4. Das Manas oder der innere Sinn.

[314] Das dritte innere Organ ist aus dem Ahamkâra zusammen mit den äußeren Sinnen hervorgegangen und vermittelt die von diesen dargebotenen Objekte dem Ahamkâra und der Buddhi. Sein Name manas ist von den Kommentatoren oft mit ântaram indriyam ›innerer Sinn‹ erklärt und am besten so zu übersetzen. Das Wort bezeichnet, wie in allen philosophischen Systemen Indiens, so bereits in den ältesten Upaniṣads30 ein Organ; im Sâmkhya-System aber ist seine Bedeutung enger begrenzt als irgendwo anders. Wenn die Sâmkhya-Lehrer dem Manas nicht die Funktionen[314] des Wünschens und des zweifelnden Überlegens (samkalpa-vikalpau) zuschrieben31, so würde es lediglich ein an sich indifferentes Zentralorgan sein, das seinen jeweiligen Charakter den Funktionen der äußeren Sinne verdankt, denen es sich in dem Augenblick angleicht, wenn diese in Tätigkeit treten. Ohne diese Verbindung mit dem inneren Sinn können weder die Wahrnehmungssinne noch die Tatsinne funktionieren. Die Anpassungsfähigkeit des Manas wird dem wechselnden Benehmen eines Mannes verglichen, der sich beim Verkehr mit einer Geliebten verliebt, mit einer gleichgiltigen Person gleichgiltig und mit einer anderen noch anders zeigt32. Wenn auch die Lehre der Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie, daß das Manas ein Atom sei, von unserem den Begriff des Atoms nicht anerkennenden System bestritten wird, so lehrt dieses doch, daß das Manas eine geringe Ausdehnung besitze und nicht etwa den ganzen Körper erfülle. Dies wird damit begründet, daß verschiedene Empfindungen nicht gleichzeitig entstehen. Wenn zu derselben Zeit im Kopf eine andere Empfindung wahrgenommen wird, als im Fuß, so liegt nur eine scheinbare Gleichzeitigkeit, in der Tat aber ein unmerkliches Aufeinanderfolgen vor33.

30

Und schon dort gilt als eine seiner vorzüglichsten Funktionen das Wünschen (samkalpa); vgl. Regnaud, Matériaux II. 85-91, 93, 94.

31

S. unter anderem Sarva-darśana-samgraha (Ausgabe in der Bibl. Ind.) S. 148, 17, Anir. und Vijñ. zu Sûtra II. 30, Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 58. Wenn die Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 27 samkalpaka als ›bestimmend‹ faßt und meint, daß es die Funktion des inneren Sinnes sei, die von den äußeren Sinnen nicht in voller Deutlichkeit erfaßten Gegenstände nach ihren charakteristischen Eigentümlichkeiten zu unterscheiden, so ist dies sicher unrichtig; denn Vâcaspatimiśra schreibt damit dem Manas die Tätigkeit der Buddhi zu.

32

Kârikâ 27, Sûtra II. 26, 27.

33

Sûtra III. 14, V. 69-71 mit Aniruddhas Kommentar.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 314-315.
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