1. Der Name [189] sâmkhya.

Das Wort sâmkhya erscheint erst in der jüngeren Upaniṣad-Literatur (nach Jacobs Concordance überhaupt nur je einmal in der Śvetâśvatara, Cûlikâ, Garbha und Muktikâ Upaniṣad) und dann häufiger im Mahâbhârata. Daß auch die grammatische Bildung des Wortes uns in spätere Zeiten weist, hat Weber hervorgehoben1, aber dabei betont, daß man daraus nicht etwa auf die späte Existenz der Spekulationsweise, die dieser Name bezeichnet, schließen dürfe. Wenn Kapila und seine ältesten Nachfolger ihrem System überhaupt einen Namen gegeben haben, so ist dieser verloren gegangen und später durch den uns geläufigen ersetzt worden.

Sâmkhya ist von samkhyâ ›Zahl‹ abgeleitet und bedeutet zunächst ›aufzählend, Aufzählung‹, dann aber ›Untersuchung, Prüfung, Unterscheidung, genaues Abwägen, Erwägung‹. Die gewöhnliche Annahme ist nun, daß man von der zweiten Bedeutung ausgehend dem System Kapilas den Namen Sâmkhya gegeben habe2. Ich halte das nicht für richtig. Zwar[189] hat schon im Mahâbhârata das Wort sâmkhya die übertragene Bedeutung ›Unterscheidung usw.‹ angenommen – die im Petersburger Wörterbuch s.v. gesammelten Stellen genügen, um dies festzustellen –, doch wird durch andere Stellen klar, daß es sich dabei um eine Umdeutung des Wortes handelt, die erst durch den Charakter des Sâmkhya-Systems herbeigeführt worden ist. Weil das Sâmkhya-System methodische Erschließung der Prinzipien und vor allen Dingen scharfe Unterscheidung von Geist und Materie lehrte, ist im Laufe der Zeit dem Worte sâmkhya die Bedeutung ›methodische Erschließung, Unterscheidung‹ beigelegt worden. Ursprünglich aber bedeutete das Wort nichts anderes als ›aufzählend‹; die Lehre Kapilas wurde wegen der Aufzählung der 25 Prinzipien, auf welche die Anhänger des Systems seit jeher großes Gewicht legten, und »vielleicht auch wegen der absonderlichen Vorliebe dafür, abstrakte Begriffe in trockene Zahlenverhältnisse zu zerlegen«3, die ›Aufzählungs-Philosophie‹ genannt4. Es ist dies allerdings eine Bezeichnung, die dem wahren Wesen und Werte des Sâmkhya-Systems sehr wenig gerecht wird. Dadurch bin ich auf einen Gedanken gekommen, der mit meiner Beurteilung der ältesten Geschichte des Systems im Einklang steht. Wenn man bedenkt, was für eine Rolle die Spitznamen in der indischen Namengebung spielen und wie oft der spöttische, verächtliche Inhalt dieser Namen in späterer Zeit in Vergessenheit geraten ist, so scheint mir die Vermutung nahe genug zu liegen, daß die Brahmanen von Madhyadeśa die ihnen widerstrebende Sâmkhya-Philosophie mit dem Spottnamen der ›Aufzählungslehre‹[190] (sâmkhya neutr.) und deren Anhänger als die ›Zahlmenschen‹ (sâmkhya masc.) bezeichnet haben, und daß, als später die Sâmkhya-Lehre sich große Anerkennung errungen hatte, der Name bestehen blieb, den man sich gewöhnt hatte zu gebrauchen5. Unter dieser Voraussetzung erklärt sich auch die Umdeutung des Namens, von der eben gehandelt wurde, am natürlichsten.

Daß in der indischen Literatur einige Male Sâmkhya als nomen proprium oder Beiname eines alten Weisen6 sowie als einer der 1000 Namen Śivas vorkommt7, ist für unser System bedeutungslos. Sâmkhya als Name des Śiva erklärt sich wohl durch die Beziehungen des Gottes zum Yoga, dem Tochtersystem des Sâmkhya.

1

Indische Studien II. 184.

2

S. Colebrooke, Miscellaneous Essays2 I. 241; Ballantyne, Lecture on the Sânkhya Philosophy 52; Röer, Lecture 8, 9; Barthélemy St.-Hilaire, Premier Mémoire 123; Hall, Sânkhya Sâra Preface 3; John Davies, Sânkhya Kârikâ S. 9; Jacobi in seiner Rezension der »Sâmkhya Philosophie«1, Gött. gel. Anz. 1895, 209. Ferner hat Jacobi mir auf einer Postkarte vom 13. IV. 95 mitgeteilt: »Wegen der Bedeutung von sankhyâ = parîkṣâ verweise ich Sie noch auf Mahâbhârata IV. 10, 11. In diesem Adhyâya wird der Oberaufseher der Kuhherden gosankhya genannt; es ist damit mehr als Zähler der Kühe gemeint, etwa Inspektor.« Gewiß; aber zu einer Zeit, als das Wort samkhyâ schon seine Umdeutung erfahren hatte.

3

S. meine Übersetzung der Sâmkhya-tattva-kaumudî 522, 523.

4

S. Mahâbh. XII. 11393, 11409-10, 11673; Cûlikâ Upaniṣad 14; Weber, Indische Studien IX. 17 und Max Müller, Upanishads translated II. S. XXXV, XLI.

5

P. Oltramare, L'histoire des idées théosophiques dans l'Inde 223, hat denselben Gedanken entwickelt, ohne jedoch meine Urheberschaft zu erwähnen.

6

S. Weber, Ind. Stud. II. 292 und im Petersburger Wörterbuch s.v. 1, b.

7

S. Weber, Ind. Stud. I. 426 Anm.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 189-191.
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