Vorwort zur ersten Auflage.

Für die nachfolgende Darstellung der Sâmkhya-Philosophie habe ich das gesamte uns erhaltene Quellenmaterial verwertet, soweit es für das Verständnis des Systems und seiner Geschichte von Bedeutung ist. Trotzdem haben die Grundsätze, nach denen ich arbeitete, den Umfang des Buches innerhalb mäßiger Grenzen gehalten.

Ich bin erstens der Meinung gewesen, daß dem Interesse der Sache am meisten mit einer schlichten, objektiven Darlegung der Sâmkhya-Lehren gedient sei, und habe deshalb weder eine Kritik an diesen Lehren geübt noch meine Darstellung durch Vergleiche mit ähnlichen Ideen in der europäischen Philosophie zu beleben gesucht. Die Gefahr ist kaum zu vermeiden, daß durch solche Ausblicke die Besonderheiten eines indischen Systems verwischt werden. »Indische Dinge«, sagt Max Müller in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft VI. 22, »haben soviel von Vergleichung zu leiden, daß es notwendig ist, ihre charakteristische Eigentümlichkeit soviel als möglich hervorzuheben. Wir lernen durchaus nicht die Individualität des indischen Volkes erkennen, wenn wir seine Sprache, sein Denken und Forschen nur immer als Analogon oder als Komplement der griechischen und römischen Welt betrachten.« Andererseits ist der Parallelismus der Grundlehren des Sâmkhya-Systems mit denen der europäischen Dualisten so deutlich, daß kein Leser der Hinweise auf die Übereinstimmungen bedarf.[5]

Zweitens habe ich nicht durch die vorliegende Arbeit meine im Laufe der letzten fünf Jahre veröffentlichten Übersetzungen der Sâmkhya-Texte überflüssig machen wollen. Wer die Fragen, zu deren Aufwerfung die Lehren der Sâmkhya-Philosophie in Indien geführt haben, bis in alle Einzelheiten verfolgen will, sei auf diese Übersetzungen verwiesen.

In der Hoffnung, für meine Arbeit auch Leser außerhalb des engen Kreises der Indologen zu finden1, habe ich nach Kräften das Beweismaterial und philologische Erörterungen in Anmerkungen unter den Text verwiesen. In den beiden ersten Kapiteln des einleitenden Abschnitts, die sich der Natur der Sache nach vorzugsweise an Sanskritisten wenden, waren freilich derartige Auseinandersetzungen auch im Text nicht zu vermeiden.

Im Ausdruck habe ich mich, soweit es mit der angestrebten Klarheit der Darstellung vereinbar war, an den Wortlaut der Quellen gehalten. Vollkommen unindisch dagegen ist meine Anordnung des Materials; in dieser Hinsicht konnte mir keines der Originalwerke als Vorbild dienen; denn Übersichtlichkeit in der Behandlung des Stoffes ist in Indien selten erreicht und von den meisten philosophischen Autoren nicht einmal erstrebt worden.

Möge dieses Buch dazu beitragen, die Gleichgiltigkeit der abendländischen Philosophie gegen ihre indische Schwester zu beseitigen. Diesem Wunsche habe ich nur noch den Ausdruck meines ehrerbietigen Dankes für die Unterstützungen hinzuzufügen, durch welche die Kgl. Preußische Regierung und die Akademie der Wissenschaften zu Berlin mir das Studium der indischen Philosophie unter der Leitung einheimischer Lehrer in Benares ermöglicht haben. Ohne diese Vergünstigung[6] hätte ich mir die Ausführung meiner Arbeiten über das Sâmkhya-System, die mit dem vorliegenden Werke ihren Abschluß erreichen, nicht zutrauen dürfen. Herrn Professor A. Hillebrandt in Breslau danke ich herzlich für seine freundliche Hilfe bei der Korrektur.


Königsberg i. Pr.

März 1894.

R. Garbe.

1

Für solche Leser sei bemerkt, daß in indischen Worten c und ch wie tsch, j wie dsch, ś und ṣ wie sch, s scharf wie unser ß, ṛ wie r mit leichter vokalischer Beimischung (als rĭ), e und o stets lang auszusprechen sind.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 5-7.
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