moorfunde stellen die erste der Zeit nach bestimmbare Etappe dieser Industrie dar; die Funde aus der Zeit der Völkerwanderung die zweite, eine höhere Entwicklung aufweisende. Eigentümlich ist dabei, daß die westlicheren Stämme gegen die des Innern und namentlich der Ostseeküsten entschieden zurückstehn. Die Franken und Alamannen und noch später die Sachsen liefern Metallwaren von geringerer Arbeit als die Angelsachsen, Skandinavier und die aus dem Innern ausgezognen Völker –[460] die Goten am Schwarzen Meer und der Unterdonau, die Burgunder in Frankreich. Der Einfluß der alten Handelswege von der Mitteldonau längs der Elbe und Oder ist hier nicht zu verkennen. Gleichzeitig bilden sich die Küstenbewohner zu geschickten Schiffsbauern und kühnen Seeleuten; überall nimmt die Volkszahl reißend zu; das von den Römern eingeengte Gebiet reicht nicht mehr; es entstehn zuerst im fernen Osten neue Züge landsuchender Stämme, bis endlich die wogende Masse an allen Ecken und Enden, zu Land wie zu See, unaufhaltsam auf neues Gebiet hinüberströmt.

3

»Bidrag till kännedomen om Grekers och Romares förbindelse med Norden«. Deutsch von J. Mestorf: »Der Einfluß der klass[ischen] Völker etc.«, Hamburg 1867.

4

Hans Hildebrand, »Das heidnische Zeitalter in Schweden«. Deutsch von Mestorf, Hamburg 1873.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 19, S. 450-461.
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