5. Das innere Organ als Einheit.

[315] Wiewohl Buddhi, Ahamkâra und Manas sich in der geschilderten Weise spezifisch voneinander unterscheiden34[315] und in der Aufzählung der Prinzipien ausnahmslos als besondere, weil nacheinander entstandene, Wesenheiten gerechnet werden, finden wir sie in unseren Quellen doch überaus häufig als ein einheitliches inneres Organ (antaḥkaraṇa) zusammengefaßt. Ich glaube hierin einen Einfluß des Vedânta-Systems zu erkennen, für das es nur ein – gewöhnlich manas genanntes – Innenorgan gibt35. Am entschiedensten tritt der vedântistische Eklektiker Vijñânabhikṣu für die Einheitlichkeit des inneren Organs ein36; er meint, daß dieses nur aus Bequemlichkeit nach dem Unterschiede der Funktionen als ein dreifaches behandelt werde und daß, wenn diese drei Formen als in dem Verhältnis von Ursache und Produkt zueinander stehend bezeichnet werden, damit nur der Unterschied dreier Zustände gemeint sei, vergleichbar den drei Zuständen von Same. Sproß und Baum oder den auseinander entstehenden Absätzen des Rohres, das doch nichtsdestoweniger ein einheitliches Ganzes sei. Wenn das innere Organ nicht bloß seinen Funktionen nach, sondern in Wirklichkeit in verschiedene Teile zerfiele, so würde wegen der zahlreichen Funktionen, wie Irrtum, Zweifel, Schlaf, Zorn usw. noch eine viel größere Zahl innerer Organe anzunehmen sein. Hiermit aber hat Vijñânabhikṣu, wie auch sonst, eine charakteristische Lehre unseres Systems verwischt, das von Hause aus die drei inneren Organe als zwar zusammenhängend, aber doch verschiedengeartet ansieht.

Die drei Organe werden in unseren Texten als Einheit vorzugsweise dann behandelt, wenn ihre Verschiedenheit von der Seele, ihre Zugehörigkeit zu der materiellen Welt betont wird.

Dem Gesamt-Innenorgan (antaḥkaraṇa-sâmânya) gehören nach der Sâmkhya-Lehre diejenigen Qualitäten an, die in der Vaiśeṣika- und Nyâya-Philosophie der Seele zugeschrieben werden: Freude, Schmerz, Begierde, Abneigung usw.37. Die[316] Verwechslung von Seele und Innenorgan, die in unserem System als das am schwersten zu überwindende Hindernis für die Erreichung der erlösenden Erkenntnis gilt, – d.h. der landläufige Irrtum, der dem Innenorgan geistige Natur, der Seele Tätigkeit und Willen zuschreibt, – wird nach der Sâmkhya-Lehre durch die Nähe verursacht, in der das Innenorgan sich bei der Seele befindet. Weil die Seele ihr Licht auf das Innenorgan ausgießt, erscheint allen, denen der wahre Sachverhalt unbekannt ist, das Innenorgan als geistig und die Seele als handelnd, d.h. als wollend. Daß in Wirklichkeit aber kein innerlicher Zusammenhang zwischen beiden besteht und bestehen kann, wird in dem letzten Abschnitt dieses Buches erörtert werden.

Über den Sitz und Umfang des Innenorgans handeln unsere Quellen nicht; wir lesen nur, daß es von ›mittlerer Ausdehnung‹ (madhyama-parimâṇa) sei, womit gesagt sein soll, daß es weder unendlich klein noch unendlich groß ist38. Wenn wir die Funktionen überblicken, die den drei inneren Organen zugeschrieben werden, und uns dabei gegenwärtig halten, daß diese Organe für rein physisch erklärt werden, so ergibt sich – wie schon oben S. 298 angedeutet wurde –, daß das Gesamt-Innenorgan der Sâmkhya-Philosophie in dem animalischen Organismus genau die Stellung einnimmt, die von der modernen Wissenschaft dem Nervensystem angewiesen ist. Ich brauche, wenn ich diese Parallele ziehe, wohl kaum hinzuzufügen, daß keiner unter den Verfassern der Sâmkhya-Schriften eine Ahnung von der Physiologie des Nervensystems gehabt hat. Wenn es hierfür noch eines Beweises bedürfte, so würde er darin zu finden sein, daß nach der Sâmkhya-Lehre die Atmung als eine Tätigkeit oder Wesensäußerung des Gesamt-Innenorgans zu betrachten ist39.[317]

Der Atem (prâṇa) gilt in Indien als das Lebensprinzip; und zwar herrscht allgemein, schon in der Vâjasaneyi Samhitâ, im Śatapatha Brâhmaṇa und in den älteren Upaniṣads, die Anschauung, daß er den ganzen Körper in fünf verschiedenen Formen durchdringe, die unter dem Gattungsnamen prâṇa zusammengefaßt werden. Diese fünf ›Lebenshauche‹ (wie man wohl am besten das Wort übersetzen wird) führen aber daneben noch besondere Namen. Der eigentliche Atem, der prâṇa κατ' ἐξοχήν, zieht nach Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 29 – es ist dies die Quelle, die in der Sâmkhya-Literatur die Wirkungsgebiete der Lebenshauche am ausführlichsten beschreibt – von der Nasenspitze durch das Herz und den Nabel bis zu den großen Zehen; der ›Einhauch‹ (apâna) wirkt in den Halswirbeln, im Rücken, in den Beinen, im After (von wo er entweicht), in den Genitalien und den Rippengegenden; der ›Mithauch‹ (samâna, in der indischen Medizin das Prinzip der Verdauung) im Herzen, im Nabel und in allen Gelenken; der ›Aufhauch‹ (udâna) im Herzen, Hals, Gaumen, Schädel und zwischen den Augenbrauen; der ›Durchhauch‹ (vyâna) in der Haut (als »das Prinzip, das die Zirkulation der Säfte vermittelt und Schweiß und Blut in Bewegung setzt«, Petersburger Wörterbuch)40. John Davies bemerkt über diese Theorie41, freilich unter der irrigen Annahme, daß sie das spezielle Eigentum der Sâmkhya-Philosophie sei: »These inventions are not more crude than that of the vital spirits, of which physicians and men of[318] science used to speak, even in the last Century. They denote that Kapila had a dim perception of the fact that there are vital forces at work in the human System more subtle than inanimate matter.«

Wenn der Atem nach indischer Anschauung den ganzen Organismus durchströmt, ihn ernährend und erhaltend, so lag es nahe genug, ihm auch den größten Einfluß auf die Bildung des Körpers zuzuschreiben; und so lehrt die Sâmkhya-Philosophie, daß der Atem zwar nicht unmittelbar, aber durch die Verbindung mit der Seele – oder technisch: unter der Leitung der mit ihm verbundenen Seele – das den Körper bildende Prinzip sei. Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, daß die ›Leitung‹ (adhiṣṭhâna, adhiṣṭhâtṛtva) der Seele nicht in einer aktiven Anteilnahme besteht, sondern daß mit diesem Worte lediglich der Gedanke zum Ausdruck gebracht werden soll, daß der Körper durch den Atem um der Seele willen, im Interesse der Seele gebildet wird42. Da die Seele demnach schon von dem Augenblick der Vereinigung des Sperma und des Ovulum mit dem Atem in Verbindung steht, so ist diese Verbindung die Ursache, die aus der für sich seienden (kevala) Seele die empirische Seele (jîva) macht. Wenn auch der Begriff der empirischen Seele in den Texten gewöhnlich dahin erklärt wird, daß die Seele durch das Innenorgan, die Sinne und den Körper charakterisiert (viśiṣṭa) sei, so scheint doch der Besitz des Atems als des deutlichsten Merkmals animalischen Lebens bei dieser Vorstellung die Hauptrolle gespielt zu haben43.

34

Kârikâ 29, Sûtra II. 30.

35

Deussen, System des Vedânta 357.

36

Zu Sûtra I. 64, II. 16.

37

Sûtra VI. 62. Eine Entlehnung aus dem Yoga-System, infolge deren zum Teil spezielle Eigentümlichkeiten der Buddhi als ein Besitz des Gesamt-Innenorgans behandelt werden, ist die Theorie von den fünf Affektionen des Innenorgans, die ›entweder qualvoll oder nicht qualvoll‹ sind (Erkenntnisprozeß, Irrtum, Einbildung, Schlaf und Erinnerung); Sûtra II. 38 = Yogasûtra I. 5.

38

Vijñ. zu I. 65, V. 69, 70.

39

Kârikâ 29, Sûtra II. 31. Wenn es in Sûtra V. 113 heißt, daß der Atem ›aus der Kraft der Sinne hervorgeht‹, so ist dies eine Erweiterung der oben angegebenen Theorie auf sämtliche dreizehn Organe, die sich übrigens schon bei Paramârtha und Gauḍapâda zu Kâr. 29 findet.

40

Vgl. noch Paramârtha und Gauḍapâda zu Kâr. 29, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 60; Regnaud, Matériaux II. 43-78; Deussen, System des Vedânta 353-56, 359-63. – Daß prâṇa, wie die indischen Erklärer wollen, wirklich ›Aushauch‹ und apâna ›Einhauch‹ bedeutet, ist von Caland, ZDMG. 55, 261 fg., und von Böhtlingk, ebendas. 518, endgiltig dargetan. Über das Allgemeine vgl. Arthur H. Ewing, The Hindu conception of the functions of breath, Part I, JAOS. XXII (Part 2, 1901); Part II, Allahabad 1903.

41

Bhagavadgîtâ translated, Introd. S. 15.

42

Sûtra V. 113-115.

43

Vijñ. zu VI. 63.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 315-319.
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