1. Vorbemerkung über die Bezeichnungen der Seele.

[355] Das Sâmkhya-System gebraucht zur Bezeichnung der Seele keine anderen Worte als die in der indischen Philosophie allgemein üblichen: âtman, pums und puruṣa, bevorzugt aber das letztgenannte1.

Das Wort âtman hatte ursprünglich den Sinn ›Hauch, Atem‹ und nahm von hier aus die Bedeutungen ›eigene Person, Selbst, Seele‹ an. Etymologisch ist es weder mit Grassmann und Curtius auf die Wurzel ›wehen‹, noch mit Böhtlingk-Roth, Fick, Wackernagel und Prellwitz2 auf an ›atmen‹ zurückzuführen, sondern mit Weber3 auf at ›wandern‹; die Grundbedeutung wäre also ›der Hin- und hergehende‹. Dieser Auffassung stimmt auch Geldner zu4. Doch schimmert in der philosophischen Literatur nicht mehr der etymologische Sinn durch, und ebensowenig die[355] aus dem Rigveda zu belegende älteste Bedeutung ›Hauch, Atem‹.

Pums und puruṣa heißen ursprünglich ›Mann, Mensch, Person‹, bezeichnen also im philosophischen Sinne dasjenige, was an dem Menschen das Wesentliche ist. Daß die einheimisch-indischen Ableitungen von puruṣa sämtlich wertlos sind, lehrt schon das Petersburger Wörterbuch. Die in unseren philosophischen Texten gegebenen Etymologien leiden zudem an dem Fehler, daß sie nicht von der Grundbedeutung ›Mann‹, sondern von der übertragenen Bedeutung ›Seele‹ ausgehen. Der ältesten und geläufigsten Erklärung durch puri śete ›der in der [Leibes-] Stadt befindlich ist‹ sind in der Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 35 zwei andere Etymologien von derselben Beschaffenheit zur Seite gestellt: die Ableitung von purâna ›alt‹ (was so viel als ›ewig‹ bedeuten soll) und von purohita ›vorangestellt, vorstehend‹5. Die richtige Etymologie von pums und puruṣa hat Leumann gefunden, indem er sowohl pums, pu-mâms wie pu-ruṣa für *pu-vṛṣa als aus zwei Elementen bestehend erkannt hat, von denen schon jedes für sich allein den Begriff ›Mann‹ ausdrückt6.

1

Vgl. Oldenberg, Die Lehre der Upanishaden usw. 224. – Die angeblichen Synonyma, welche die Sâmkhya-krama-dîpikâ noch in Nr. 37 anführt (pum-guṇa-jantu-jîva, kṣetra-jña, nara, kavi, brahman, akṣara, prâṇa, ya, ka, sa, eṣa) sind Attribute der Seele, teils reine Fiktionen.

2

Bezz. Beitr. 23, 75.

3

Jen. Lit.-Zeit. 1878, S. 82 b oben. Weber stellt âtman hier, wie auch andere getan haben, mit ἀτμός (cf. dhûma ϑυμός) zusammen und bemerkt, daß nach dem Ausweis des vedischen tman die Grundform ătman anzusetzen ist. Diese Form ătman liegt tatsächlich noch an den Stellen der älteren Literatur vor, wo das anlautende a von atman nach e und o abgeworfen wird. Vgl. den Schluß des Artikels âtman im PW.

4

Ved. Stud. III. 116.

5

Dieses Wort ist von Ballantyne in wunderbarer Weise mißdeutet worden: »because it is that towards which the ›highest affection‹ (puro-hita) is entertained [– seeing that each one loves self, if loving nought else –]«.

6

Zeitschr. f. vergl. Sprachf. 32, 10-12.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 355-356.
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